Heute, am 19. Juni 2024, jährt sich der Geburtstag von Agnes von Zahn-Harnack zum 140. Mal. Die Schriftstellerin, Pädagogin und Frauenrechtlerin trug maßgeblich zur Verbesserung der Bildungs- und Arbeitsbedingung von Frauen in Deutschland bei. Jasmin Mausolf und Laura Brauer kommentieren Leben und Bedeutung ihrer Person für Theologiestudierende der Gegenwart.
Leben und Engagement
Agnes Zahn-Harnack wurde 1884 als eine von drei Töchtern des protestantischen Theologen Adolf von Harnack und Amalie Thiersch in Gießen geboren. Aufgewachsen im intellektuellen Umfeld des Kulturprotestantismus, lernte sie früh die Bedeutung von Bildung und Glaube kennen. Nach Abschluss der Mädchenschule, legte sie 1903 das Lehrerinnenexamen für mittlere und höhere Mädchenschulen ab. Anschließend arbeitete sie einige Jahre in ihrem Beruf und unterrichtete u.a. auch im Schulfach Religion. Mit Unterstützung ihres Vaters immatrikulierte sich Zahn-Harnack als erste Frau überhaupt 1908 an der Humboldt-Universität zu Berlin und studierte Philosophie, Romanistik und Germanistik. Nach erfolgreichem Abschluss ihres Studiums in Berlin, promovierte sie 1912 mit einer Arbeit zu einem bis dahin unveröffentlichten Trauerspiel des Schriftstellers Clemens Brentano im Fach Literaturwissenschaft an der Universität Greifswald.
erste Studentin der Humboldt Universität zu Berlin
Wenn nicht ihr Ausbildungsweg bereits als politisches Statement gelten darf, so doch ihr institutionalisiertes Engagement, das sich mit Beitritt zum „Nationalen Frauendienst“ bis in die Zeit des ersten Weltkrieges zurückverfolgen lässt und in den Nachkriegsjahren der 1920er an Breite und Vielfältigkeit gewann. Auf den Beitritt zur linksliberalen DDP, folgte die Mitbegründung des „Deutschen Akademikerinnenbundes“ im Jahr 1926, während ihre Aktivitäten im „Berliner Frauenbund“ zunahmen. Parallel tat sie sich publizistisch im hochschulpolitischen wie kirchlichen Kontext hervor. Eines ihrer zentralen Anliegen: die Gleichberechtigung von Frau und Mann. Im Zeichen dieses Engagements entstand auch ihre Hauptschrift „Die Frauenbewegung. Geschichte, Probleme, Ziele“, die sie 1928 veröffentlichte.
Politikerin und Frauenrechtlerin
So wie ihre politisch moderate Haltung, die sich in einem eher gemäßigten Verhältnis zur noch jungen Demokratie ausdrückte, scheint auch ihr Einsatz für Frauenrechte in der stratifizierten Gesellschaft des Kaisertums situiert zu sein und spiegelt in Teilen das liberale Milieu des Berliner Grunewalds wider. Zu ihrem Freundes- und Bekanntenkreis gehörten neben der Familie Bonhoeffer auch viele andere bedeutende Gelehrtenfamilien, deren kritische Auseinandersetzungen mit den drängenden Fragen ihrer Zeit auch den Widerstand gegen das spätere NS-Regime einschloss.
Widerstandskämpferin
Während Personen wie Dietrich Bonhoeffer oder Ernst von Harnack, Zahn-Harnacks Bruder, für ihren öffentlich wirksamen Widerstand mit ihrem Leben bezahlten, fand Agnes von Zahn-Harnack andere Widerstandsformen: sie unterrichtete jüdische Kinder, denen der Schulbesuch verboten worden war und stand in engem Kontakt zum Kreis um Anna Gierke, zu dem auch Helmut Gollwitzer, Theodor Heuss, Martin Niemöller und Alice Salomon gehörten. 1933 erwirkte Zahn-Harnack die Auflösung des „Bundes deutscher Frauenvereine“, um der Vereinnahmung durch das nationalsozialistische Regime (Gleichschaltung) und dem Ausschluss jüdischer Frauen aus dem Bund zuvorzukommen.
Neugründungen in der Nachkriegszeit
Während des Nationalsozialismus erfuhr ihre Verbandsarbeit eine tiefe Zäsur; viele Formen ihres Engagements ließen sich erst nach 1945 wieder aufnehmen. So geht zum Beispiel die Neugründung des „Berliner Frauenbunds“ 1945 auf Agnes von Zahn-Harnack zurück. Nachdem sich auch der „Deutsche Akademikerinnenbund“ nach der nationalsozialistischen Machtergreifung aufgelöst hatte, wurde dieser wiederum auf Mitinitiative von ihr im Jahr 1949 – noch vor der Gründung der BRD – neugegründet. Ein Jahr vor ihrem Tod wurde Zahn-Harnack der Ehrendoktor der Philipps-Universität Marburg für ihre Verdienste für den „liberalen Protestantismus“ verliehen.
Agnes von Zahn-Harnacks Bedeutung für Theologiestudierende heute
Agnes Zahn-Harnack war eine von sechs Frauen* innerhalb des Projekts „Frauen*stimmen“[1] 2022/23 der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Das Projekt widmete sich der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung von Frauen* in Theologie und Religionsforschung in und um Berlin.[2].
