Der Roman „Oben Erde, unten Himmel“ von Milena Michiko Flašar geht dem Sterben in Einsamkeit nach. Silke Zäh stellt sich dem herausfordernden Thema einer sich unausweichlich verändernden Gesellschaft.
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„Wir treten jetzt ein, Herr Ono.
Ist das in Ordnung für Sie?
Sie erinnern sich doch.
Wir sind die Reinigungsfirma,
die Sie beauftragt haben,
[nach ihrem Tod]
Ihre Wohnung zu räumen.“
Milena Michiko Flašar erzählt in ihrem Roman „Oben Erde, unten Himmel“ wertschätzend und humorvoll von Einsamkeit, Tod und Gemeinschaft. Aus der Perspektive der jungen Suzu begegnen den Lesenden gleichermaßen liebenswerte wie skurrile Charaktere. So verhält sich gerade Suzus Chef etwas merkwürdig: Immer bevor er die Wohnungen der Verstorbenen betritt, hält er eine kurze Begrüßungsansprache für den Toten. Was zuerst spleenig erscheint, wird Suzu immer wichtiger und wertvoller, denn ihre Tätigkeit wird nicht nur eine bloße Erwerbstätigkeit, bei der es um den reinen Akt des Aufräumens geht, sondern sie bietet ihr immer mehr Orientierung im Leben.
Zu Beginn der Geschichte lebt Suzu allein mit ihrem Hamster in Japan. Sie fühlt sich zunehmend einsam, orientierungslos und nicht gesehen. Als sie die Stellenausschreibung ihres zukünftigen Jobs liest, ahnt sie noch nicht, was es mit Reinigungskraft für Aufräumarbeiten auf sich hat und dass es ihr Leben grundlegend verändern wird. Zusammen mit ihrem Chef und ihrem Kollegen Takada kümmert sie sich nun um die Reinigung der Wohnungen verstorbener Menschen, die oft wochenlang unentdeckt geblieben sind. Suzu bekommt dadurch intensive Einblicke in das Leben der Verstorbenen. Ihrem Kollegen Takada hilft sie während einer Erkrankung und sie knüpft Freundschaft mit ihren Nachbarn. Auch ein Kirschblüten-Picknick, das sie vorerst ablehnt, wird zu einem freudigen Ereignis. Immer mehr wächst sie in eine Gemeinschaft hinein, die ihr immer mehr Halt im Leben gibt.
Endlichkeit versus Kodokushi
Durch die Behandlung der Folgen des demographischen Wandels, der Japan besonders betrifft, werden die Herausforderungen einer zunehmend alternden Gesellschaft im Roman thematisiert. Während in den meisten Kulturen Endlichkeit kaum gesellschaftliche Relevanz erhält, existiert in Japan bereits ein Wort für das einsame, unbemerkte Sterben: Kodokushi.
Für Suzu sind die Konfrontationen mit dem Phänomen Kodokushi der direkte Kontakt mit der Endlichkeit und bilden den Rahmen der Romanhandlung. Sie stellen den Katalysator für eine Charakterentwicklung der Protagonistin dar: Anfänglich vereinsamt und scheinbar im Leben gescheitert, entwickelt sich Suzu durch lang ersehnte, zwischenmenschliche Beziehungen zu einer lebensfrohen, jungen Frau. Sie lernt, sich anderen Menschen zuzuwenden, sich ihnen zu öffnen und so der eigenen Vereinsamung in ihrem Umfeld entgegenzuwirken.
Respektvoller Umgang mit
Verstorbenen und Lebenden
Der Roman thematisiert aufrichtig und aufmerksam, wie mit Sterben und Tod gegenwärtig umgegangen wird. Die emphatischen Schilderungen der liebenswerten, wie skurrilen Charaktere geben der Geschichte eine sensible Note für feine zwischenmenschliche Töne. Die Autorin greift mit Kodokushi ein brisantes Thema der gegenwärtigen Gesellschaft auf. Die Story regt zum Reflektieren an, wie über einen würdevollen und respektvollen Umgang mit Verstorbenen und Lebenden umgegangen wird. Die Episoden behandeln eine Mischung humorvoller und ernsthafter Passagen und diese wirft in einem die tiefgründige, gesellschaftliche Frage auf: Wie gehen wir mit dem Sterben in einer sich demographisch stark verändernden Gesellschaft um?
Es kommen Zweifel auf, ob das sensible Thema der Endlichkeit genügend Raum im Leben der Menschen bekommt. Das Buch lädt ein, Leben und Tod als Symbiose, auf eine zugängliche und berührende Art und Weise zu betrachten: oben und unten. Himmel und Erde. Untrennbar miteinander verwoben, zu einer Einheit verschmelzend, egal in welche Richtung weisend, sind beide Teil des ganzen Spiels. Dass gerade dadurch Orientierung im Leben entsteht, ist nun nicht mehr verwunderlich, wenn man diesen Roman liest.
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Zur Autorin: Milena Michiko Flašar wurde 1980 in St. Pölten geboren, hat in Wien und Berlin Germanistik und Romanistik studiert. Sie ist die Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters. Ihr Roman Ich nannte ihn Krawatte wurde über 100.000 Mal verkauft, als Theaterstück am Maxim Gorki Theater uraufgeführt und mehrfach ausgezeichnet. Er stand unter anderem 2012 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Wien. Ihr jüngstes Werk Oben Erde, unten Himmel wurde mit dem Evangelischen Buchpreis 2024 ausgezeichnet.
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Silke Zäh, 1980 in Darmstadt geboren, studierte Vergleichende Sprachwissenschaft und Komparatistik in Mainz. Zwischendurch schreibt sie für verschiedene online- und print-Medien. Als Pressereferentin arbeitet sie seit 2019 für die action 365 in Frankfurt am Main.
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