Wonach sehnt sich, wer sich nach Gott sehnt? Und gibt es Anzeichen für die Erfüllung dieser Sehnsucht? Adventliche Gedanken von Franziska Loretan-Saladin.
Ein junger Jude sagte zum Rabbi: „Ich möchte zu dir kommen und dein Schüler werden.“ Da antwortete der Rabbi: „Gut, das kannst du, ich habe aber eine Bedingung. Du musst mir eine Frage beantworten: Liebst du Gott?“
Da wurde der Schüler traurig und nachdenklich. Dann sagte er: „Eigentlich lieben, das kann ich nicht behaupten.“ Der Rabbi sagte freundlich: „Gut, wenn du Gott nicht liebst, hast du dann etwa Sehnsucht ihn zu lieben?“
Der Schüler überlegte eine Weile und erklärte dann: „Manchmal spüre ich diese Sehnsucht sehr deutlich, aber meistens habe ich soviel zu tun, dass die Sehnsucht im Alltag untergeht.“ Da zögerte der Rabbi und sagte dann: „Wenn du die Sehnsucht, Gott zu lieben, nicht so deutlich verspürst, sehnst du dich dann vielleicht danach, diese Sehnsucht zu haben, Gott zu lieben?“
Da hellte sich das Gesicht des Schülers auf und er sagte: „Genau das habe ich. Ich sehne mich danach, diese Sehnsucht zu haben, Gott zu lieben.“ Der Rabbi entgegnete: „Das genügt. Du bist auf dem Weg.“
(Autor_in unbekannt)
Mit grosser Sorgfalt lässt sich der Rabbi auf seinen neuen Schüler ein. Wer kann denn von sich sagen: Ich sehne mich nach Gott? Kann ich mich nach etwas oder jemandem sehnen, von dem oder der ich mir kaum eine Vorstellung machen kann? Wer ist Gott? Geht die Sehnsucht auf etwas hin, das dem Leben Sinn, Orientierung, Ganzheit gibt, oder das zumindest hilft, mit all der Gebrochenheit leben zu können? Aber ob sich dies „Gott“ nennen lässt?
In drei Schritten möchte ich der Spur folgen, auf die die „Sehnsucht nach der Sehnsucht nach Gott“ führen kann.
Sehnsucht
Das Wörterbuch umschreibt Sehnsucht als „inniges, schmerzliches Verlangen“. Am Bekanntesten ist dieses intensive Gefühl wohl auf der zwischenmenschlichen Ebene. Zwei Liebende, die voneinander getrennt sind, sehnen sich schmerzlich danach, sich wieder zu sehen. Dieses Gefühl lässt sich kunstvoll gestalten in Dramen und Opernarien, aber auch in der leichteren Musik.
Ein weiteres ist die Sehnsucht nach Glück. Nicht nach einem bloss oberflächlichen schnellen Glück. Vielmehr die Sehnsucht danach, dass immer noch mehr möglich wäre an Intensität, Ganzheit, Übereinstimmung mit sich selbst, innerem und äusserem Frieden. Die Sehnsucht, die sich weit macht und ausdehnt, am liebsten auf alle Menschen und die ganze Welt. Erahnbar vielleicht in kleinen, oft flüchtigen Momenten. Doch dieses Ahnen tiefen Glücks kann unsere Sehnsucht danach immer wieder neu wecken und intensivieren. „Es muss doch mehr als alles geben“ – nennt Dorothee Sölle diese Sehnsucht treffend.
„Es muss doch mehr als alles geben.“
(Dorothee Sölle)
Im Bemühen darum, die Sehnsucht nach dem „mehr als alles“ zu stillen, sind wir ansprechbar für verschiedenste Angebote. Ich denke an die bunte Vielfalt von psychologischen und anderen Therapien. Ich denke an Kurse zur Selbst- und Körpererfahrung, Einführungen in verschiedene Formen der Meditation, östlicher, indianischer oder schamanischer Weisheit und was der Möglichkeiten mehr sind. Solche Angebote können das Lebensgefühl vieler Menschen von heute treffen. Doch haben sie etwas mit der Sehnsucht nach diesem „mehr als alles“, nach Gott zu tun?
