Martin Germer schildert seine Eindrücke von einem christlich-muslimischen Predigtdialog zum Workers’ Memorial Day in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche Berlin.
„Gebt demjenigen seinen Verdienst, nachdem er etwas für euch gemacht hat, bevor sein Schweiß trocknet, und teilt ihm sein Verdienst vorher mit.“ (Ibn Madsche, Nesai). Es gibt im Koran und in den Hadithe, den Sammlungen von Prophetenaussprüchen der Folgejahrhunderte, etliche Stellen, in denen elementare Arbeiterrechte als religiöse Verpflichtung der Arbeitgeber eingeschärft werden.
elementare Arbeiterrechte als religiöse Verpflichtung
Der Islam steht damit in einer Tradition sozialer Verantwortung, wie sie ein gutes Jahrtausend zuvor bereits im Judentum kodifiziert wurde: „Dem Tagelöhner, der bedürftig und arm ist, sollst du seinen Lohn nicht vorenthalten, er sei von deinen Brüdern oder den Fremdlingen, die in deinem Land und in deinen Städten sind, sondern du sollst ihm seinen Lohn am selben Tage geben, dass die Sonne nicht darüber untergehe … damit er nicht wider dich den HERRN anrufe und es dir zur Sünde werde.“ (Dtn. 24,14f.)
Gott – Adonaj – Allah – als Anrufungsinstanz für arbeitende Menschen, denen ihre Rechte vorenthalten werden, und das schon vor 2500 Jahren: das hat Eindruck gemacht beim Gottesdienst zum „Workers‘ Memorial Day“, am 28. April. Und ebenso, dass da ein Pfarrer und ein Imam gemeinsam, in einem Predigtdialog, über die religiösen Quellen sozialer Verantwortung nachgedacht haben, mit einschlägigen Textstellen zum Mitlesen und zum Mitnehmen auf dem Gottesdienstblatt.
Seit 1996 lädt der Internationale Gewerkschaftsbund immer an diesem Tag ein zum Gedenken an die Menschen, die durch Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten ums Leben gekommen sind. Weltweit sind das jährlich mehr als zwei Millionen, so wird geschätzt. Seit 2014 findet hierzu alljährlich ein zentraler Gottesdienst in der Berliner Gedächtniskirche statt, gemeinsam vorbereitet von Arbeitsschutz-Experten aus der Frankfurter Zentrale der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), Berliner Kolleg:innen und mir als evangelischem Pfarrer.
Durch Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten kommen jährlich mehr als zwei Millionen Menschen ums Leben.
Das einleitende Totengedenken gestalte ich, wenn möglich, zusammen mit einem katholischen Geistlichen. Dazu brennt vor dem Altar eine große Kerze, geziert mit Kreuz, Davidstern und Halbmond und mit dem Logo der Gewerkschaft. In die Orgelvorspiele zu Liedern wie „Gott gab uns Atem, damit wir leben“ eingeflochtene kleine Zitate lassen aufhorchen, Klassiker, wie sie drei Tage später bei Mai-Kundgebungen erklingen werden: „Völker, hört die Signale!“, „Mann der Arbeit, aufgewacht“, „Bella Ciao“. An den breit angelegten Fürbitten zu den Belangen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes beteiligen sich auch Aktive aus anderen Gewerkschaften, von Berufsgenossenschaften sowie die zuständige Berliner Senatorin. Dazu als Videoeinspielung ein Grußwort des Bundesministers für Arbeit und Soziales. Und nun in diesem Jahr anstelle der Predigt ein christlich-muslimischer Impuls – mit Blick auf die große Zahl von Arbeiterinnen und Arbeitern, die im Islam zuhause sind oder zumindest muslimischen Hintergrund haben.
Fürbitten mit Beteiligten aus Gewerkschaften, Berufsgenossenschaften und Politik
Dass die weltbekannte Gedächtniskirche sich so für die gewerkschaftlichen Anliegen öffnet, ja dass sie sich sogar mit eigens für diesen Tag gestalteten Transparenten schmücken lässt: das empfinden die Anwesenden als große Ehre. Viele von ihnen haben den ganzen Tag hindurch an Seminaren zu Fragen des Arbeitsschutzes teilgenommen, in diesem Jahr über psychische Belastungen am Arbeitsplatz. Kirchlich beheimatet sind eher wenige. Aber dass die Kirche ein guter Ort zum Gedenken ist, das spürt jede:r – und lässt sich dann auch in das weitere gottesdienstliche Geschehen hineinnehmen.
