Was sind die Quellen einer gelingenden „Evangelisierung“ der Kirche? Von anderen kann man lernen, das steht fest. Aber manchmal liegt das Gute so nah. Stefan Klöckner wirft einen wertschätzenden Blick auf die lange Tradition der Kirchenmusik für und von Kindern.
Bischof Stefan Oster, stellvertretender Vorsitzender der Jugendkommission der deutschen Bischöfe, reiste jüngst nach Amerika, um sich dort die Bemühungen um die Evangelisierung von Jugendlichen anzuschauen. In einem Interview mit Radio Horeb sprach Oster von seinen Erwartungen: „Meines Erachtens ist die Jugendarbeit in den USA deutlich anders aufgestellt als bei uns. Wir haben ja ganz stark unsere Jugendverbände […]. In Amerika gibt es das in der Weise aus meiner Kenntnis nicht mehr. […] Es gibt viele andere Initiativen, die sich dann zu Bewegungen zusammenfinden, und die erreichen schon junge Menschen. […] Denn da passiert einiges, und zwar was anderes oder vielleicht auch mehr als bei uns.“[i] Offensichtlich recht enthusiastisch kam der Bischof wieder nach Deutschland zurück – voll von positiven Erfahrungen und Eindrücken. Das kann natürlich auch daran liegen, dass er dort vorfand, was er wohl gezielt vorzufinden hoffte: „Eine selbstverständliche Voraussetzung für die Fruchtbarkeit der Evangelisierungs-Initiativen, die wir kennengelernt haben, ist die Treue zum Lehramt.“[ii] Und noch ein anderes Narrativ durfte natürlich nicht fehlen – das von der staatlich an die Kirchensteuer gefesselten reichen, aber geistlich unfruchtbaren deutschen Kirche, zu der die amerikanische das erwünschte Gegenbild bietet: „Weil Kirche und Staat in den USA viel weniger miteinander verschränkt sind als bei uns, gibt es dort viel mehr private Initiativen von intensivem gläubigem Leben, gestützt durch Spenden und Fundraising.“[iii] Ob der Bischof wohl einen Moment darüber nachgedacht hat, dass der alte Satz „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ nicht nur für kirchensteuerfinanzierte Institutionen, sondern auch für die erwähnten lehramtstreuen privaten Initiativen gelten kann?
Man wird nachdenklich
Aus dem Kontext des „Synodalen Weges“ ist man es ja gewohnt, dass die aktiven Kräfte von den Kritikern der Reformbewegung als Funktionäre diskreditiert werden, die nach Art eines Politbüros agieren – mit einer von Verbänden gepushten häretischen Agenda, die nichts anderes verfolgt als die Destruktion lehramtlicher Aussagen. Nun ist die Skepsis gegenüber dem deutschen Verbandskatholizismus, der in vielem noch das Gesicht des 19. Jahrhunderts trägt, nicht ganz unberechtigt. Sie taugt aber nicht zum generalisierten Vom-Tisch-Wischen im Sinne eines Das kann alles weg! Woanders läuft es ohne besser! „Obwohl sich dort die Gesellschaft ähnlich säkularisiert wie die unsere, gibt es einen tiefen religiösen Impetus im Land […]“[iv] – das ließe sich mit sehr gutem Grund auch von der deutschen katholischen Kirche sagen, deren religiöser Impetus zugegeben derzeit sehr unbequem für manchen Oberhirten ist! Wer gegen deutsche Verbände die amerikanischen Bewegungen in Position bringen will, dem scheint zu entgehen, wie viel sich in manchen Verbänden bewegt hat – und wie viel die Verbände bewegen!
Kirchenmusikalische Nachwuchsarbeit
So gibt es da ein Pfund, mit dem zu wuchern der katholischen Kirche in Deutschland grade jetzt gut bekommen würde. Seit den 1990er Jahren hat die Bedeutung der musikalischen Nachwuchsarbeit als Teil der Pastoral in hohem Maße zugenommen. Nicht nur, dass die deutschen Bischöfe in ihren „Leitlinien zur Erneuerung des kirchenmusikalischen Berufsbildes (1991)“[v] die Bedeutung der musikalischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen für Katechese und Seelsorge besonders herausstellten: Viele Initiativen und auch die Anpassung der kirchenmusikalischen Ausbildungen sorgten dafür, dass die Zahl der Kinder- und Jugendchöre (ganz gegen den Trend bei den Erwachsenenchören) seitdem deutlich anwuchs.
Die Chancen dieser Arbeit liegen auf der Hand und sind eigentlich schon oft thematisiert worden:
- Singende Kinder und Jugendliche wachsen in konkrete Gemeinden hinein (zumindest so lange diese noch als solche existieren).
- Durch das Singen und Erschließen geistlicher Musik und das Mitfeiern der Gottesdienste geschieht eine nachhaltige „Katechese en passant“. Wenn die Predigt dann noch gut ist, kann die Liturgie sogar zu einem Lernort des Glaubens werden!
