Weihnachten steht vor der Tür. Das Fest der Liebe, der christlichen Familie, das Fest vollumfänglicher Harmonie. Was, wenn es mit dieser gerade nicht weit her ist? Wohin mit dem langjährigen Geschwisterstreit angesichts der Weihnachtsgans am Familientisch? Birgit Hoyer stellt das Buch „Geschwisterbande“ vor und empfiehlt „Stille“.
Wohin mit dem Streit?
Keine triviale Frage – nicht für die Streitenden, nicht für Theologie und Pastoral. Na, ist das nicht etwas hochgegriffen? Geschwisterzwist als theologisches Thema? Kinder streiten eben, Erwachsene, erwachsene Kinder auch. Pater Anselm Grün nimmt sich in seinem Buch „Geschwisterbande“ dieses Themas an – als Theologe, Bruder, publizistischer Hansdampf in allen Gassen. Als all diese geschätzt, belächelt, kritisiert.
„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute […] sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ (GS 1) Gerne erkläre ich mit diesem ersten Satz der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils das, was Theologie und Kirche ausmacht: Ganz nah mit allen Menschen verbunden zu sein, alle Sorgen und Nöte zu Themen der Theologie, zu Worten und Taten der Kirche werden zu lassen. In diesem Jahr hat zum ersten Mal jemand zurückgefragt: Und wie geht das? Wie denkt, schreibt, spricht eine Theologin, die Theologie aus diesem Satz heraus formuliert, die Theologie als Resonanzraum für alles Menschliche sieht.
Wie geht Gaudium et Spes?
Sie findet eine Antwort bei Anselm Grün, einem Autor und Gesprächspartner, der offensichtlich keine thematischen Tabus kennt, keine Lebensfrage, kein Phänomen, kein Mensch, der ihn nicht interessiert, Trauer, Brot, Leben, Engel, Atem, … Verschlungen – das eigene Leben mit allen Leben. So kann es gehen, so begrüßt Anselm Grün die Besucherinnen und Besucher seiner Webseite: „Mögen die Gedanken, die mich bewegen, auch Sie berühren, damit Sie durch meine Worte mit den eigenen Gedanken in Berührung kommen, die Sie schon in sich tragen und die Ihnen den Weg weisen, wie Ihr Leben gelingen wird. Für Ihren Weg wünsche ich Ihnen, dass Sie sich immer und überall von Gottes heilender und liebender Nähe umgeben wissen. Und ich wünsche Ihnen den Engel der Zuversicht als guten Begleiter, damit Sie voll Vertrauen die Schritte tun können, die jetzt in diesem Augenblick für Sie anstehen.“ Kirche werden, Theologin, Theologe sein im Sinne des pastoralen Grundsatzes in Gaudium et Spes, es könnte gelingen, indem man Bruder und Schwester ist, Grete- und Hansdampf in allen Gassen.
Grete- und Hansdampf sein in allen Gassen.
Und was sagt Anselm Grün den Geschwistern, den Eltern? Dass Moralisieren nichts hilft, keine Appelle, das ist doch nicht christlich, vertragt Euch doch wieder! Über Vergebung spricht er nüchtern als Befreiung von der Macht des anderen. „Wenn ich mich innerlich nicht versöhnen kann, wenn ich dem andern nicht vergeben kann, dann bin ich noch gebunden an ihn. Dann bestimmt er meine Stimmung.“ (S.124) 1 In einfacher, verständlicher Sprache begleitet Anselm Grün seine Leserinnen und Leser in ihre eigenen Leben, Konflikte und Sorgen, behutsam ermutigend, voll Vertrauen, die richtigen Schritte zu gehen und sich auf den „Weg der Wandlung“ zu machen. „Wer stehen bleibt, der ist immer unzufrieden. Und er erstarrt. […] Jeder muss diesen Reifungsweg allein gehen. Wir können uns auf diesem Weg nur unterstützen.“ (S.161)
Begleitung ins eigene Leben.
Und er erzählt von seiner eigenen Familie, seinen Geschwistern, Vater und Mutter. Aus dem Erleben, seinen eigenen Erfahrungen empfiehlt er Rituale: „In einem Jahr habe ich meine Geschwister eingeladen, jeder sollte erzählen, was er von der Mutter gelernt hat. Da entstand auf einmal eine ganz persönliche Atmosphäre. Der Mutter hat es gutgetan, zu hören, was ihre Kinder ihr verdanken.“ (S. 130) Oder alte Konflikte und Verletzungen werden aufgeschrieben und in der Erde begraben. „Auf dem Mist der Vergangenheit wächst so etwas Neues.“ (S. 162) Vielleicht auch eine neue Tischgemeinschaft um die Weihnachtsgans.
Stille Zeit.
Die stade, die stille Zeit hat begonnen. Nicht eine Zeit des Schweigens, der Wortlosigkeit im Streit, sondern der innehaltenden Ruhe? Aber Stille? Wer kann das noch? Wer kann damit etwas anfangen? Nicht Junge, nicht Alte, nicht die Theologie, nicht die Philosophie. Erling Kagge, Verleger, Autor, Jurist, Kunstsammler, Vater hat einen Wegweiser geschrieben. In, aus, durch die Stille? Auf jeden Fall aus der Erfahrung von Stille: „Die Antarktis ist der stillste Ort, an dem ich gewesen bin. Ich bin allein zum Südpol gegangen. […] Ich hatte das Gefühl, dass sich die Natur veränderte, aber ich irrte mich. Die Umgebung blieb dieselbe, ich veränderte mich.“ (S. 22) 2 „Ich wurde zu einer Verlängerung meiner Umgebung. […] Die Gedanken wurden über die Ebene bis zu den Bergen geschickt, und andere Vorstellungen und Ideen kamen zurück.“ (S. 24) „Die Stille nistete sich in mir ein. Ohne Kontakt mit der Außenwelt, isoliert und allein mit mir, war ich gezwungen, die Gedanken weiterzudenken, die mir bereits im Kopf herumgingen.“ (S. 25)
Stille verändert.
