Annette Edenhofer macht sich gemeinsam mit einer Mitarbeiterin in der Kinder- und Jugendhospizarbeit über palliative Tattoos für Self Care – Self Care für Palliative Care Gedanken.
Meine Gesprächspartnerin ist seit zehn Jahren Mitarbeiterin einer Stiftung, die sich seit 1996 mit eigener Akademie in der Kinder- und Jugendhospizarbeit engagiert. Der Organisatorin der Palliative Care-Weiterbildung begegne ich einmal im Jahr im Slot ‚Spiritualität der Weltreligionen‘ für Ärzt*innen, Pflegefachkräfte und psychosoziale Fachkräfte, also für Menschen mit und ohne Gottesglauben. Anlass des hier dokumentierten Gesprächs: Vier tätowierte Stühle auf dem linken Arm der Mitarbeiterin. Der Grund dafür liegt tief.
Das Leben geht unter die Haut.
Vor 21 Jahre hat die gelernte Kinderkrankenschwester zum ersten Mal ein Hospiz betreten, das erste deutsche Kinderhospiz in Olpe, eröffnet im Jahr 1998. Heute ist sie eine erfahrene Expertin. Die Fragen aus unserem Vorgespräch hätten in ihr gearbeitet. Sie wolle einfach erzählen, wenngleich nicht ihren Namen preisgeben:
„Kirche sagt mir nichts und an einen Gott glaube ich nicht. Unser common ground ist die Liebe. Und mit der Aussage, dass die Liebe etwas Göttliches ist, kann ich gut mitgehen. – In sechs Jahren Therapie habe ich die Liebe als Ja zum Leben gelernt. Erst wenn ich zulassen kann, was in mir ist, kann ich entscheiden, wie ich mit meinen zuvor ungeliebten Anteilen umgehe. Die Kontrolle des Verdrängens kostet Kraft. Zulassen stiftet Vertrauen, gibt Selbstliebe und zugleich die Liebe zum Leben, auch in Stunden des Todes. Die Überraschung ist: Ich halte mich gut aus! Ja, ich lerne von meinen ‚ungebetenen Gästen‘. Dass die Gäste Platz nehmen können, dafür habe ich mir Stühle tätowieren lassen. Das erste Tattoo war ein Schulstuhl: Lernen! Ja, Self-Care lernen ist eine Kernkompentenz für Palliative Care-Berufe. Der Schlüssel ist die Geisteshaltung der Gastfreundlichkeit. Auch die Hospizbewohner*innen heißen ja Gäste! Self Care und Palliative Care verbindet die eine Schlüsselfrage: ‚Was passiert, wenn ich das Unbekannte einlade?‘“
Das Unbekannte einladen.
Auch Cecily Saunders (1919-2005) wagt das Unbekannte. Nach ihrer Hinwendung zum Christentum begründet die englische Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin in den 1960er Jahren die moderne Hospizbewegung, Palliative Care und die Palliativmedizin: Anstatt Verdrängen des Todes, gastfreundliche Aufmerksamkeit für alle Sterbenden! Sie sollen nicht mehr körperlichen Qualen überlassen sein. Sensitive Medikamentierung kann helfen. Umgekehrt ist die schmerzfreie Verlängerung des Körperlebens allein nicht wünschenswert, wenn das psychische, soziale und spirituelle Leben fast am Ende ist: „Wir können dem Leben nicht mehr Tage geben, aber den Tagen mehr Leben!“, ist Saunders‘ Formel für Lebensqualität am Lebensende. Die Ahnung des Todes kann den Wunsch nach integriertem Leben geradezu provozieren. Versöhnung mit sich und anderen ist sinnstiftend, nur nicht bequem. Es braucht Mut, sich von alten Bildern zu verabschieden und neue zuzulassen.1
Äußere Inspiration neuer Bilder bietet sich heute im digitalen Zeitalter bis zur Überreizung, gibt der Philosoph Byung Chul Han in seinem Buch „Die Müdigkeitsgesellschaft“ (2010) zu bedenken. Fast altmodisch analog boomt auch der Tattoomarkt: Aus „Farbe, Nadel, Haut“ werden Bilderdokus – Potenzikonen, spielerische Hoffnungsbilder – für je neue Lebenserfahrungen zwischen Trauma und Liebe. Aktuell wird kleiner gestochen mit dem dezidierten Thema „persönlicher Wandel“, sagt die Szene. Die Bibel in früher Zeit verbietet Tattoos (Lev 19,28). Sie stehen für Leibeigenschaft oder für die magische Illusion feihenden Gottesschutzes. Biblisch rettet allein Mitmenschlichkeit zusätzlich energetisiert durch Gottvertrauen.2 Später liberalisiert die Jesus-Bewegung den Kulturcodex: Alles ist erlaubt, was nützt! (vgl. 1 Kor 10,23), solange es dem Leben ohne Ausgeschlossene dient und sozialen Tod aus der Welt bringt. Tattoos sind heute deshalb mit Fug und Recht Forschungsgegenstand angewandter Theologie, um die Ausbildung von Fähigkeiten mit ihren spirituellen Motivationen besser zu verstehen.3
Im Sterbeprozess suchen Menschen nach tröstlichen Bildern.
