Die Idee der absoluten Feindschaft trägt paranoide Züge – und dennoch war und ist sie weit verbreitet. Der Kampf gegen diese Verhärtung ist nicht rein individualpsychologisch zu führen. Von René Buchholz
Versöhnung und Toleranz, Verhandlungen und Verträge gehören zur Zivilisierung nationaler und internationaler Beziehungen, gerade da, wo sie sich konfliktreich gestalten. Wahrscheinlich müssten um territoriale Ansprüche und Ressourcen keine Kriege mehr geführt werden, sofern auf allen Seiten die Bereitschaft vorhanden ist, den Konflikt auf dem Verhandlungsweg zu lösen, so dass nicht bloß Waffenstillstand, sondern tatsächlich ein stabiler Friede herrscht auf der Basis eines international anerkannten Rechts.
„Wenn es Pflicht, wenn zugleich gegründete Hoffnung da ist“ heißt es am Schluss von Kants Schrift Zum ewigen Frieden, „den Zustand eines öffentlichen Rechts, obgleich nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung wirklich zu machen, so ist der ewige Friede, der auf die bisher fälschlich so genannten Friedensschlüsse (eigentlich Waffenstillstände) folgt, keine leere Idee, sondern eine Aufgabe, die, nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele … beständig näher kommt.“ (Kant 1912: 386)
Kants Hoffnung auf den Frieden
Solche Fortschritte in der Zivilisierung des Verhältnisses der Staaten zueinander könnte, so meinte Kant, in immer kürzeren Intervallen erfolgen. Es ist nicht der Appell an die Liebe, sondern der fortschreitende Gebrauch einer nicht bloß instrumentellen Vernunft im zwischenstaatlichen Verhältnis, der zum Frieden führt. Was aber, wenn nicht allein territoriale Ansprüche und der Zugang zu Ressourcen Gegenstand des Konflikts sind, sondern die bloße Existenz des anderen?
Eben dies meint die Idee einer „absoluten Feindschaft“. Der Verfassungsrechtler Carl Schmitt konzipierte die Unterscheidung von Freund und Feind bis hin zur „absoluten Feindschaft“ als Basiskategorie des Politischen und bot dem NS-Regime damit eine rechtsphilosophische Grundlage zur Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen:
„Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines ‚unbeteiligten‘ und daher ‚unparteiischen‘ Dritten entschieden werden können.“ (Schmitt 1991: 27)
Carl Schmitt und das Konzept der absoluten Feindschaft
Da es sich hier, wie Schmitt versichert, „nicht um Fiktionen und Normativitäten, sondern um die seinsmäßige Wirklichkeit“ handelt (ebd.: 28f), scheitert an einem derart essenziellen Konflikt die Kantische Hoffnung auf die Macht des in Vernunft gegründeten Rechts. Der Konflikt ist geradezu ein Fatum; er kann nicht anders beigelegt werden als durch die Vernichtung eines der beiden Kombattanten. Solche Konflikte erblickte Schmitt nicht nur im zwischenstaatlichen Verhältnis, sondern auch innerhalb der Gesellschaften.
Gerade Schmitts Verständnis einer „Demokratie“, die nicht rechtsstaatlich zivilisiert ist, sondern eine in Willen (und Ethnos) begründete Einheit von Regierung und Regierten meint (die einer Aushandlung von Interessen im öffentlichen und parlamentarischen Diskurs nicht bedarf), zielt auf Vereinheitlichung. Alles, was anders ist, wird zum Feind erklärt: „Zur Demokratie gehört … notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung und Vernichtung des Heterogenen.“ (Schmitt 1969: 14) Unschwer lässt sich hier eine Vorwegnahme des späteren nationalsozialistischen Volksstaats erkennen. Wer als fremd und heterogen definiert wird, muss mit Vernichtung rechnen.
Solche Konzepte des Politischen gehören keineswegs der Vergangenheit an. In der Erbschaft radikal antiliberaler und faschistischer Gesellschaftsmodelle finden sie sich derzeit in populistischen, rechtsextremen und religiös-fundamentalistischen Denkmustern wieder. Die von populistischen Parteien und Gruppen betriebene mentale Spaltung der Gesellschaft hat nichts zu tun mit einer Aufteilung in „Klassen“, sie kreiert vielmehr Feinde, die kausal mit den gesellschaftlichen Problemen nicht zusammenhängen, auf die aber der Unmut von Teilen der Bevölkerung gelenkt werden kann: Juden (in bewährter Tradition), Linke, Migranten.
