Die Kontroversen um Themen wie Frauenpriestertum, Homosexualität, Demokratisierung kirchlicher Strukturen etc. stellen uns unleugbar vor Augen, dass Theologien in der „westlichen“ Hemisphäre den Diskursrahmen schon lange nicht mehr festlegen. Stattdessen sind sie zu einer unter vielen Akteur*innen im Diskurs geworden, sodass sich die Frage nach Akkommodation und Anpassung ihrer Inhalte an die sie umgebende Kultur in aller Schärfe erneut stellt. Muster für den Umgang mit Gefahren und Chancen von Anpassungsprozessen gibt es außerhalb der europäischen Theologiegeschichte reichlich und ein Blick auf sie kann Orientierungshilfe für die notwendigen Prozesse in Europa und Nordamerika sein, findet Jan Levin Propach.
Am 17. März 1865, wenige Jahre nachdem Japan durch imperialistische Mächte gezwungen worden war seine Häfen für den Handel zu öffnen, ereignete sich in der kleinen Pfarrkirche des französischen Missionars Bernard-Thadée Petitjean MEP (1829–1884) in Nagasaki etwas Seltsames: Entgegen den in Europa kursierenden Berichten über die grausame Christenverfolgung im Japan des 17. und 18. Jahrhunderts und die Vermutung, dass das Christentum seitdem vollständig ausgelöscht worden sei, erschienen an jenem Morgen fünfzehn Japaner*innen und baten, der Priester möge ihnen doch die Statue der Muttergottes in dieser Kirche zeigen. Seitdem war klar, dass das Christentum fast drei Jahrhunderte seit der Vertreibung der Missionare und der Isolierung Japans ohne Kontakt zur kirchlichen Hierarchie, zu Amtsträgern und zu den Sakramenten im Untergrund überlebt hatte. Dass von den ca. 50.000 Christ*innen, die es zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch in Japan gab, bloß ca. 17.000 in die neu nach Japan vordringenden Großkirchen „zurückkehrten“, zeigt, dass das japanische Untergrundchristentum durch die beinahe drei Jahrhunderte, im Austausch mit der religiösen und kulturellen Umwelt, einen Transformationsprozess durchlaufen und sich eine eigene religiöse Identität herausgebildet hatte. Diese besteht bis heute fort: Es existieren noch ca. 3.000 solcher Verborgenen Christen auf Japans südlicher Insel Kyushu. Allerdings wird es nicht mehr lange dauern, bis diese Form des Christentums verschwunden sein wird.
weil die Jesuiten sich dem japanischen Kontext anpassten
1549 hatte Francisco de Xavier SJ (1506–1552) mit zwei Ordensbrüdern und einem geflohenen Samurai Japan erreicht. Dutzende japanische Herrscher und buddhistische Klöster rangen damals um die Vormacht im zersplitterten Japan und viele von ihnen erhofften sich durch Kontakt zu den Jesuiten, die in Asien unter dem Vorzeichen der portugiesischen Expansion aufgetreten waren, politische, wirtschaftliche und militärische Vorteile: durch Beteiligung am portugiesischen Seidenhandel mit China und am Import von Schusswaffen. Einige Herrscher sahen im Christentum außerdem ein geeignetes Instrument, die Macht einiger buddhistischer Akteure einzudämmen. Abgesehen von den politischen Umständen wuchs die Mission auch deshalb zügig, weil die Jesuiten sich dem japanischen Kontext anpassten: angefangen von der Architektur ihrer Residenzen bis zum Übersetzen von christlicher Literatur, in der Liturgie und sogar bei den Speise- und Kleidungsgewohnheiten. 1583 waren bereits 150.000 Japaner*innen getauft worden, es existierten ein Noviziat, mehrere Seminare und 75 Jesuitenpatres und -Brüder organisierten die Mission. 1580 waren die Jesuiten sogar zu Kolonialherren geworden, denn der einflussreiche Fürst Ōmura Sumitada (1533–1587), der 1563 auf den Namen Dom Bartolomeu getauft worden war, hatte dem Orden die Hafenstadt Nagasaki vermacht. Spätestens seitdem waren die Missionare allerdings in das fragile Spiel um die Macht in Japan eingetreten und es dauert nicht lange, bis sich das Geschick des Christentums in Japan wenden sollte.
