Das Schweigen der Intellektuellen angesichts der Krise Europas nimmt Walter Lesch zum Anlass einer Überprüfung der Europäischen Idee(n). Lösungen für zahlreiche offene europäische Existenzfragen werden dringend gesucht. Europa steht vor Richtungsentscheidungen. Noch ist es nicht zu spät, konstruktive Kräfte zu unterstützen.
„Was mich heute am meisten aufregt, die Zukunft Europas nämlich, finden andere abstrakt und langweilig. Warum sollten wir uns über ein so blasses Thema aufregen?“
Mit diesen Worten kommentierte Jürgen Habermas bei einer Rede an der Universität Wien schon vor zehn Jahren das Desinteresse am Nachdenken über Europa. Heute sind zwar die Sorgen um die politischen Entwicklungen in Europa weitergewachsen. Die Hilflosigkeit und das Schweigen der Intellektuellen – Ausnahmen bestätigen die Regeln – sind aber angesichts der offenkundigen Herausforderungen noch beklemmender geworden.
Die Zukunft Europas und das Schweigen der Intellektuellen
Papst Franziskus hat hingegen in seinen Reden vor Europaparlament und Europarat im November 2014 in Straßburg und bei der Entgegennahme des Karlspreises im Mai 2016 in Rom Klartext gesprochen und dargelegt, warum ihm die Erlahmung der politischen Phantasie Europas ein Problem ist. Europa steht weltweit in einer Verantwortung, die besser wahrgenommen werden kann, wenn die Bemühungen um Integration und Dialog Unterstützung finden.
Krisenerfahrungen
Das Europa-Projekt ist in der Krise, nicht erst 2016. Entsprechend lang ist die Liste der Klagen, die seinen mehr oder weniger desolaten Zustand begleiten. Vielleicht gibt es irgendwann einmal Anthologien mit Sammlungen dieser „Klagelieder“, die den Enttäuschungen ihrer Verfasser und Verfasserinnen Ausdruck geben. Andererseits waren auch immer die optimistischeren Stimmen zu hören, die selbst jetzt in der Krise zu bedenken geben, dass die Idee der europäischen Kooperation robust genug ist, um durch vorübergehende Schwierigkeiten nicht aus der Bahn geworfen zu werden. Wollen die einen zu viel, die anderen zu wenig? Ist die Forderung nach „mehr Europa“ das Problem oder ein Teil der Problemlösung?
Das Europa-Projekt ist in der Krise, nicht erst 2016.
In der Tat hängt die Einschätzung jeder Krise von der Höhe der Erwartungen ab, deren Scheitern lähmende Frustrationen auslöst oder zu noch größeren Anstrengungen anspornt. Wenn wir uns die Europäische Union ganz nüchtern als ein Zweckbündnis von Staaten vorstellen, dann ist es keine Katastrophe, wenn ein Partner aus der Kooperation ausschert und seine Zukunft anders organisiert. Beleidigte Reaktionen wären deplatziert, sofern das die Union verlassende Land mit demokratischer Beschlussfassung in einem transparenten Verfahren sich aus bisherigen Verbindlichkeiten verabschiedet. Der Ausgang des britischen Referendums vom 23. Juni 2016 versetzte Europa allerdings in eine Schockstarre, die auch nach zweimonatiger Sommerpause nicht ganz überwunden ist.
Europas Schockstarre nach dem britischen Referendum
Als überzeugter Europäer habe ich aus beruflichen Gründen zwölf Jahre außerhalb der Europäischen Union verbracht: in der Schweiz, die ein durch und durch europäisches Land ist, das die Möglichkeit demonstriert, maximale staatliche Eigenständigkeit mit dem Aushandeln zahlreicher Kooperationsverträge zu kombinieren. Der Unterschied besteht dann vor allem in der Kompliziertheit der Regelwerke, in denen die Statusunterschiede zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern festgehalten sind. Davon abgesehen pflegt die EU aber mit jedem Partner, der kein Mitglied ist, freundschaftliche Beziehungen, was hoffentlich auch im Umgang mit dem Vereinigten Königreich der Fall sein wird. Wenn die politischen Modelle der Schweiz, Norwegens und Großbritanniens erfolgreich sind, was ihnen zu wünschen ist, dann entzaubert ihr Erfolg in gewisser Weise die Unvermeidlichkeit der Mitgliedschaft in der EU, die ihrerseits auf eine Erfolgsgeschichte verweisen kann – 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet –, die jedoch nicht ohne Rückschläge war.
Herausforderungen
Im Rahmen eines kurzen Essays ist es nicht möglich, die Vielfalt der Sichtweisen auf Europa zu erproben. Deshalb sei hier nur kurz skizziert, auf welchen Ebenen europäische Realitäten zu gestalten sind, die nicht erst erfunden werden müssen, da sie bereits auf soliden Grundlagen basieren.
