„Ungarische Wirrungen“, „Polnische Zufälle“, „Spanische Scherben“: Die Texte, die Hans Magnus Enzensberger unter dem Titel „Ach, Europa!“ veröffentlichte, stammen aus den 80er Jahren – ein Stoßseufzer, ein resignatives Urteil, eine Aufforderung? Die Kapitelüberschriften klingen jedenfalls heute so aktuell wie damals, meint Elisabeth Demleitner aus Erlangen.
Ach, Europa! – Wie treffend scheint dieser wenig optimistisch klingende Ausruf in Zeiten endloser Querelen angesichts von Flüchtlingskrise, Brexit-Chaos und Rechtsstaatsklagen. Wo sind die europäischen Werte abgeblieben, in welchem Zustand befinden sich liberté, egalité, fraternité, wenn in so manchem Mitgliedsstaat unabhängige Richter unter Druck gesetzt, an den Außengrenzen Stacheldraht bewehrte Zäune errichtet, vor den Küsten des Kontinents wochenlang Schiffe voller erschöpfter Menschen kreuzen und um Landeerlaubnis betteln müssen?
In welchem Zustand befinden sich liberté, egalité, fraternité?
Trotz alledem: Ich fühle mich, seit ich denken kann, als Europäerin. In Erlangen unter Siemensfamilien aufgewachsen und schon vor dem Kindergarten befreundet mit Nicole aus Frankreich und vor allem mit Sharon aus England, die – längst nach Großbritannien gezogen – bis heute eine meiner besten Freundinnen geblieben ist. Vier Jahre habe ich um die Jahrtausendwende in England gelebt, jungen BritInnen die deutsche Sprache und Kultur nahe gebracht, um so schließlich selbst mein Heimatland ganz neu zu entdecken.
Ich fühle mich, seit ich denken kann, als Europäerin.
Alle Studierenden in meinen Kursen verbrachten das dritte Jahr ihres vierjährigen Studiums in einem oder zwei europäischen Nachbarstaaten – eine für jede/n Einzelnen großartige und unglaublich bereichernde Erfahrung. Wer vorher noch nicht bekennende/r EuropäerIn war, wurde es spätestens im year abroad. In den Konversationskursen des letzten Studienjahres schwärmten die jungen Menschen dann mit leuchtenden Augen von ihren Erfahrungen als SprachassistentInnen in Berlin, Bordeaux oder Barcelona, und wir diskutierten leidenschaftlich über mögliche Probleme und Vorzüge der damals bevorstehenden Einführung des Euro und der Osterweiterung. Wie hoffnungsfroh und optimistisch die Stimmung unter den jungen BritInnen in England damals war!
Europäische Identität im Kontrast des Eigenen zum Fremden!
Begegnungen schaffen, Alltag teilen, Perspektiven wechseln – das scheint mir der zentrale Schlüssel zu sein, um eine gemeinsame europäische Identität zu schaffen, das Bewusstsein dafür, BürgerInnen eines geeinten und einigen Europas zu sein und zugleich die eigenen nationalen und regionalen Wurzeln klarer zu erkennen und wertzuschätzen.
Mit dem Abstand zur Heimat schärfen sich deren Konturen, im Kontrast des Eigenen zum Fremden werden so manche Grenzen und Probleme, aber auch die Vorzüge und Stärken der Kulturen klarer erkennbar. Tatsächlich haben mich erst meine aus Deutschland zurückgekehrten StudentInnen die Schönheiten deutscher Städte und Landschaften erkennen lassen – oder auch die Güte deutscher Weine, als wir nach einer Seminarsitzung ein paar Flaschen Moselwein unter den fachkundigen Kommentaren eines jungen Mannes verkosteten, der dort ein halbes Jahr auf einem Weingut mitgearbeitet hatte.