- Gemeinsames Singen schult die emotionale Intelligenz und die soziale Kompetenz von Kindern und Heranwachsenden – ein Sachverhalt, den Musikpädagogen in den letzten Jahrzehnten vielfach herausgearbeitet haben.
- Kinder, die im Gottesdienst singen, bringen ihre Familien mit! Der Autor dieser Zeilen konnte in jahrzehntelanger gottesdienstlicher Praxis beobachten, dass die Kirche immer deutlich besser (und vor allem mit jüngeren Erwachsenen) gefüllt war, wenn ein Kinder- oder Jugendchor sang. So könnte man Kontakt zu eben jener Altersgruppe knüpfen, die ansonsten für die seelsorgliche Arbeit fast flächendeckend verloren gegangen ist.
Die „Pueri Cantores“ in Deutschland
Die kirchenmusikalische Nachwuchsarbeit war lange Zeit auf Knabenchöre fokussiert und hatte sich bereits früh weltkirchlich aufgestellt. Inzwischen hat sich das Feld der Akteure geweitet. Knaben- und Mädchen- sowie gemischte Chöre allen Alters treffen sich regelmäßig zum gemeinsamen Singen in den Gottesdiensten ihrer Gemeinden, aber auch zum internationalen Austausch: „Welch eine Treue zur Kirche – welch eine Brücke zur Weltkirche – welch ein Zeichen wahrhafter Katholizität!“ – das möchte man vor allen denjenigen zurufen, die das einem deutschen katholischen Jugendverband nicht zutrauen.
„Pueri Cantores“ in Deutschland besteht aus fast 490 Chorgruppen mit beinahe 20.000 Mitgliedern. Präsidentin ist derzeit die Limburger Domchordirektorin Judith Kunz. Ihr ist es (so äußert sie es in einem persönlichen Gespräch) ein Anliegen, dass besonders in Zeiten rückläufiger Ressourcen die pastoralen Neuorientierungen auch unter Beteiligung der kirchenmusikalischen Jugendarbeit stattfinden: „Es muss so etwas her wie ein `Runder Tisch Pastoral´, damit auch die Chancen gewürdigt werden können, die durch die Kirchenmusik immer noch gegeben sind!“
Ist aber auch der Wille hierzu vorhanden? Sind diese Chancen überhaupt im Blick der Verantwortlichen? Ist es nicht bezeichnend, wenn hohe Prälaten auf der einen Seite viel Geld für „Popkantoren“ ausgeben wollen („damit endlich etwas für die Jugendlichen geschieht!“), aber andererseits keine Ahnung haben, wie viele Kinder- und Jugendchöre es in ihrem Bistum seit Jahrzehnten bereits gibt und welches reichhaltige und auch jugendgemäße Repertoire sie singen? Die aktuelle Frustration besonders bei den neben- und ehrenamtlichen Kräften bringt auch Judith Kunz zur Sprache: Noch seien viele da, die sich einbinden ließen – aber neben Corona und der Missbrauchskrise (für eine Arbeit mit Kindern ein immens belastender Faktor) ist es das zunehmende Gefühl mangelnder Wertschätzung, das sich wie Mehltau auf die Gemüter legt. Und wer einmal weg ist, den gewinnt man nicht mehr wieder …
Verpasste Chance
Am 22./23. Oktober fand in Altötting (Diözese Passau) ein Treffen bayrischer Kinder- und Jugendchöre der „Pueri Cantores“ statt. Der zuständige Ortsbischof heißt Stefan Oster; er sagte seine zunächst zugesicherte Teilnahme samt Feier eines Gottesdienstes wieder ab, eben um nach Amerika zu fliegen und sich dort Anregungen für die Evangelisierung von Jugendlichen zu holen. In Altötting hätte er zur gleichen Zeit über 600 Kindern und Jugendlichen[vi] begegnen können, die musikalisch ihren Glauben tiefer kennen lernen, ihn leben, bekennen und feiern und möglicherweise so als lebendige Glaubenszeugen der Zukunft aufwachsen: eine „Jüngerschaftsschule“[vii] sui generis! Um dieses Kapital für die Gegenwart und die Zukunft unserer Kirche wertschätzend zur Kenntnis zu nehmen, hätte der Bischof kein Flugzeug besteigen müssen …
[i] https://www.vaticannews.va/de/kirche/news/2022-10/deutschland-usa-bischof-oster-reise-evangelisierung-jugend.html?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=NewsletterVN-DE
[ii] https://www.katholisch.de/artikel/41704-bischof-oster-amerikaner-sprechen-viel-freier-von-ihrem-glauben
[iii] Ebd.
[iv] Ebd.
[v] https://www.acv-deutschland.de/media/pdf/9a/58/4a/kirchenmusikalischendienste.pdf
[vi] https://www.bistum-passau.de/artikel/pueri-cantores-kinderchortreffen-2022
[vii] https://www.katholisch.de/artikel/30765-bischof-oster-errichtet-juengerschaftsschule-fuer-junge-leute
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Professor Dr. theol. Stefan Klöckner lehrt Gregorianik und Geschichte der Kirchenmusik an der Folkwang Universität der Künste in Essen.
Bild: Dieter Schütz – pixelio.de