Bis 1650 starben 2.128 Christ*innen den Märtyrertod.
Die drei sogenannten Reichseiniger Oda Nobunaga (1534–1582), Toyotomi Hideyoshi (1537–1598) und Tokugawa Ieyasu (1543–1616) hatten seit den 1570er Jahren damit begonnen, Japan peu à peu zu vereinigen und damit jede militärische, ökonomische und auch religiöse Macht unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Jesuiten, mit ihrer lukrativen Kolonie Nagasaki, wurden vielfach als Handlanger der portugiesischen Krone empfunden und standen somit dieser Einigung im Weg. 1587 erließ Hideyoshi ein erstes Edikt, das den Jesuiten die Kontrolle über Nagasaki entzog. Und als 1612 eine Hofintrige aufgedeckt wurde, an der mehrere einflussreiche Christen beteiligt waren, wurden die Jesuiten und überhaupt alle Christ*innen zunehmend als Antagonist*innen des Einigungsprozesses wahrgenommen. Nachdem Japan dann 1609 und 1613 Handelsverträge mit den Niederländern und Engländern, welche keinerlei missionarische Ambitionen verfolgten, abgeschlossen hatte, war es für Japan nicht mehr notwendig den Ballast der Mission zu ertragen, um vom lukrativen Handel profitieren zu können. So erließ Tokugawa Ieyasu 1614 ein weiteres Edikt, welches das Christentum verbot und alle Missionare des Landes verwies. Die ersten Martyrien in Kyoto 1619, in Nagasaki 1622 und in Edo, dem heutigen Tokyo, 1623 zeugen von der Entschlossenheit der neuen Zentralmacht, dieses Edikt durchzusetzen. Etwa zwei Drittel der Missionare verließen Japan freiwillig, der Rest wurde entweder ausgewiesen, getötet oder zur Apostasie gezwungen.[1] Auch die christlichen Gemeinschaften wurden systematisch verfolgt. Bis 1650 starben 2.128 Christ*innen den Märtyrertod.[2]
Die Martyrien Emmanuel Borges‘ SJ und der beiden seliggesprochenen Japaner Augustinus Ota SJ und Diego Yuki SJ[3]
Trotzdem lebte das Christentum vorwiegend an den schroffen und unwirtlichen Küsten Kyushus, fern der größeren Städte, weiter. Doch bloß Anpassung und eine Camouflageexistenz ermöglichte es den japanischen Christ*innen zu überleben: Statuen der Muttergottes wurden im Stil des Budhisattva Kannon dargestellt (siehe Bild); christliche Beerdigungsriten wurden an die des Buddhismus angelehnt; Altäre, kaum von denen des Shinto zu unterscheiden, dienten den Zeremonien; Reis, Sake und Fisch wurden statt ungesäuertem Brot und Wein für die Mahlfeier verwendet und biblische und katechetische Texte bloß mündlich überliefert.[4] Die Schrift 天地始之事 (tenchi hajimari no koto) dieser im Verborgenen lebenden Christen ist eine Sammlung solcher mündlich über die Jahrhunderte tradierter biblischer Geschichten, in die buddhistische, shintoistische und volkstümliche Motive eingeflochten wurden: Noah wird dort von einem buddhistischen Tempelhund begleitet, Maria empfängt Christus durch einen Schmetterling, der in ihren Mund fliegt, der noch junge Jesus diskutiert im Tempel mit dem Priester Gakujūran über das kyō, die heiligste Sammlung buddhistischer Schriften, aus Pontius Pilatus werden die Vasallen Pontius und Pilatus, Jesus wird mit Bambusstöcken gegeißelt und ein Taifun kündet vom Tod Jesu am Kreuz. Mit der Zeit wurde das Erbe der Missionare der religiösen Umwelt der Verborgenen Christen immer mehr angepasst und es entstand ein einzigartiges Amalgam religiöser Motive und Narrative. Die Vermischung unterschiedlicher religiöser Traditionen geht bei einigen dieser Gemeinschaften sogar so weit, dass Christus und Maria gemeinsam mit einem Märtyrer, einem vergöttlichten Lokalfürsten und dem shintoistischen Feuergott Kagutsuchi verehrt werden.