Und erst in den langen Gesprächen mit meinen britischen FreundInnen wurde mir klar, dass nicht nur in Deutschland die Geschichte lange Schatten auf die Gegenwart wirft: Auch heute noch prägen die in British red gefärbten Karten des einstigen Imperiums die Weltsicht vieler EngländerInnen, ist man auf der Insel – zurecht – stolz auf die Tatsache, als einziges europäisches Land den NationalsozialistInnen erfolgreich die Stirn geboten zu haben: Die Mentalitäten der Staaten Europas werden jenseits des Bekenntnisses zu den gemeinsamen Werten ganz wesentlich durch die eigenen geschichtlichen Erfahrungen mitbestimmt. Und gerade deshalb kann die EU bei all ihrer Unvollkommenheit als verbindende Klammer der so lange verfeindeten Nationen identitätsstiftend sein:
Die EU als identitätsstiftende Klammer!
Ein erster Schritt dafür wäre es, die Europäische Union nicht vorrangig als komplizierte Institutionenlehre zu unterrichten, sondern allen jungen BürgerInnen des Kontinents Begegnungen und Austausch auf Augenhöhe zu ermöglichen. Dafür könnte eine Studienfahrt nach Straßburg oder Brüssel selbstverständlicher Bestandteil der Schulzeit werden, so wie es bis 1989 die Berlinfahrt war. Auf so einer Fahrt sollten nicht nur die Herzkammern des vereinten Europas besucht werden, sondern auch die Tiefpunkte europäischer Vergangenheit – die Bunker der Maginot-Linie, die Soldatenfriedhöfe in Ostfrankreich und Belgien, das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof im Elsass. Im Europaparlament können die Jugendlichen dann mit Gleichaltrigen aus anderen Ländern und mit Abgeordneten der Europäischen Union über Gegenwart und Zukunft der EU diskutieren und konkrete Vorschläge in den politischen Prozess einspeisen.
Euroscola!
Ich habe derartige Fahrten mehrfach mit SchülerInnengruppen im Rahmen des EU-Programms Euroscola durchgeführt. Jede/r einzelne TeilnehmerIn ist nicht nur mit einer Vielzahl neuer Kontakte nach Hause gefahren, sondern auch mit einem tiefgehenden Verständnis dafür, was das Friedensprojekt des vereinten Europas konkret erreicht hat, zugleich aber auch dafür, warum es oft so schwierig und langwierig ist, gemeinsame Beschlüsse auf europäischer Ebene zu fassen und umzusetzen.
Ein weiterer wunderbarer Vorschlag, Europa auch in den Herzen zu verankern, ist es, jungen EuropäerInnen zum 18. Geburtstag ein Interrail-Ticket zu schenken, wie es die Kommission ja vorgeschlagen, aber aus Kostengründen leider nur rudimentär umgesetzt hat. Und nicht zuletzt sollte das Wahlalter für das Europäische Parlament auf 16 Jahre gesenkt werden, denn es ist nicht Europas Jugend, die sich von antieuropäischem Populismus verführen lässt, es aber ausbaden muss, wenn der alte Nationalismus die Überhand gewinnt.
Nicht Europas Jugend lässt sich von antieuropäischem Populismus verführen!
Das europäische Motto „In Vielfalt geeint“ sollte im Alltag mit Leben erfüllt werden, die mehr als 70 Friedensjahre seit dem Zweiten Weltkrieg müssen in ihrer Außergewöhnlichkeit wertgeschätzt und fortgeschrieben werden. Dafür sollten die im Lissabonner Vertrag beschriebenen Werte der Europäischen Union, „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“, nicht als vages Brüsseler Versprechen, sondern als Verpflichtung jedes/r Einzelnen verstanden werden. Das ist der Auftrag an die BürgerInnen der Europäischen Union, der aus dem Stoßseufzer „Ach, Europa“ ein zuversichtliches „Europa, was denn sonst!“ machen könnte.
Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte!
Text und Bild: Dr. Elisabeth Demleitner hat viele Jahre als Seminarlehrerin für Geschichte, Sozialkunde und Grundfragen der staatsbürgerlichen Bildung Lehrkräfte für das Lehramt an Gymnasien ausgebildet. Derzeit ist sie zur Stärkung des Praxisbezugs in der Lehrkräftebildung an die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg abgeordnet.
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- Enzensberger, Hans Magnus: Ach Europa! – Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006. Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1987
- http://cmpaix.eu/fr/category/centenaire/
- https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de