Die Initiative kam 2014 aus der IG BAU. Der dort für den Arbeitsschutz zuständige Gewerkschaftssekretär war selbst vor Jahrzehnten in der Evangelischen Jugend groß geworden. Als in seiner damaligen Gemeinde die Offene Jugendarbeit nicht mehr gewollt wurde, ist er aus der Kirche ausgetreten. Aber nun für das Gedenken der Verstorbenen und für die Fragen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes einen kirchlichen Ort zu finden, das lag ihm spürbar am Herzen, und dem zuständigen Vorstandsmitglied ebenfalls.
Zwei Versuche hatte es vorher schon in Hauptkirchen anderer deutscher Städte gegeben, einmal evangelisch, einmal katholisch. Beide Male sei das Anliegen allerdings eher routiniert in einen traditionellen liturgischen Ablauf eingefügt worden, erzählt der Initiator beim ersten Kontaktgespräch in Berlin – und ist froh, dass seine konkreten Themen bei mir Resonanz finden und wie daraus ein ganz eigenes Gottesdienstformat entsteht.
ein eigenes Gottesdienstformat statt routinierter Ablauf
Manche Momente bleiben besonders haften. Dass ich 2015 während meiner Predigt über das biblische „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ auf der Kanzel einen nachleuchtenden Bauhelm aufgesetzt habe, zur Unterstreichung der an die Frage Kains anknüpfenden Gedanken über die wechselseitige Verantwortung im Arbeitsschutz: daran erinnern sich die Beteiligten noch heute, die dabei entstandenen Fotos werden gern gezeigt.
Auch der Wunsch nach interreligiöser Gestaltung kam vor Jahren von den gewerkschaftlichen Partnern. So haben wir zunächst eine jüdische Kantorin eingeladen, im Gottesdienst das Kaddisch zu singen. Sie stellte dann den Kontakt zu einem muslimischen Sänger her, der seinerseits eine Koran-Rezitation und ein arabisch vorgetragenes Gebet beitrug – die deutschen Übersetzungen jeweils zum Mitlesen auf dem Gottesdienstblatt. 2021 haben wir uns dann sogar in einen Predigt-Trialog begeben und über das Agieren der jeweiligen Gemeinden in der Corona-Pandemie berichtet, an drei Stehtischen vor dem Altar, mit einer jüdischen Kantorin und dem stellvertretenden Vorsitzenden eines Moscheevereins.
Kaddisch, Koran und Predigt-Trialog
Dieser Moscheeverein hatte 2017, nach dem Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt, ein interreligiöses Friedensgebet neben der Gedächtniskirche organisiert. Dadurch war ich im Anschluss mit etlichen muslimischen Akteur:innen in Berlin in Kontakt gekommen. Dies erleichtert nun sehr die Verabredungen, wenn es um interreligiöse Gottesdienste zu anderen verbindenden Themen und Anlässen geht oder um andere gemeinsame Aktivitäten.
Imam Ender Çetin, zusammen mit seiner Frau Mitbegründer der Deutschen Islam Akademie, hat in unserem Predigtdialog nicht nur über Koranverse und Hadithe gesprochen, er konnte auch sehr anschaulich einiges über das heutige Leben von Muslimen in Berlin sagen. Er selbst war an diesem Tag vormittags mit einem Rabbiner zusammen in einer Schulklasse gewesen, im Rahmen des Programms „Meet to respect“, und musste gleich nach dem Gottesdienst aufbrechen zum abendlichen Iftar, dem Fastenbrechen im Ramadan.
Als ich in unserem Gespräch auf die prekäre Situation der Wanderarbeiter auf den Baustellen in Dubai und anderen arabischen Ländern zu sprechen kam und dies versehentlich in die Frage kleidete: „Wie ist das bei euch?“, da konnte Çetin, Sohn eines in den 1970er Jahren aus der Türkei eingewanderten Drehers, lächelnd erwidern: „Ich bin ein Berliner.“ Und auch das könnte haften bleiben bei denen, die im Gottesdienst dabei waren.
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Martin Germer, geb. 1956, ist seit 1986 Pfarrer und seit 2005 an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin tätig.