Die Strukturlogik internalisierter Misogynie trifft in der christlichen Opfertheologie auf fruchtbaren Boden, so Anne-Kathrin Fischbach. Aber wie und wann scheint es für Frauen[1] angebracht, die erlernte Dynamik zu durchbrechen?
„Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht […]. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise etliche rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, auf dass ich an ihm teilhabe (1 Kor 9,19–21).“
Die Botschaft vom Kreuz ist eine paradoxe Botschaft. Rettung gibt es durch Opferbereitschaft – bis in den Tod hinein. Religiös ist diese Botschaft gesättigt, die Gefährdung durch den Tod immer bereits überwunden. Auf der psychologischen Ebene ist aber anzumerken, dass die paradoxe Botschaft vom Kreuz immer Gefahr läuft in eine Kommunikationsform abzugleiten, die in der Psychologie „double bind-Kommunikation“ genannt wird.
double bind-Kommunikation
Eine solche Kommunikationstechnik besteht im Senden doppelter, widersprüchlicher Botschaften, wobei die Adressat:innen in Unsicherheit darüber belassen werden, welcher der Botschaften sie nun Glauben schenken sollen. Damit einher geht eine Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit: Wer auf die Frage „Wie geht es?“ mit bitterer Leidensmiene antwortet „Alles okay“, verunsichert das Gegenüber. Soll es nun weiter nachfragen – oder gerade nicht? Langfristig zerstört solche Kommunikation bei den Adressat:innen massiv Vertrauen, was sich bis hin zu schwerwiegendem Identitätsverlust auswirkt.[2] Dabei sind Adressat:innen privilegierter Gruppen gegenüber doppelbödigen Botschaften resilienter als Adressat:innen benachteiligter Gruppen. Vulnerable Gruppen sind in höherem Maße dazu bereit, doppelbödige Botschaften in ihre Identität zu integrieren.
Aus diesen ersten Beobachtungen lässt sich die Vermutung aufstellen, dass gewisse Botschaften christlicher Theologie als Handlungsimperativ auf unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft womöglich unterschiedlich handlungsleitend wirken. Dies gilt in dem Maße, in dem religiöse Topoi mit gesellschaftlichen Strukturen korrelieren. Diese These soll im Folgenden exemplarisch am Beispiel der internalisierten Misogynie plausibilisiert werden.
nur hochgeschlafen
Internalisierte Misogynie wird dabei verstanden als Abwertung von Frauen durch Frauen – und dadurch immer auch als Selbstabwertung. Internalisierte Misogynie ist wie Sexismus und Rassismus im Allgemeinen weniger ein individuelles als ein gesellschaftliches Phänomen.[3] Sie tritt am augenscheinlichsten in Form von gesteigertem Konkurrenzdenken gegenüber anderen Frauen auf, wobei es generell der gesellschaftliche Erfolg anderer Frauen ist, der kritisch beäugt wird.[4] Mit dem Urteil etwa, dass eine Frau nur über eine Quote an ihre Position gekommen sei oder sich gar „nur hochgeschlafen habe“, es also nur aufgrund externer Gründe und nicht aufgrund eigener Kraft, eigener Kenntnisse bzw. Eigenschaften zu Erfolg gebracht habe, unterstellen Frauen anderen Frauen – der patriarchalen Strukturlogik folgend – implizit Machtlosigkeit und Inkompetenz.