Wenn wir an Europa denken, fällt uns in erster Linie die Dimension des gemeinsamen Marktes ein, der in weiten Teilen mit dem Euro über eine europäische Währung verfügt. Seit spätestens 2008 haben die Auswirkungen der internationalen Finanzkrise mehrere Länder in der EU stark getroffen und vor allem unter dem Eindruck der griechischen Staatsverschuldung die Eurozone in Turbulenzen gebracht, die bis heute andauern. Es gibt keinen Konsens über den richtigen Weg aus der Krise. Die als deutsches Diktat empfundene Strategie des rigiden Sparens und der Haushaltkonsolidierung hinterlässt bei vielen Betroffenen einen bitteren Beigeschmack und hat nicht zu einer Europaeuphorie beigetragen.
Internationale Finanzkrise und fehlender Konsens über einen Ausweg
Auch wenn die EU offiziell nie mit dem Anspruch aufgetreten ist, die Souveränität der Nationalstaaten abzuschaffen, bewegt sie sich doch in einer Logik des Transfers von Zuständigkeiten auf eine höhere Ebene, deren politisches Profil in der Schwebe bleibt. Zwischen den Extremen eines lockeren Staatenbunds, der die nationalen Kompetenzen möglichst wenig antastet, und dem Modell eines Bundesstaats („Vereinigte Staaten von Europa“) bewegt sich das Alltagsgeschäft der Institutionen in Verfahren, die durchaus mit einem Anspruch auf Elemente von „Staatlichkeit“ und somit auf eine supranationale Autorität verbunden sind. Das Scheitern des 2004 vorgelegten Vertrags über eine Verfassung für Europa ist symptomatisch für die Angst vor zu weitreichenden Befugnissen für die EU, die sich mit dem Vertrag von Lissabon 2009 auf eine reformierte Zusammenführung der bislang geltenden Vertragswerke einigte. Von der anspruchsvollen Verfassungsidee ist immerhin die Grundrechtecharta als rechtsverbindliche Basis geblieben.
Das Scheitern des 2004 vorgelegten Vertrags über eine Verfassung für Europa ist symptomatisch für die Angst vor zuviel Europa. … Immerhin ist die Grundrechtecharta geblieben.
Die Faszination einer neuen politischen Struktur jenseits des klassischen Nationalstaats erklärt sich historisch aus den schlechten Erfahrungen mit Nationalismen und deren demokratiefeindlichen und militärischen Entgleisungen. Das Projekt einer europäischen Integration hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich durch den entschiedenen Bruch mit dem Zeitalter der Totalitarismen und kriegerischen Verwüstung legitimiert, um ein friedliches und solidarisches Europa aufzubauen. Ohne diese Voraussetzungen hätte es auch nicht die friedlichen Revolutionen von 1989 und die Transformationen in Mittel- und Osteuropa gegeben. Trotz aller Ernüchterung kann also mit Fug und Recht behauptet werden, dass die europäische Grundidee einer Überwindung gefährlicher nationaler Alleingänge sich als erfolgreich erwiesen hat. Europa lebt vom Dialog, vom Aushandeln von Kompromissen und vom Interessenausgleich. Die europäische Politik ist aber immer noch überrascht und unbeholfen, wenn sie in die Lage gerät, ein gemeinsames Konzept nach innen und außen kommunizieren zu müssen. Noch häufiger kommt es gar nicht zu solchen konzertierten Aktionen, weil das mühsame Ringen um eine gemeinsame Position vom Beharren auf nationalen Sonderwegen überlagert wird. Die Unfähigkeit zu einer koordinierten Flüchtlingspolitik ist ein trauriges Beispiel für diese Problematik.
Die europäische Politik ist immer noch überrascht und unbeholfen, wenn sie in die Lage gerät, ein gemeinsames Konzept kommunizieren zu müssen.
Europa ist als ökonomisches und als politisches Projekt mit dem Anspruch verbunden, die Lebensverhältnisse der Menschen innerhalb der Union in fairer Weise zu gestalten und sich für einen solidarischen Abbau bestehender Disparitäten zu bemühen. Auf die Dauer werden sich die Bürgerinnen und Bürger in allen Mitgliedsstaaten nur dann für die europäische Idee begeistern können, wenn sie vom Mehrwert der Union überzeugt sind. In vielen Ländern, besonders in strukturschwachen Regionen, begegnet man den Schildern mit der europäischen Fahne und dem Hinweis, dieses Gebäude oder Projekt sei mit Unterstützung der EU realisiert worden. Inwieweit dies bei den Bewohnern Gefühle der Verbundenheit mit Europa oder gar so etwas wie Dankbarkeit weckt, ist schwer zu sagen. Wichtig ist aber der Ausbau von Initiativen, die aktiv am Abbau eines offenkundigen Wohlstandsgefälles arbeiten, das ja auch einer der Gründe für eine Binnenmigration ist. So etwas wie einen europäischen Sozialstaat gibt es nicht. Und es ist nicht klar, ob eine übergeordnete Struktur im Bereich des Sozialen machbar ist. Aber es gibt bereits die vielen Menschen mit transnationalen Lebensläufen, die auf gerechte Regeln in den Bereichen von Gesundheitswesen, sozialer Sicherung und Rente angewiesen sind.