Agnes Zahn-Harnack erwies sich bei der Erarbeitung des Projekts im Rahmen eines Seminars insbesondere für Lehramtsstudierende der Theologie als Vorbildfigur; nicht zuletzt, weil ihr Unterrichten jüdischer Kinder während des NS-Regimes als Form des Widerstands gewertet wurde. Ihr Einsatz unterstreicht auf eine sehr eindrückliche Weise die verantwortungsvolle Rolle von Lehrer*innen in der Gesellschaft und ihren Beitrag, diese nicht nur zu gestalten, sondern auch zu entwerfen: Theologie auf Lehramt zu studieren steht hinsichtlich der Bedeutung der zukünftigen Tätigkeit für den sozialen Zusammenhalt in einer Gesellschaft dem Diplomstudium für angehende Pastor*innen in keiner Weise nach. Eine Aussage, die sich nicht immer mit den Erfahrungen von Lehramtsstudierenden während ihres Studiums deckt. Am Beispiel des Wirkens von Zahn-Harnack wurde das jedoch greifbar und zum Katalysator: Im Gespräch über den Lebensweg Zahn-Harnacks und ihr Engagement teilten Studierende ihre Beweggründe für die Wahl ihres Studiengangs miteinander und entdeckten sich als gesellschaftliche Multiplikatoren der Gegenwart, die im Weitertragen ihres Wissens auf unterschiedlichen Wegen und mit verschiedenen Mitteln gemeinsame Ziele verfolgen, die mit Visionen von einer inklusiven Gesellschaft verbunden waren.
Vorbild für angehende Lehrer:innen
Ein Gespräch über die Bedingungen, die es Agnes von Zahn-Harnack ermöglichten zu studieren, leitete bei den Teilnehmenden nicht nur Reflexionen zur Konstitution von Abhängigkeiten sowie Bewegungs- und Handlungsräumen für Frauen(-rechtlerInnen) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein, sondern vermittelte auch ein Verständnis dafür, wie schwer das Erbe eines berühmten Namens wiegen kann. Zu ihrem Vater Adolf von Harnack hatte sie bis zu dessen Tod 1930 ein sehr enges Verhältnis. Nach seinem Ableben schrieb sie eine Biografie über ihn, die 1936 veröffentlicht wurde. Letztlich war es sein Einfluss, der ihr das Studium ermöglichte. Ob sich Zahn-Harnack ihres Privilegs bewusst war, musste in den Gesprächen der Studierenden unbeantwortet bleiben. Deutlich wurde aber, dass Niemand auf seine soziale Herkunft reduziert werden darf.
das schwere Erbe eines berühmten Namens
‚Klasse‘ hat bis heute einen großen Einfluss auf den Bildungsweg vieler Studierender, insbesondere den jener, die sich zu den Erstakademiker*innen zählen und weder vom finanziellen, symbolischen, noch epistemischen Kapital ihres Elternhauses profitieren können – Interdependenzen eingeschlossen: Wer „Agnes von Zahn-Harnack“ sagt, schließt nicht selten mit „Tochter des bedeutenden Theologen Adolf von Harnack“ an. Auch wenn sie nicht auf ihr berühmtes Elternhaus reduziert wird, steht sie in der heutigen Wahrnehmung im Schatten ihres Vaters – eine Tatsache, die ihr nicht gerecht wird. Denn es war Agnes von Zahn-Harnack, die ihre Chance ergriff, studierte, promovierte, ihre Bildung und ihr Wissen individuell nutzte, um sich für eine liberale und geschlechtergerechte Gesellschaft einzusetzen und Widerstand gegen das NS-Regime zu leisten.
Vorkämpferin für institutionelle Gleichberechtigung der Geschlechter
Dabei steht sie singulär in ihrer Bedeutung nicht nur für die Theologie und Religionspädagogik, sondern für die Forderungen nach ideeller wie auch institutioneller Gleichberechtigung der Geschlechter. Zeitgenössische theologische Ansätze, die sich der Geschlechtergerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit verschreiben, stehen auch in der Tradition ihrer Arbeit, die letztlich vom Einsatz für die unhintergehbare Würde des Menschen zeugt.
Zum 140. Geburtstag von Agnes von Zahn-Harnack ehren wir nicht nur ihr Engagement, sondern erkennen auch die fortwährende Bedeutung ihres Wirkens für eine integrative und (geschlechter-)gerechte Theologie an, die Christ*innen auch gegenwärtig in die Pflicht nimmt, sich ihrer Verantwortung in der Gesellschaft bewusst zu werden.
Jasmin Mausolf ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Interkulturelle Theologie und Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und dez. Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte.
Laura Brauer lebt und arbeitet in Berlin. Gegenwärtig studiert sie im Master Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität, ist am Lehrstuhl Religionswissenschaften sowie im Projekt „Applied Humanities“ tätig. Laura Brauer veröffentlicht regelmäßig in Studierendenzeitungen, theologischen Feuilletons, zuletzt bei SPIEGEL Geschichte. Seit Dezember 2023 ist sie stellvertretende Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte an der Theologischen Fakultät zu Berlin.
[1] https://www.theologie.hu-berlin.de/de/ueberdiefakultaet/frauenbeauftragte/frauen-stimmen-in-theologie-und-religionsforschung
[2] Einen Höhepunkt der Ausstellung zu den portraitierten Frauen*, gerahmt von Rauminstallationen und Ausstellungselementen der Studierenden, stellte die feierliche Vernissage im Juli 2023 dar. Vgl. https://www.hu-berlin.de/de/pr/nachrichten/juni-2023/nr-23629-1
Beitragsbild: Ausschnitt der Ausstellung „Frauen*stimmen in Theologie und Religionsforschung“; Foto gemacht von Jasmin Mausolf