Man muss nicht wie Erling Kagge in 50 Tagen vollkommen auf sich gestellt ewiges Eis durchwandern, um Stille zu hören. Es geht um die alte Frage der Philosophie, auch der Theologie nach dem wirklichen, wahren, echten Leben. „Kaum ein Philosoph kümmert sich [heute] um die Stille und welche Bedeutung sie für uns haben könnte. Mehrere Philosophen haben mir, ähnlich wie meine Kinder, erklärt, dass die Stille nichts ist und daher uninteressant. Auf der anderen Seite können die wenigsten Philosophen einen Kuchen backen; sehr viele von ihnen haben sich nicht nur in den großen, sondern auch in den kleinen Dingen sehr weit von den Herausforderungen des Alltags entfernt.“ (S. 80)
Was trägt?
„Ich stricke nicht, aber wenn ich jemanden stricken sehe, denke ich, dass diese Person die gleiche innere Ruhe erlangt, wie ich sie bei einer Expedition erlebt habe, obwohl es um sie herum nicht so still ist. […] Allein das Wissen, dass man hier nicht gestört wird und dass man ausnahmsweise einmal keine Erklärung abgeben muss, warum man bei seiner Tätigkeit allein sein möchte, ist ein Luxus.“ (S. 36/37)
Stricken oder zum Südpol wandern?
Die stade Zeit, mehr Sehnsucht als Wirklichkeit, Hoffnung gegen digitalisierte Pausenlosigkeit. „In unserem Eifer, die neue Technologie zu nutzen, geben wir unsere Freiheit auf, behauptete Heidegger. Von freien Menschen werden wir zu Ressourcen umgestaltet. […] Aber leider werden wir nicht zu einer Ressource füreinander, sondern zu etwas weniger Angenehmen. Zu einer Ressource für Organisationen wie Apple, Facebook, Instagram, Google, Snapchat und den Staat, denen es dank unserer eigenen, freiwilligen Hilfe gelingt, sich ein genaues Bild von uns zu machen, das sie verkaufen oder selbst verwenden können.“ (S. 77) Ressourcen aus, in der Stille?
Staunen – eine der reinsten Freuden.
Erling Kagge macht das Staunen als Motor des Lebens aus. „Es gibt eine Menge Dinge im Leben, über die es sich staunen lässt. Es ist eine der reinsten Freuden, die ich mir vorstellen kann. Ich mag dieses Gefühl. Ich staune oft, ja, ich staune nahezu überall: Auf Reisen, wenn ich lese, wenn ich Menschen begegne, […]. Das Staunen gehört zu den stärksten Kräften, die uns in die Wiege gelegt wurden.“ (S. 19) Und trotzdem nicht selbstverständlich, nicht einfach – von Staunen erfüllte Stille, stilles Staunen, Weihnachten. Da ist auch die Angst vor der Stille, nicht vor dem Schweigen, sondern der innehaltenden Ruhe, „eine Angst, die bewirkt, dass ich allzu schnell meinem eigenen Leben aus dem Weg gehe. Stattdessen beschäftige ich mich irgendwie, vermeide die Stille, tue das Naheliegende. […] die Furcht, sich besser kennenzulernen.“ (S. 21)
Dem eigenen Leben aus dem Weg gehen.
Auf dem Weg zum Südpol lässt sich dieser Furcht nicht ausweichen. Erling Kagge versetzte sich in diesen Tagen in den Mann im Mond, der ihn für verrückt halten musste, noch verrückter als die „Millionen von Menschen, die ihre kleinen Häuser am frühen morgen verließen, nur um einige Minuten oder eine Stunde im Stau zu stehen. Wie in einem Stummfilm. Dann kamen sie zu einem großen Haus. Darin saßen sie acht, zehn oder zwölf Stunden vor ihren Bildschirmen, bevor sie im gleichen Stau wieder zu ihren kleinen Häusern zurückkehrten. Das Abendessen und die Nachrichten im Fernsehen gab es jeden Abend zur gleichen Zeit. Jahr für Jahr. Mir wurde klar, dass im Laufe der Zeit der einzige Unterschied darin bestand, dass die Eifrigsten ein etwas größeres Haus hatten, in dem sie die Nacht verbrachten. Als ich am Abend meine Ski abschnallte, um mein Lager aufzuschlagen, fühlte ich mich ruhiger und zufriedener.“ (S. 32)
Die Eifrigsten haben ein etwas größeres Haus.
„Die Stille ist eine Bereicherung an sich. Es ist eine Qualität, etwas Exklusives und Luxuriöses. Ein Schlüssel, mit dem sich neue Arten des Denkens erschließen. Ich denke dabei nicht an Entsagung oder Spirituelles, sondern an eine praktische Ressource für ein reicheres Leben. Oder etwas einfacher ausgedrückt: eine Form des Erlebens, die tiefer ist, als nur den Fernseher einzuschalten und sich die Nachrichten anzusehen.“ (S. 42)
Erstaunlich, dass man für diese Erkenntnis durch die Antarktis wandern muss, wo sie doch alle Jahr wiederkommt – die Stille Nacht.
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Text: Birgit Hoyer, Mitglied der Redaktion www.feinschwarz.net;
Bild: Insel Verlag.