Andreas Krebs über die Potenziale einer Desorientierung des Hetero-Patriachats
Das Hetero-Patriarchat
Im Hetero-Patriarchat sind Geschlechtszuschreibungen mit Hierarchien und Eigentumsverhältnissen verbunden. Die Positionen von Vätern und Müttern, Söhnen und Töchtern, männlichen und weiblichen Verwandten sind mit gestuften Formen der Autorität, des Zugriffs auf Besitz und dessen Weitergabe über die Generationen verknüpft. Deshalb bedingen sich im Hetero-Patriarchat die Stabilität der Gesellschaftsordnung und die Stabilität der Geschlechterordnung wechselseitig. Es darf keinen Zweifel darüber geben, wer ein „Mann“ und wer eine „Frau“ ist, damit die Über- und Unterordnungsverhältnisse nicht erschüttert werden. Romantisches und geschlechtliches Begehren ist so zu regulieren, dass es den Fortbestand der heterosexuellen Familie und ihrer Beziehungsgefüge nicht gefährdet. Wer nicht ins heteronormative Muster passt, stellt eine potenzielle Bedrohung dar.
das frauen-, homo- und transfeindlichen Christentum der Kolonisator*innen
Im Umgang mit diesem „Bedrohungspotenzial“ sind allerdings nicht alle hetero-patriarchalen Gesellschaften in gleichem Maße restriktiv. Sie können durchaus, wie einige traditionelle islamische Gesellschaften, nicht-heterosexuellem Begehren und geschlechtlichen Ambiguitäten begrenzte Räume zugestehen – solange das Gefüge als Ganzes sicher bleibt.[1] In unseren Breiten hat sich demgegenüber seit dem 12. Jahrhundert, spätestens aber seit Beginn der Neuzeit eine besonders misogyne, homophobe und transphobe Variante des Hetero-Patriarchats durchgesetzt, die durch Kolonialismus und christliche Missionstätigkeit in alle Welt verbreitet wurde. Leider scheint kaum ein kolonialistisches „Exportprodukt“ so erfolgreich gewesen zu sein wie dieses. Viele islamische Gesellschaften haben ihre alten Traditionen begrenzter Ambiguitätstoleranz inzwischen vergessen, und zahlreiche Menschen in Afrika und anderswo identifizieren sich heute ausgerechnet mit dem radikal frauen-, homo- und transfeindlichen Christentum der Kolonisator*innen – um es nun gegen deren Nachkommen auszuspielen.
Über das Hetero-Patriarchat hinaus
Bei diesen nämlich hat das Hetero-Patriarchat inzwischen an Popularität und Prägekraft verloren. Keineswegs nur, aber deutlich gerade im „globalen Westen“ gewinnen vielfältige Formen, Geschlecht und Begehren auszudrücken, an Sichtbarkeit. Man muss kein Mann mehr sein, um Autoritäts- und Führungspositionen einzunehmen. Neben verschiedengeschlechtlichen werden auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften offen gelebt und akzeptiert. Einige entdecken, dass sie sich nicht nur von einem Geschlecht angezogen fühlen – oder auch, dass sie eher keine sexuellen Kontakte oder romantischen Bindungen wollen. Manche finden heraus, dass die Begriffe „Mann“ oder „Frau“ für sie nicht passen und bezeichnen sich als nonbinär. Menschen, deren Körper sowohl „männliche“ als auch „weibliche“ Merkmale zeigen (und die sich oft als „inter“ bezeichnen), wehren sich gegen den Druck, durch medizinische Eingriffe eine vermeintliche „Normalität“ herstellen zu lassen. Trans Personen wiederum nehmen medizinische Hilfe bewusst in Anspruch, weil der Körper, mit dem sie geboren wurden, ihrem Geschlecht nicht entspricht. Dass solche Möglichkeiten vermehrt ergriffen werden, hängt auch damit zusammen, dass sich die Verbindungen zwischen Hierarchien und Eigentumsverhältnissen einerseits und Geschlechterkategorien andererseits gelockert haben. So können Geschlecht und Begehren vielfältig und durchlässig werden.