einzigartiges Amalgam religiöser Motive und Narrative
Auch heuten noch leben diese Christ*innen in einigen kleinen Dörfern auf Kyushu. Und bloß durch persönliche Vermittlung ist es möglich, in Kontakt mit ihnen zu treten, denn die Verborgenheit ist ihnen mit der Zeit zu einer Art zweiter Natur geworden. Allerdings bedeutet ihre Fixierung auf die Dorfgemeinschaft und die Familie, dass sich die Gemeinden rasch auflösen – zieht es doch die jungen Japaner*innen in die großen Ballungszentren des Landes. Es ist also bloß noch eine Frage der Zeit, bis diese Form nicht-europäischen Christentums aufhören wird zu existieren.
Um die vielfältigen theologischen Herausforderungen im Umfeld einer säkularen Welt und einer veränderten Diskurslandschaft bewältigen zu können, muss das Rad nicht neu erfunden: Das Ringen um die Bewahrung der unveräußerlichen Kernbestände des Christentums (was auch immer dazu zählen mag) in Auseinandersetzung mit einer als fremd empfundenen Umwelt ist nicht bloß ein vertrautes Thema der Missionsgeschichte, sondern aller nicht-europäischen Formen des Christentums. Eine Beschäftigung mit ihnen hilft im Zuge heute notwendiger Veränderungs- und Anpassungsprozesse in Europa und Nordamerika – wo die Kirche(n) noch vor wenigen Jahrzehnten wie selbstverständlich Deutungsmacht in allen Bereichen des privaten wie öffentlichen Lebens beanspruchen konnte(n) –, andernorts gemachte Fehler nicht zu wiederholen und von erfolgreichen Strategien zu lernen. Dazu täte die deutschsprachige Theologie gut daran, ihre eurozentristische Enge schrittweise hinter sich zu lassen.
Autor: Dr. phil. Jan Levin Propach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Dogmatik und Ökumenische Theologie der LMU München, am Lehrstuhl für Philosophische Grundfragen der Theologie der Universität Regensburg und Visiting Research Fellow an der Waseda University Tokyo.
Beitragsbild: Darstellung Marias als Bodhisattva Kannon, wiki commons
[1] Der wohl, dank Martin Scorseses Film Silence (2016), berühmteste Fall ist der des Superiors der japanischen Mission und Provinzials Christóvão Ferreira SJ (1580–1650), der 1633 gemartert wurde und schließlich dem Glauben abschwor.
[2] Diese Anzahl ist in der Größenordnung mit der Zahl der frühen Martyrien im Römischen Reich vergleichbar.
[3] Mein Dank gilt der Oliveira Lima Library für die großzügige Erlaubnis, diese Stiche veröffentlichen zu dürfen.
[4] Die Sammlung wurde 1931 vom japanischen Soziologen Tagita Kōya verschriftlicht und kompiliert. Sie existiert in deutscher Übersetzung bei Bohner, A., Tenchi Hajimari no Koto. Wie Himmel und Erde entstanden, in: Monumenta Nipponica 1 (1938), 465–514 und in englischer Übersetzung bei Whelan, Ch., The Beginning of Heaven and Earth. The Sacred Book of Japan’s Hidden Christians, Honolulu 1996.