Tattoos sind Transformationsmarker, lautet die Hypothese in Übereinstimmung mit dem Bericht meiner Gesprächspartnerin: Verletzungen sind leidvoll, wecken aber Mitgefühl, Gastfreudlichkeit und Sehnsucht nach mehr, wenn zuvor verbannte Erinnerungen und Gefühle plötzlich willkommen sein dürfen. Ohne Zensur ist Kultur möglich, ein stressfreierer, bisweilen beglückender Umgang – mit mir selbst und anderen Menschen. Gerade im Sterbeprozess suchen Menschen nach tröstlichen Bildern – begleitet durch Familie, Freund*innen und durch professionelle Palliative Care Teams mit medizinischer, psychologischer, spiritueller Expertise. Wenn Hospizgäste weniger zur Studiokundschaft zählen, sind nicht wenige Mitarbeiter*innen tätowiert. Die wiederholte Erfahrung von Kontrollverlusten, das Sterben junger Menschen rührt an eigene Wunden, an Tode im Leben. Da braucht es Copingstrategien. Aber wie geben Stiche unter die Haut Self Care?
„Meine Tattoos sind meine tägliche Erinnerung an die Hingabe“, lautet die Antwort meiner Gesprächspartnerin. Diese Deutung entpricht der jüdisch-christlichen Spiritualität des aufmerksamen Erinnerns von Unheil, um den Exodus ins gelobte Land zu schaffen.4 Ihre Erinnerungsstücke der Stühle sind Bildgebungsverfahren für das, was gerade dran ist. Die Tätowierer*innen hören zu und machen Vorschläge. Die Storyline ist Entspannung. Mittlerweile eröffnet ein Chaiselongue die Reihe am Unterarm, dann der Schulstuhl über dem Siebzigerjahre-Schwingstuhl, dem Schaukelstuhl. Die Top-Ikone ist die Hängematte an der Armbeuge unter der Schulter.
Wenn der Kontrolletti in die Hängematte darf.
Meine Gesprächspartnerin schultert das Leben mittlerweile anders. Ihre Forschungsfrage war: „Was passiert, wenn der Kontrolletti in mir in die Hängematte darf, wenn ich das erlaube?“ Er liege oft dort, sei aber da, wenn sie ihn brauche. Sie habe diesem wenig sympatischen Kontrolletti zu verdanken, dass sie heute dort sei, wo sie sein wolle. Weil der Kontrolletti nun Freigang habe, habe er sich gewandelt, zum Caregiver. Ja, meine Gesprächspartnerin hat noch immer Angst, wenn sich Unbekanntes ankündige. Aber: „Mit der Angst wächst auch der Mut“, ist ihre These, eine Liedzeile aus dem Rosenstolz-Song „Wir küssen Amok“ (2011). Auch die prophetischen Friedenstraditionen der Weltreligionen raten nicht, keine Angst zu haben, sondern angstbereit zu sein, um Begegnung zu wagen. Im Türöffnen hat meine Gesprächspartenrin nur gute Erfahrung gemacht. Wenn alle Anteile da sein dürften, sinke die Angst und setze neue Lebensenergie frei. Die Proportionen würden so erst realistisch.
Wir teilen die Metapher vom Scheinriesen Herrn Turtur in Michael Endes „Jim Knopf und die Wilde 13“. Der vermeintliche Riese hat aus der Ferne dieselbe Todesangst vor Lukas‘ und Jims Lokomotive wie sie umgekehrt vor ihm. Im Näherkommen bekommen alle menschliches Maß. Motive aus Kinder- und Jugendbuchklassikern bieten Orientierung auf den Fluren im Hospiz meiner Gesprächspartnerin, Orientierung an den Zimmertüren – und für den Durchgang, der noch kommt. Der Regenbogenfisch, die kleine Hexe oder Momo stehen für Verlust und neues Leben. Meine Gespächspartnerin betont: Die Welt weite sich, zeige sich freundlich, voller Optionen, wo zuvor Verlustängste und Druck dominant waren.