Die Sehnsucht nach Gott bleibt Paradox: Zwar gehört es zum Menschen, dass er sich sehnt nach Mehr, nach Erfüllung, nach Ganzheit und Heil, nicht nur für sich selbst. Doch er kann diese Sehnsucht nicht selber stillen. Es bleibt immer ein zu wenig. Es bleibt immer noch etwas unerfüllt in der Begrenztheit des Lebens. Wo etwas anderes versprochen wird, besteht Gefahr, sich selbst erlösen zu wollen und die Erfüllung der Sehnsucht von eigener Leistung abhängig zu machen.
In der Sehnsucht nach Gott, so „weltlich“ sie auch sein mag, bleibt hingegen stets etwas Unverfügbares, etwas, das noch aussteht.
Sehnsucht nach Gott
Wonach sehnt sich, wer sich nach Gott sehnt?
Folgen wir den Schriften von Mystikerinnen und Mystikern, scheint sich Gott auf wirksame Weise im Leben dieser Männer und Frauen zu melden. Eindrücklich sprechen sie davon, dass sich zuerst Gott nach dem Menschen sehnt und so im Menschen die Sehnsucht nach Gott weckt. Simone Weil, eine Mystikerin des 20. Jahrhunderts, ist davon überzeugt, dass Gott selbst es ist, der die Welt und die Menschen sucht. Gott warte wie ein Bettler, wie einer, der um unsere Liebe bettelt.
dass sich zuerst Gott nach dem Menschen sehnt und so im Menschen die Sehnsucht nach Gott weckt.
Diesem Warten Gottes auf den Menschen entspricht auf der anderen Seite ein aufmerksames, absichtsloses und waches Da-Sein des Menschen, eine bittende Präsenz, die die Sehnsucht nach Gott offen hält. In einem Bild umschreibt Simone Weil die gegenseitige Anziehungskraft von Gott und Mensch so: Zwei Gefangene in benachbarten Zellen verständigen sich gegenseitig durch Klopfzeichen gegen die Mauer zwischen ihren Zellen. Die Mauer ist das Trennende zwischen ihnen, aber sie ist es auch, die es ihnen erlaubt, miteinander zu verkehren. Das Gleiche gilt für Mensch und Gott. Jede Trennung ist eine Verbindung. Eine andere Bezeichnung für Sehnsucht?
Jede Trennung ist eine Verbindung.
Gott, der oder die ganz andere
In der Sehnsucht nach Gott, bleibt Gott in ihrem Anderssein ein Geheimnis. Ich kann Gott nie ganz erkennen, gewissermassen für mich „haben“. Alles andere wäre eine Projektion. Ich würde mir Gott nach meinem Bild schaffen.
Biblische Texte erzählen von der Fremdheit und dem Anderssein Gottes. Allein die Geschichte Mose zeigt ganz verschiedene Bilder von Gott. Gott offenbart sich im Dornbusch und bezeichnet sich selbst als „Ich bin, der ich da bin.“ Gott begleitet sein Volk in Wolke und Feuersäule. Gott spricht mit Mose auf dem Berg Sinai. Und Gott zeigt sich Mose auf dessen Bitte hin, allerdings nur nach dem Vorbeigehen.
Biblische Texte erzählen von der Fremdheit und dem Anderssein Gottes.
Gerade diese letzte Gottesbegegnung des Mose scheint mir für die eigene Sehnsucht nach Gott von besonderer Bedeutung.
Die Sehnsucht nach Gott braucht hie und da Nahrung. Mindestens die Ahnung dessen, dass Gott in dieser Welt etwas zu schaffen hat, und dass dies sichtbar wird, nicht allein als Leere, sondern als kleine Erfüllungen. Doch letztere lassen sich meist erst im Nachhinein wahrnehmen. Da war doch etwas. Da fühlte ich eine besondere Intensität im Schmerz oder im Glück. Es war, als könnte ich die ganze Welt umarmen oder als fiele ich, und falle nicht ins Nichts.
Und manchmal ist es einfach eine momentane besondere Sehnsucht, eine Sehnsucht nach der Sehnsucht nach Gott und nach einer Welt in Gottes Sinn.