Um gegenüber diesen Zuschreibungen, die sie qua Geschlecht ja auch selbst treffen, dennoch ein positives Selbstbild aufrecht erhalten zu können, muss die Frau sich selbst aus der Gruppe der so charakterisierten Frauen aussondern. Die zumeist unbewusst ablaufende Selbststilisierung als pick-me-girl ist dabei eine Denkfigur, an der sich prototypisch zeigen lässt, wie positive Diskriminierung funktioniert; das pick-me-girl möchte herausstechen, wobei Besonderung auf ganz unterschiedliche Weise erreicht werden kann, durch gesteigerte Betonung des gesellschaftlich stereotypen Frauseins wie im Gegenteil durch völlige Negation desselben.
pick-me-girl
Kriterium dafür, ein pick-me-girl zu sein, ist der paradoxe Versuch, der Gesellschaft beweisen zu wollen, trotz der einerseits akzeptierten Zuschreibung nicht eigentlich Teil der von der Gesellschaft abgewerteten Gruppe zu sein. Ziel des pick-me-girls ist seine Anerkennung durch Männer, denn sie sind in patriarchalen Strukturen die wahren Gatekeeper, die gesellschaftlichen Wert definieren und normieren, die Macht und Kompetenz zu- bzw. absprechen.
Dass Andere diese Strategie wiederum offen als misogynes Verhalten verurteilen, verstärkt misogyne Zuschreibungen nur noch – Stichwort: „Stutenbissigkeit“ – und verkennt, dass der Verlockung, als pick-me-girl der eigenen Identität zu entkommen, letztlich nicht zu widerstehen ist, es sei denn in der Einwilligung in die untergeordnete Rolle, die die patriarchale Gesellschaft Frauen zuweist.
Der von Beginn an aussichtslose Kampf um Anerkennung als Gleiche fügt Frauen reale Wunden zu: die durch ständige strukturelle Abwertung begründeten Selbstzweifel sitzen tief – selbst wenn sich gesellschaftliche Anerkennung partiell einstellt. Diese Zweifel begründen ein Verhalten anderen Frauen gegenüber, das sich aus Neid einerseits und Angst andererseits speist. Der Anruf, den eine einzelne, in der patriarchalen Gesellschaft sichtbar gewordene „Ausreißerin“ an andere Frauen stellt, zwingt diese implizit dazu, sich den eigenen ambivalenten Gefühlen von Angst und Schmerz bezüglich der eigenen Vulnerabilität zu stellen[5] – und fordert sie nicht selten zu Verhaltensänderung heraus – was womöglich gefährlich, mindestens aber sehr anstrengend wäre. Der Impuls von Frauen, Ausreißerinnen zum Schweigen zu bringen, ist aus diesem Hintergrund heraus verständlich.
Stutenbissigkeit
Das Phänomen der internalisierten Misogynie als Abwertung des eigenen Geschlechts resultiert daher, neben psychischen Auffälligkeiten auf persönlicher Ebene, wie Depressionen, Essstörungen und mangelndem Selbstwert, auf soziologischer Ebene vor allem in mangelnder Solidarisierung gegenüber anderen Frauen.[6] Frauen tragen aktiv dazu bei, sich gegenseitig hinsichtlich patriarchaler Strukturen zu normieren.
Solche Entsolidarisierung kann nicht durch oft bemühte Solidarisierungsaufrufe „geheilt“ werden. Sie rührt aus einem zumeist unbewusst, aber deswegen nicht weniger tief empfundenen Unwillen bzw. Unvermögen her, sich mit dem Geschlecht zu identifizieren, dem man sich dennoch zugehörig weiß – oder fühlt. Diese Ambivalenz sorgt für schizophrene Gefühle bezüglich der eigenen Identität. Appelle an die Verantwortung der Einzelnen führen weniger dazu, die internalisierte Misogynie zu überwinden als vielmehr zu Scham über das eigene ambivalente Verhalten, was tendenziell Tabuisierung und Vermeidung der Problematik zur Folge hat – und damit deren Aufrechterhaltung.
Im gesellschaftlichen Appell zur Solidarität von Frauen untereinander setzt die psychologische Wirkung des double bind ein: Einerseits fordert die Gesellschaft von ihnen Solidarität mit anderen Frauen ein, andererseits zeigt sich dieselbe Gesellschaft bleibend unsolidarisch gegenüber Frauen. Wenn eine Klärung der ambivalenten Situation durch konfliktives Verhalten nicht erfolgsversprechend erscheint, wird Regression zur einzig noch möglichen Handlungsstrategie. Betroffene habitualisieren, den eigenen Wahrnehmungen und Gefühlen zu misstrauen.