Kommt noch etwas nach dem Tod?
Self Care als Ja zum Leben sei die Kernkompetenz für Palliative Care. Genauso identifiziert die Emotionstheoretikerin Martha Nussbaum in „Politische Emotionen“ (2010) das Ja zum Leben mit der privaten und eben der politischen Emotion der Liebe, aus der Transformationsenergie für private Versöhnung und gerechter Weltfrieden resultieren. Für meine Gesprächspartnerin aber folgen aus diesem Ja organisch weitere Care Tugenden: Freiheit, Gelassenheit, Neugier, Hingabe, Demut und darin Trost; kurz Empathie mit allem, was da ist und noch kommen wird.
Was aber wird, wenn alles aus ist? Was bedeutet Demut, was Trost? „Kommt noch etwas nach dem Tod?“, frage ich. „Eher nein“, vermutet meine Gesprächpartnerin, „ich weiß es nicht.“ Auch die Theologie des Todes kann nicht mehr sagen. Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod ist eine sehr reale Erfahrung, aber kein Faktenwissen. Eines aber weiß meine Gesprächpartnerin sicher: „Der Tod ist magisch, ein Wunder wie die Geburt!“ In der Sterbebegleitung, im Dasein für andere spüre sie intensiv die Dankbarkeit dafür, dass sie lebe. Und sie fühle sich erfasst von Ehrfucht, die das Leben im Sterben gebiete. Es sei ein Ergriffensein von Demut, schwer zu definieren. Besser sei zu erzählen:
Die Ehrfurcht vor dem Leben bringt mich auf die Knie.
„In Corona hatte sich die Chance zur Vertretung auf Station geboten, seit langem mal wieder. Die Bindung zu diesem Mädchen war eher kurz und nicht sehr intensiv. Doch gab es ernste und auch lustige Momente. Die gibt es auch, bis zum Schluss, weil Leben Leben ist. Nach ihrem Versterben ergab sich ein Moment für mich allein im Aufbahrungsraum. Ich sitze neben dem toten Körper, absolut verbunden mit ihr und auch mit mir. Da zieht es mich auf die Knie. Nicht ich gehe, die Ehrfurcht vor dem Leben, so unbeschreiblich präsent, bringt mich auf die Knie. Das ist Demut für mich. Und ja, ein Kind ist immer viel zu jung. Aber es ist alles gut in diesem Moment der Ergebenheit ans Leben.“ Das Erzählen, die Erinnerung an diesen Abschied macht die Ehrfucht vor dem Leben wie leibhaftig gegenwärtig zwischen uns – im Garten des Hospizes.
Meine Gesprächspartnerin spricht von „ihrer feinen Teegesellschaft“. Fünf Uhr nachmittags, mit geschafftem Pensum, noch nicht zu müde, keine schlechte Zeit für aufregenden Besuch. Der Anlass? Das Leben feiern! Jeder Tag kann zum Festtag werden, auch angesichts von Trauer und Tod. Denn der Tod, um den sich Menschen sorgen, ist ergreifend. Das lehrt das Testimonial meiner Gesprächspartnerin, der ich für das geteilte Leben von Herzen danke!
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Annette Edenhofer, Dr., Professsur für Religionspädagogik, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB).
Bilder: privat
- Vgl. Holder-Franz, Martina, „… dass Du bis zuletzt leben kannst“ – Spiritualität und Spiritual Care bei Cicely Saunders, Zürich 2012. ↩
- Vgl. für den Trend kleiner Tattoos: https://www.herold.at/blog/tattoo-trends/; vgl. für Wandel: Bachmann, Claude: „Tattoos: mein Körper. Mein Tagebuch. Mein Glaube“, in: feinschwarz vom 18. Juni 2021; Campell, Paul-Henri, „Tattoo & religion. Die bunten Kathedralen des Selbst“, in: feinschwarz vom 16. Mai 2020. Zum bibischen Tätowierungsverbot: Koenen, Klaus, „Tätowierungen“, in: WiReLex, 2018. ↩
- Vgl. Feist, Udo, “Gestochen scharfes Credo”, zu Patrick Dzambos Forschungen, in: https://www.deutschlandfunk.de/popkultur-gestochen-scharfes-credo-100.html. ↩
- Vgl. Huebenthal, Sandra: “Gedächtnis/Erinnerung”, in: WiReLex 2020. ↩