Wie Feinde geschaffen werden
Je weniger Kabinette und Parlamente die bestehenden Probleme kausal zu lösen willens oder in der Lage sind, desto größer wird die Verachtung demokratischer Institutionen, und auch die Presse gerät in den Verdacht, vom absoluten Feind gelenkt zu werden. Die Erfahrung, bloßes Objekt ökonomischer und politischer Prozesse, d.h. Material fremder Interessen zu sein, schafft ein Potential nicht sublimierter Aggressivität. In einer fatalen Identifikation mit dem Angreifer (Anna Freud) aber werden nicht etwa Reflexions- und Widerstandsprozesse in Gang gesetzt, sondern man tritt die Flucht in einen Konformismus an, der sich als Non-Konformismus tarnt und opfert eigenes Urteilsvermögen der Gruppe/Partei/Bewegung, der anzugehören bereits adelt. Infolgedessen bestimmen fixe Schemata die Stellungsnahmen und handlungsrelevanten Urteile.
Die Idee der absoluten Feindschaft trägt paranoide Züge, die propagandistisch aufgegriffen und verstärkt werden. Deutlich sichtbar werden sie nicht nur in den rechtsextremen Denkmustern, sondern auch im aktuellen Islamismus, dessen Feind ein von Juden und Freimaurern unterwanderter Westen ist. Während in Europa rechtsextreme Bewegungen sich noch zurückhalten, alte antisemitische Stereotype offen zu verwenden, entlehnt etwa die Hamas-Charta die Beschreibung ihres Feindbildes den Protokollen der Weisen von Zion. Die Zionisten lauern überall, scheinen übermächtig und arbeiten auf die Weltherrschaft hin. Nur deren konsequente Bekämpfung vermag zu verhindern, dass sie eines Tages ihr Ziel erreichen und die Muslime beherrschen.
Die Ziele der Hamas
Antizionistische und unverhohlen antisemitische Motive werden mit einem postkolonialen Diskurs verwoben als ideologische Basis einer Befreiungsbewegung, die ganz Palästina eines Tages aus den Händen der Zionisten zurückerobern und einen islamischen Staat (wieder-) errichten wird. Die wahnhaften Züge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es diesem Netzwerk ernst ist mit der Umsetzung des Programms. Ein dauerhafter Friede in der Region ist folglich mit Hamas und Hisbollah ausgeschlossen.
Die ambivalente Rolle der Religion(en)
Religion spielt in diesem Kontext eine ambivalente Rolle: absolute Feindschaft lässt sich religiös codieren und legitimieren durch selektive Lektüre fundierender Texte, das gilt nicht nur für den Quran, sondern auch für die Bibel. Andererseits kann der Monotheismus, wie er sich biblisch in nachexilischer Zeit entwickelte, zu einer kritischen Instanz werden, insofern er jede Verabsolutierung kontingenter Phänomene negiert und eine antifatalistische Tendenz aufweist. Entscheidend ist nicht der Appell an die Liebe oder der Hinweis, alle Menschen seien Kinder des einen Schöpfers – solche Botschaften prallen am autoritären Charakter ab –, sondern die Rückführung zwischenmenschlicher Beziehungen, und zwar auch negativ konnotierte wie Gegnerschaft und Konkurrenz, auf kontingentes menschliches Verhalten, nicht auf eine göttliche Einrichtung.
Es gibt also zusammen mit einer (sozial-) philosophischen und psychologischen Kritik, auch eine theologische, die sich als Kritik aller Verabsolutierungen des Endlichen versteht und menschliche Interaktion zurückholt auf irdische Verhältnisse. Dieses kritische Potential des Monotheismus wäre auch theologisch herauszuarbeiten, wenn Theologie als Wissenschaft etwas beitragen will zur Erhellung der Wirklichkeit, in der wir leben.
Die theologische Kritik der Verabsolutierung des Endlichen
Allerdings: Ob philosophische, psychologische, soziologische oder theologische Argumente ihre Adressaten erreichen, hängt davon ab, ob der Wahn absoluter Feindschaft nicht schon Teil der Persönlichkeitsstruktur geworden ist. Nur im Vorfeld dieser völligen Verhärtung können Argumente noch etwas ausrichten. Der Kampf gegen diese Verhärtung ist nicht rein individualpsychologisch zu führen, als käme alles auf den Einzelnen an. Sein Ausgang hängt vielmehr ab von der Einrichtung einer Gesellschaft, die nicht bloß politisch, sondern auch ökonomisch den Naturzustand des bellum omnium contra omnes überwunden und ihr humanes Versprechen eingelöst hat.
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Dr. René Buchholz ist Mitarbeiter in der kirchlichen Erwachsenenbildung der Erzdiözese Köln und Apl. Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Literatur:
Adorno, Theodor W., 2019a: Die autoritäre Persönlichkeit, in: ders. Nachgelassene Schriften, Abt. V, Band I (Vorträge 1949-1968), hrsg. von Michael Schwarz, Berlin, 239-264.
– 2019b: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, in: ebd., 440-467.
Buchholz, René, 2017: Falsche Wiederkehr der Religion. Zur Konjunktur des Fundamentalismus, Würzburg.
Kant, Immanuel, 1912: Zum ewigen Frieden, in: Immanuel Kant`s Schriften, Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften Band VIII, Berlin, 341-386.
Schmitt, Carl, 41969: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin.
– 31991: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und 3 Corollarien, Berlin.