Solidarisierung verlangt Einfühlung und Mitgefühl
Solidarisierung verlangt allerdings wesentlich Gefühle, vor allem Einfühlung und Mitgefühl mit anderen. In dem Maße, in dem Frauen „langsamer“ Gewalt ausgesetzt sind, die ihr Vertrauen darauf, dass die Gesellschaft ihnen solidarisch auf Augenhöhe begegnet, systematisch bricht, fällt ihnen kein wirklich gutes Argument mehr dafür ein, solidarisch sein zu sollen: Stattdessen winkt Anerkennung in dem Maße, in dem Frauen sich an patriarchale Gesellschaftsstrukturen anpassen – unter Verleugnung ihrer Identität. Die Strukturlogik internalisierter Misogynie resultiert jedoch längerfristig in Selbstschwächung durch Vereinzelung; einhergehend mit erhöhter Vulnerabilität.
Aufrüstung
Die so vereinzelten Frauen lernen sich anzupassen und sich auf unsicherem Terrain so sicher wie möglich zu bewegen – indem sie die Sprache der doppelbödigen Kommunikation perfektionieren. Frauen internalisieren Selbstzweifel, suchen die Schuld, aber auch die Lösung für Probleme bei sich anstatt aufzubegehren und den double bind offen als solchen zu markieren. Ihre Anpassungsfähigkeit ans System wird zum Panzer – durch diese „Aufrüstung“, die ursprünglich einem eigenen Schutzbedürfnis geschuldet ist, werden sie latent vulnerant gegenüber anderen Frauen.
Nicht zuletzt aus diesen Gründen fällt die paradoxe Botschaft des Christentums und die damit einhergehende Opfertheologie bei Frauen womöglich auf fruchtbareren Boden: Sie führen ohnehin auf gesteigerte Weise eine Existenz im Paradox der Doppelbödigkeit. Zwar kann die Erlösungsbotschaft des Christentums dabei helfen, Paradoxien des Lebens auszuhalten, for the greater good, sozusagen.
christliche Opfertheologie
„Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist (Philipper 2,8f.).“
Dass das Paradox der christlichen Botschaft gerade unterdrückten Gruppen ein stärkeres Identifikationspotenzial bietet, indem es ihnen ausgleichende Gerechtigkeit zuspricht, ist eine Binsenweisheit. Aber inwiefern stützt ein solches Identifikationspotenzial prekäre gesellschaftliche Strukturen, in unserem Fall internalisierte Misogynie, wenn vulnerable Gruppen religiöse Topoi auf sich anwenden und sich dadurch Anerkennung erhoffen?
Erlösungsbotschaft des Christentums vermag eine Umdeutung des victims zum sacrifice.
In der Anwendung der christlichen Opfertheologie auf das eigene Leben beispielsweise kann eine Frau eine Umwertung der Werte dementsprechend vornehmen, dass sie es als Wert ausweisen kann, opferbereit zu sein, allen gerecht zu werden, eben wie Paulus allen alles zu sein. In der Identifikation von Frauen mit der Erlösungsbotschaft des Christentums vermag eine Umdeutung des victims zum sacrifice stattzufinden, die auf individueller Ebene entlastet. Auf struktureller Ebene wird die misogyne Gesellschaftsstruktur aber perpetuiert und die christliche Botschaft wird von einer Botschaft der Befreiung durch Hingabe zu einem Werkzeug der Unterdrückung. Im gegenseitigen Bezug der theologischen Forderungen und gesellschaftlichen Verhältnisse aufeinander entsteht so womöglich eine Dynamik der Unterdrückung, die zu weiterem Identitätsverlust und Entsolidarisierung führen vermag.
