Am 1. August 2023 feierte Albert Biesinger seinen 75. Geburtstag. Ottmar Fuchs war 16 Jahre lang sein Kollege in Tübingen, und ist noch viel länger im (wissenschaftlichen) Austausch mit ihm. Fuchs greift in seiner Würdigung auf die jüngste Publikation von Biesinger zurück, die er sehr persönlich bespricht.
„Warum kommen wir auf die Welt, wenn wir doch wieder sterben müssen?“, so heißt die neueste Publikation von Albert Biesinger. Mit diesem Titel spürt man schon, welche Fragen sich dieser Religionspädagoge stellen lässt, es sind die Fragen der Kinder selbst. Und zwar nicht in einem religionspädagogisch abgesicherten Antwortspiel, sondern um sich bis in das eigene Herz hinein davon betreffen zu lassen und von dieser Erfahrung her auch den wissenschaftlichen Diskurs zu entwickeln. Das Büchlein zeigt einmal mehr, was für ein Herzblut-Theologe Albert Biesinger ist.[1]
Albert Biesinger verdanken viele viel!
Albert Biesinger verdanken viele viel! Ich selbst hatte das Geschenk, 16 Jahre lang in Tübingen in unserer Fakultät auf dem gleichen ersten Stock mit Albert Biesinger in unmittelbarer Nähe unsere Büros zu haben. Es war immer wunderbar, einfach bei ihm anzuklopfen, und wenigstens kurz in eine Sitzung hineinzuplatzen und einen schönen Tag zu wünschen. Wenn es keine solche Sitzung gab, gab es oft genug die Gastfreundschaft eines Kaffees und von Plätzchen. Wir haben inhaltlich an etlichen Themen gearbeitet, Forschungsprojekte und -reisen unternommen, und uns gegenseitig in schwierigen Zeiten unterstützt. So habe ich das Bedürfnis, auch an dieser Stelle herzlich Dank zu sagen für die freundschaftliche Begegnungskultur und für die intensiven und gegenseitig bereichernden Kooperationen.
Nicht selten war es so, dass er mit ansteckendem Humor entlastende Einsichten parat hatte. Mich freut heute noch der schalkhafte Satz (oder so ähnlich): „Ich lobe mich lieber selbst, dann bin ich vom Lob der anderen unabhängig!“ Dabei ist Biesinger selbst einer, der nie mit Lob geizte, vor allem wenn es Menschen guttat, die vom Lob der anderen ziemlich abhängig waren.
„Wie kannst du, Gott, dich eigentlich fühlen, wenn du das Elend der Menschen anschaust, die du erschaffen hast?“
Aber zurück zu seinem jüngsten Buch, das vom Boromäusverein e. V. Bonn als das religiöse Buch des Monats August 2023 ausgezeichnet wurde. Ein Leben lang kämpft Biesinger für eine Gottesbeziehung, die den Menschen, vor allem den heranwachsenden, guttut; die ihr Leben reicher, tiefer und intensiver macht. Um einen solchen Gott, um einen Buchtitel von ihm aufzunehmen, darf man die Menschen und vor allem die Kinder und Jugendlichen nicht betrügen. Und auch ihm fällt es, wie wohl allen Gläubigen, unendlich schwer, mit diesem Gottesbild die Leiderfahrungen der Menschen und das Böse, das sie sich antun, in Verbindung, geschweige denn in Einklang zu bringen:
„Wie kannst du, Gott, dich eigentlich fühlen, wenn du das Elend der Menschen anschaust, die du erschaffen hast? … Würdest du uns Menschen wieder so erschaffen – mit so viel Freiheit, Freiheit zum Glück, zum gelingenden Leben, Freiheit aber auch zur Barbarei, zur Hölle auf Erden?“[2] Und: „dann pfeife ich auf eine solche Freiheit, wenn sie mir die Möglichkeiten gibt, andere Menschen herabzuwürdigen, andere Menschen zu quälen, andere Menschen zu töten.“[3] Und so klagt Biesinger: „Du müsstest eigentlich alles Unheil und jeden Tod verhindern.“[4]
Man müsste also auf einer ganz anderen Welt bestehen, in der alle Bedingungen der Möglichkeit, vom Blitz getroffen zu werden und auch von, von Menschen nicht verursachten Katastrophen verletzt und getötet zu werden, von vorneherein ausgeschlossen sind. Warum gibt es diese Welt nicht von vorne herein? Alles Leid ist „Gott in die Schuhe zu schieben“,[5] denn er hat die Bedingungen der Möglichkeit dazu geschaffen.