So etwas wie einen europäischen Sozialstaat gibt es nicht. Aber es gibt bereits die vielen Menschen mit transnationalen Lebensläufen.
Als kulturelles Projekt ist Europa durch eine Vielfalt gekennzeichnet, die sich schon allein sprachlich manifestiert. In praktischer Hinsicht gibt es gute Gründe dafür, den Gebrauch des Englischen als lingua franca zu fördern, ohne damit auf die Eigenständigkeit der Sprachräume zu verzichten. Gerade die kulturelle Diversität ist ein wichtiger Bestandteil einer Wertegemeinschaft, die sich im Respekt vor unterschiedlichen Traditionen konkretisiert, sofern ein Konsens über grundlegende menschenrechtliche Standards stabil genug ist. Es wäre ein grobes Missverständnis, den kulturellen Aspekt der Europaidee zur Spielwiese unverbindlicher Absichtserklärungen zu machen. Was kulturelle Vielfalt bedeutet, zeigt sich nicht zuletzt im Pluralismus der Weltanschauungen und Religionen, der für das europäische Selbstverständnis konstitutiv ist. Es ist geradezu grotesk, die christliche Identität Europas polemisch einzufordern, um andere Überzeugungen auszugrenzen.
Es ist grotesk, die christliche Identität Europas einzufordern, um andere Überzeugungen auszugrenzen.
Europa verliert seine „Seele“ immer dann, wenn es seine Bürgerinnen und Bürger zu Loyalitätsbekundungen für eine einzige Weltanschauung zwingen will.
Im Geist der Toleranz und des Pluralismus ist Europa offen für Menschen mit und ohne Religion und verliert seine „Seele“ immer dann, wenn es seine Bürgerinnen und Bürger zu Loyalitätsbekundungen für eine einzige Weltanschauung zwingen will. In Europa herrschen Religions- und Gewissensfreiheit, sodass die Union all denen eine Heimat bietet, die sich dem demokratischen Wettstreit der Ideen stellen und ohne autoritäre Sicherungen auskommen. Das wäre der beste Ausdruck eines authentischen „European Way of Life“.
Schocktherapie
Mit seinen ambitionierten Plänen in den Bereichen von Markt, Politik, sozialer Kohäsion und kultureller Vielfalt bleibt Europa ein fragiles Projekt, das auf Überzeugungsarbeit angewiesen ist. Wirtschaftlicher Erfolg, transparente Politik, sozialer Ausgleich und interkulturelle Kommunikation lassen sich nicht von oben verordnen, sondern sind nur in der gemeinsamen Anstrengung in den Strukturen eines work in progress zu bewerkstelligen, das mit Engagement und Phantasie weiterzuentwickeln ist.
Europa: work in progress
Nach dem Brexit besteht Grund zu der Sorge, dass weitere rechtspolitische Signale den Elan der europäischen Kooperation mindern könnten. Mit den Präsidentschaftswahlen in Frankreich und den Bundestagswahlen in Deutschland stehen 2017 Richtungsentscheidungen an, die nicht ohne Folgen für die Dynamik der EU sein werden. Es ist nicht zu spät, jene Kräfte zu unterstützen, die an einer produktiven Weiterentwicklung der europäischen Idee interessiert sind. Diese Idee ist kein Selbstzweck, sondern eine historische einmalige Chance, Freiheit, Gleichheit und Solidarität in übernationalen Zusammenhängen zu denken.
Es ist nicht zu spät, jene Kräfte zu unterstützen, die an einer produktiven Weiterentwicklung der europäischen Idee interessiert sind.
Manchmal sind es negative Utopien, die als Weckruf funktionieren und die Dringlichkeit eines entschiedeneren Denkens und Handelns unterstreichen. Ein schönes Beispiel dafür ist The Great European Disaster Movie, ein Film, den Annalisa Piras und Bill Emmott 2015 gemacht haben. Die fiktive Rahmenhandlung spielt in einer nicht sehr fernen Zukunft nach dem Zusammenbruch und der Auflösung der EU und baut in die Erzählung über den Zerfall in der Retrospektive uns vertrautes dokumentarisches Material ein, das unter dem Gesichtspunkt des bitteren Endes in einem noch dramatischeren Licht erscheint. Eine solche Schocktherapie wird die Probleme des Kontinents zwar nicht lösen, kann aber zu einer bewussteren Wahrnehmung aktueller Krisen und Gefährdungen beitragen.
Walter Lesch ist Professor für Moralphilosophie und Christliche Sozialethik an der Université catholique de Louvain in Louvain-la-Neuve (Belgien).
Bild: Wandersmann / pixelio.de