Angesichts dieser Gefahr ist es notwendig, bleibend auf die politische Botschaft religiöser Topoi aufmerksam zu machen. Das Opfer ist nicht wesentlich gut (selbst das sacrifice nicht und schon gar nicht das victim) – es ist ein Zustand, der nur aus seiner bereits vollbrachten Überwindung seine Berechtigung erfährt.
Wer unbedingte Solidarität in Berufung auf das christliche Opfer fordern möchte, muss sich fragen, ob er:sie – wie Gott – Erlösung für alle Unterdrückten und Entrechteten garantieren kann, in Form von Liebe, Anerkennung und unbedingter Solidarität.
Der Allmächtige macht sich schwach und verwundbar
Die Gefährdung, die mit der christlichen Idealisierung des Opfers einhergeht, darf nicht verschwiegen werden. Aufopferung vermag zwar tatsächlich Räume zu eröffnen, Leben zu schaffen, aber nur wenn sie freiwillig erbracht wird – aus einer Position der Stärke heraus. So lautet die Weihnachtsbotschaft: Der Allmächtige macht sich schwach und verwundbar.
Risiko: Faustschlag
Dass in asymmetrischen patriarchalen Strukturen solch freiwillige Opfer von Benachteiligten möglich sind, kann bezweifelt und sollte verhindert werden. Doch wie können Frauen dann ihre Rüstung, bestehend aus internalisierter Misogynie, ablegen, die sie sich notdürftig aus den Strukturen des Patriarchats zusammengezimmert haben? Wer unbedingte Solidarität ohne jede Rüstung lebt, wird der Welt unvermeidbar als Tor gelten – und lebt vielleicht als Heilige, aber auch gefährlich, denn unter der Rüstung schwelen offene Wunden. Wo ist es klug und angezeigt, Abrüstung zu leben, auch um das Risiko einen Faustschlag zu riskieren, wo ist es dagegen überlebensnotwendig, die Rüstung anzubehalten?
Autorin: Anne-Kathrin Fischbach ist wissenschaftliche MItarbeiterin am Lehrstuhl für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Albert-Ludwig-Universität Freiburg.
Beitragsbild: Nik Shulian, unsplash.com
[1] Wenn im Folgenden von „Frauen” bzw. „Männern“ gesprochen wird, sind stets „als Frauen gelesene Personen“ bzw. „als Männer gelesene Personen“ gemeint, wobei es eigens zu diskutieren wäre, in welchem Maße das Phänomen der internalisierten Misogynie Trans-Frauen betrifft.
[2] Vgl. Watzlawick, Paul / Beavin, Janet H. / Jackson, Don D., Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien. Bern, u. a. 91996, 194–212.
[3] Die Differenzierung zwischen Sexismus und Misogynie folgt der Unterscheidung von Kate Manne, wobei Manne Sexismus als epistemologische Rechtfertigung und Misogynie als Durchsetzung patriarchaler Ordnung versteht, vgl. Manne, Kate, Down Girl, New York 2018, 78f.
[4] Vgl. Bearman, Steve / Korobov, Neill / Thorne, Avril, The Fabric of Internalized Sexism, in: Journal of Integrated Social Studies, (1/2009), 10–47, 10: “Dialogic practices of internalized sexism fell into 4 categories: assertions of incompetence, which express an internalized sense of powerlessness; competition between women; the construction of women as objects; and the invalidation or derogation of women.“
[5] Vgl. Keul, Hildegund, Die Privilegierung von Männern vulnerabilisiert Frauen. Ein verwundbarkeitstheoretischer Blick auf Kate Mannes „Down Girl“, in: Ethik und Gesellschaft (2/2020), 7.
[6] Vgl. Szymanski, Gupta (u.a.), Internalized Misogyny as a Moderator of the Link between Sexist Events and Women’s Psychological Distress, in: Sex Roles 16 (1-2/2009), 101–109.