Wenn man genau hinschaut, sind es immer Erfahrungen der Liebe.
Aber dann, und das ist das Überzeugende und auch Faszinierende dieses Buches, sammelt Biesinger all jene Momente und Erfahrungen in seinem Leben, die in sich so wertvoll sind, dass sie eine eigene Tiefe, eine eigene „Unendlichkeit“ haben. Und das Schöne ist: damit lädt Biesinger die Leser und Leserinnen dazu ein, sich in ihrem eigenen Leben auf eine ähnliche Suche zu machen.
Wenn man genau hinschaut, sind es immer Erfahrungen der Liebe, und das ist die tiefste Botschaft des Buches: die Weigerung, dass solche Erfahrungen endgültig zugrunde gehen und nichts wert sein könnten. Der Enkel Jonas (13 Jahre) formuliert hier einfach und unübertroffen: „Man kommt auf die Welt, um selber geliebt zu werden und Liebe zu schenken.“[6]
Eine „spirituelle Reflexion“, in der sich Autor und Leser und Leserinnen auf gleichem Niveau begegnen.
Wenn man heute Biografisches oder gar Autobiografien liest, haucht einen manchmal viel Narzissmus und Egomanie entgegen. Das ist hier absolut nicht der Fall. Hier wird Persönliches erzählt, nicht als Selbstdarstellung, sondern um in eindrucksvollen Miniaturen ins Gespräch mit den Leserinnen und Lesern zu kommen, zu einer ähnlichen Suche im eigenen Leben sich anregen zu lassen und das als bedeutsam zu erfahren, was aus der Liebe kommt und mit ihr zu tun hat. Es ist, wie Biesinger schreibt, eine „spirituelle Reflexion“, in der sich Autor und Leser und Leserinnen auf gleichem Niveau begegnen.[7]
Immer wieder begegnen beeindruckende Sätze, wie: „Ein Gott, der sich beweisen ließe, wäre ja nur ein Produkt meiner menschlichen Argumentationskraft im engen Rahmen meiner Gehirnkapazitäten.“ Damit ist schon klar: hier geht es nicht darum, eine apologetische Beweislast abzutragen, sondern es werden Erfahrungen vermittelt, die in sich selbst eine „Unendlichkeit“ haben, vor allem mit einer Liebe, die immer wieder neu ansetzt, nie damit aufhört und implizit immer ihre ewige Gratuität aufleuchten lässt.
„Gott ist Gott und er wird mir auf seine Weise begegnen.“
Die Grundstruktur dafür lässt vor allem die Nahtoderfahrung zum Vorschein kommen: ein Gottesbeweis ist sie auch nach Biesinger nicht.[8] Aber von dieser Erfahrung kommt eine eigene Evidenz: „Gott wird mir mit diesem Sog des großen Glückes entgegenkommen. Das ist aufgrund meiner Erfahrung jetzt umso mehr meine Hoffnung.“[9] Und dann wieder die Vorsicht: „Aber die Begegnung mit Gott jenseits dieser Grenze … ist mir ja bis heute unzugänglich. Und von daher will ich diese Erfahrung theologisch nicht überstrapazieren. Gott ist Gott und er wird mir auf seine Weise begegnen.“ Alles endet also mit dieser Doxologie: Gott größer sein zu lassen als alles diesseitige Glück und Elend, als alle Vorstellungen und Gedanken. So ist es gut, in die Hoffnung Biesingers mit einzustimmen, wenn er den Ps 4 zitiert: „Da mir eng war, hast du mir‘s weitgemacht.“[10]
Vielleicht noch eine freundschaftliche Ergänzung: Ich würde Fegefeuer und Reinigung nicht im Widerspruch sehen. Es geht um eine Reinigung, die im Horizont der Liebe Gottes brennt, wie Biesinger am Ende dieses Abschnittes selbst schreibt: „und das kann sehr schmerzlich sein.“ [11] Dafür ist mir das Wort Purgatorium einfach zu schwach. „Schmerzlich“ assoziiere ich dann doch eher mit Brennen als mit Reinigen.