Abendmahlstisch als Symbol für die Einheit der Christ*innen
Die christlichen Kirchen bringt dieser Prozess in eine komplizierte Gemengelage. Sie sind weiterhin stark durch das Gewicht ihrer hetero-patriarchalen Tradition bestimmt. Zudem bleiben sie über ökumenische Beziehungen, Kirchenbünde, Kirchengemeinschaften oder – im Fall der römisch-katholischen Kirche – über eine weltkirchliche Struktur jenen Formen des Christentums verbunden, in denen nun ein vehementer Hetero-Patriarchalismus hochgehalten wird. Zugleich können die Kirchen sich dem Wandel hiesiger Gesellschaften nicht entziehen. Die US-amerikanische Theologin Sara Rosenau findet für diese Situation eine Beschreibung, die auf den Abendmahlstisch als Symbol für die Einheit der Christ*innen zurückgreift. An diesen Abendmahlstisch treten nun auch Menschen, die sich der heteronormativen Matrix offen verweigern – und damit die scheinbare Harmonie der dort Versammelten sprengen. „Die performative Differenz queerer Christ*innen stört die vermeintliche Einheit am Abendmahlstisch. ‚Schräge‘ queere Personen bringen den Tisch ins ‚Wanken‘. Queere Körper am Abendmahlstisch wirken schon dadurch desorientierend, dass sie in ihrer Differenz anwesend sind.“[2]
Potenziale queerer Theologie
Wie sieht eine Theologie aus, die sich genau hier mit queeren Menschen solidarisiert – die mit ihnen an den Abendmahlstisch tritt, Desorientierung als Beginn einer Neuorientierung begrüßt, Differenz und Instabilität als Chancen der Transformation begreift? Solch eine „queere“ Theologie wird sich zunächst selbstkritisch mit der eigenen hetero-patriarchalen Tradition beschäftigen. Dies ist umso dringlicher, als sich nicht nur konservative Theolog*innen einer solchen Beschäftigung verweigern. Es gibt auch wohlmeinend-progressive Theologien, die vorschnell ein queer-freundliches Christentum postulieren, das durch Patriarchat und Heteronormativität „entstellt“ worden sei. Hier wird verdrängt, wie sehr das Christentum selbst in hetero-patriarchale Strukturen verwickelt ist, sie legitimiert und befördert hat – und vermutlich sogar ein entscheidender Faktor dafür war, dass sie in Europa eine vergleichsweise scharfe und intolerante Gestalt annahmen. Diese selbstkritische Perspektive kann auch dafür sorgen, dass die notwendige und entschiedene Kritik an hetero-patriarchalen Christentümern, unter anderem in Afrika, gerade nicht aus einer Position der Überheblichkeit erfolgt. Eine queer-solidarische Theologie ist zudem sensibel dafür, dass die Diskriminierung wegen Sexualität und geschlechtlicher Identität eng mit anderen Diskriminierungsformen zusammenhängt. Ein Rassismus etwa, der Personen of Color eine triebhafte Sexualität, oder ein Klassismus, der arbeitenden Menschen „sittenloses“ Verhalten zuschreibt, knüpft zugleich an sexistische und homophobe Stereotype an. Unterschiedliche Formen der Unterdrückung überlagern und verstärken sich wechselseitig. Wirklich überwunden werden sie deshalb nur gemeinsam.
Queere Theologie hat aber nicht nur eine kritische, sondern auch eine konstruktive Seite. Bei genauer Schriftlektüre und beim Aufsuchen marginaler historischer Quellen entdeckt sie „queere“ Stimmen, in denen Geschichten jenseits des Hetero-Patriarchats hörbar oder zumindest erahnbar werden. Sie findet Ermutigung und Inspiration, indem sie Verbindungen zwischen diesen Geschichten und heutigen queeren Erfahrungen herstellt – ohne freilich die einen mit den anderen gleichzusetzen. Denn queere Theologie will das Nicht-Identische gerade nicht identisch machen. Stattdessen macht sie sich zu Nutze, dass der Queer-Begriff keine Identität voraussetzt oder konstruiert – im Gegenteil: „Dies ist eins der Dinge, auf die sich ‚queer‘ beziehen kann: das offene Geflecht von Möglichkeiten, Lücken, Überschneidungen, Dissonanzen und Resonanzen, Lücken und Exzessen der Bedeutung, wenn die konstituierenden Elemente von irgendjemandes Geschlecht, von irgendjemandes Sexualität nicht dazu gebracht werden (oder nicht dazu gebracht werden können), eine monolithische Bedeutung zu haben.“[3]
Queere Theologie will das Nicht-Identische gerade nicht identisch machen.
In dieser Nicht-Identität und Unabgeschlossenheit des Queer-Begriffes kann man wiederum selbst eine theologische Pointe sehen. Ein verbreitetes Kürzel für queere Identitäten ist „LGBTIQ*“. Die Buchstaben stehen für „lesbisch“, „gay“ (schwul), „bisexuell“, „trans“, „inter“ und „queer“. Die Zeichenfolge, die auch erweitert werden kann, bringt Vielfalt deutlicher zum Ausdruck, als es der Sammelbegriff „queer“ für sich alleine kann. Das wichtigste Element der Zeichenfolge ist jedoch der Stern. Er bezeichnet Kategorien, die noch ungenannt oder überhaupt noch nicht gefunden sind. Zugleich verweist er auf jenen Überschuss, der sich keinen Kategorien jemals fügen wird – auf jenes Geheimnis, das wir für uns selbst und andere stets bleiben werden. Liegt hier womöglich der Kern dessen, was die Theologie als G*ttes-Ebenbildlichkeit bezeichnet? Das lebendige, zukunftsoffene Geheimnis der menschlichen Person hat demnach Teil an seinem Ursprung – dem lebendigen, zukunftsoffenen Geheimnis G*ttes.
Autor: Prof. Dr. Andreas Krebs ist Professor für Alt-Katholische und Ökumenische Theologie am Alt-Katholischen Seminar der Universität Bonn.
Zum Weiterlesen:
Andreas Krebs, Gott queer gedacht, Würzburg: Echter 2023.
Bild: „Ecce Homo“ von Elisabeth Ohlson Wallin, http://www.kalmarlansmuseum.se/besok-oss/utstallningar/tidigare-utstallningar/ecce-homo/
[1] Vgl. dazu etwa Thomas Bauer: Islam und „Homosexualität“, in: Ders., Bertold Höcker u.a.: Religion und Homosexualität. Aktuelle Positionen, Göttingen 2013, 71–89.
[2] Sara Rosenau: Queer church. Failure and becoming in the the body of Christ, in: Robert E. Shore-Goss, Joseph N. Goh (Hg.): Unlocking Orthodoxies for Inclusive Theologies, London 2021, 34–50: 42.
[3] Eve Kosofsky Sedgwick: Queer and now, in: Dies., Tendencies, London 1993, 1–20: 8.