Das Einzige, womit ich etwas Schwierigkeiten habe, ist gar nicht ein Text von Biesinger, sondern das Zitat, das er „Zu guter Letzt“ von einem emeritierten Prior bringt: nämlich dieses hiesige Leben zwischen Glück und Elend in eine Bedingung einzuspannen, um in den Himmel zu kommen. Etwa nach dem Motto: per aspera ad astra.[12] Das wiederum wäre eine fragwürdige Pädagogik.
Es geht um die wichtige Humanisierung religiöser Vorstellungen.
Doxologisch ist dagegen der Satz Albert Biesingers: „Gott ist das tiefste Geheimnis hinter allem, auch wenn wir dies mit unseren Augen nicht sehen können.“[13] Auch wenn es dieses Geheimnis nicht gäbe, wäre ein solches Büchlein nicht umsonst. In jedem Fall ginge es dann auch um eine wichtige Humanisierung religiöser Vorstellungen. Es ist ja offensichtlich, dass in der Geschichte und in der Gegenwart der Religionen Gottesfantasien sich ausgesprochen inhuman auswirken, vor allem für die Nichtdazugehörigen. Es ist immer von besonderer Bedeutung, wenn es in den Religionen Menschen gibt, die die Humanisierung der Gottesvorstellungen betreiben und mit den Mitteln der jeweiligen Religionen vertiefen. Bei Biesinger kann man nachlesen, wie Gottesbeziehungen ausschauen dürften, wenn sie den Menschen eine Lebenshilfe zur Liebe und zur Solidarität wären. Dafür steht Biesinger auch in seinen jahrzehntelangen Bemühungen kommunikativer und wissenschaftlicher Art für eine interreligiöse Religionspädagogik, die sowohl die eigene Identität achtet wie auch ihre Offenheit und Partnerschaftlichkeit mit anderen Religionen.
Das gleiche Humanisierungsmotiv bewegt auch mich. Dieses Motiv hat uns beide immer wieder zusammengebracht, zwischen Religionspädagogik und Pastoraltheologie, einschließlich unserer kirchen- und universitätspolitischen Anliegen. Über die Freundschaft wie auch für die gegenseitige Solidarität in so manchen Ereignissen freue ich mich heute noch mit Dankbarkeit. So möchte ich in das magere lateinische Wort, das uns bei solchen Gelegenheiten verfügbar ist, doch alles hineinlegen, wofür ich viele Worte bräuchte: Alles Gute und Liebe, und Gottes Segen ad multos annos, zusammen mit der ganzen Familie und seiner Frau Beate: ihr begegnet zu sein ist für Albert Biesinger der wichtigste Grund, auf die Welt gekommen zu sein![14] Hier kann man spüren, wie sehr eine Familie durch einige Generationen hindurch Basis der eigenen Theologie (auch für eine intensive Familienkatechese!) und Spiritualität sein kann.
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Ottmar Fuchs ist em.Univ.-Prof. für Praktische Theologie (Bamberg und Tübingen) und wohnt in Lichtenfels.
Beitragsbild: Pressebild der Universität Tübingen
[1] Vgl. Albert Biesinger, Warum kommen wir auf die Welt, wenn wir doch wieder sterben müssen? Überraschende Antworten, die uns das Leben gibt, Ostfildern 2023.
[2] Ebd. 27.
[3] Ebd., 25.
[4] Ebd., 23
[5] Ebd., 22.
[6] Ebd., 100.
[7] Vgl. ebd., 15.
[8] Vgl. ebd., 37.
[9] Ebd., 45.
[10] Vgl. ebd., 47.
[11] Ebd., 76.
[12] Vgl. ebd., 108.
[13] Ebd., 104.
[14] Vgl. ebd., 29.