Die beeindruckende Aufführung von Karl Jenkins‘ Friedensmesse „The Armed Man“ mit dem Klangkunstchor Iffeldorf war Anlass für das Gespräch mit der Intendantin, Dirigentin, Sängerin und Gesangspädagogin Andrea Fessmann.
Birgit Hoyer: Der große Chor, die Solistinnen und Solisten, die gesamte Inszenierung von Jenkins‘ Friedensmesse in der Münchner Isarphilharmonie hallen immer noch in mir nach. Durch die Schreckensbilder des Krieges gegen die Ukraine, der militärischen Drohgebärden Chinas und des Elends der in den weltweiten Katastrophen fliehenden und sterbenden Menschen ziehen diese Töne, diese Stimmen Fäden der Hoffnung. Musik, das war hörbar, mit allen Sinnen spürbar, ist Gemeinschaft, ist Frieden. Musik, Kunst lässt über das Bestehende hinaus denken und fühlen.
Andrea Fessmann: Kunst und insbesondere Musik als spiritueller Auftrag, vielleicht etwas hochgegriffen, aber vielleicht gerade in Zeiten, wo wieder überall nur über Krieg, Aufrüstung, Hungersnöte, Pandemien und Wirtschaftskrisen gesprochen wird, ein unbedingt nötiger Aspekt!
Fürchtet euch nicht!
„Fürchtet euch nicht!“ die Engel stellen sich immer mit diesem Satz vor. Habt KEINE Angst, heißt das. Sie warnen nicht vor diesem oder jenem. Wer singt, hat keine Angst (singen hilft, nicht nur in dunklen Kellern), wer musiziert, musiziert aus ganzem Herzen. So sollte es zumindest sein. Dann hat man keine Angst, denn man ist mit Atmen beschäftigt, mit Hören, mit Zu-hören, mit Aufeinander-hören. Man atmet gemeinsam. Man klingt gemeinsam. Man sucht gemeinsame Vokalfarben. Man übt, gemeinsam Konsonanten abzusprechen. Dazu braucht es Gemeinschaft, Bereitschaft zum Miteinander, (Herz-) Offenheit. Kaum ein Beruf – oder Hobby, denn der Chor besteht ja nur aus Laien – erfordert ein höheres Maß an Achtsamkeit.
Was ich mit dem Chor übe sind natürlich richtige Noten, klarer Rhythmus und eine saubere Intonation. Klar, das ist meine technische Arbeit als Chorleiterin. Aber darüber hinaus üben wir Empathie, Sympathie, Herzlichkeit, Emotionen ausdrücken, Fühlen, Gemeinschaft, Gnade, Vergebung – gut, gelingt nicht immer, „… ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn…“, wir arbeiten immer an unseren höchsten Möglichkeiten! Be-Geisterung ist in meinen Augen die Grundlage für alles, was wir tun. Das Musizieren im Besonderen. „Was immer du tust, tu es mit ganzem Herzen!“ Alles andere ist blutleer, hohl, dauermezzoforte, unlebendig…
Birgit Hoyer: Sie beschreiben Ihr Tun, das Geschehen im gemeinsamen Musizieren mit religiösen Begriffen – Gemeinschaft, Gnade, Vergebung, mindestens die existentielle Sehnsucht danach, das war erlebbar in Jenkins‘ „The Armed Man“ und das macht das nachhaltige Faszinosum im Tremendum der Friedensmesse aus. Es ist eine inter-, und überreligiöse Komposition, die Karl Jenkins da geschaffen hat. Sie haben sie in Ihrer minimalistischen wie überwältigenden Inszenierung zu einem säkular-sakralen Gottesdienst werden lassen, dem es ohne Priester nicht an Priesterinnen und Priestern mangelte. Künstler:innen und Hörer:innen waren hineingenommen, hatten teil und waren beteiligt an der Erfahrung von – den Alltag, politische Ränkespiele – übersteigender und erhebender Kunst, von Transzendenz.
Andrea Fessmann: Karl Jenkins hat es verstanden, in seiner Komposition das Fühlen der Menschen zu erreichen. Schon die Auswahl der Texte zeigt: hier geht es um eine Öffnung der Kulturen, der Religionen und Glaubensgemeinschaften. Hier geht es um gemeinsames Erleben, nicht um Ausgrenzung. Ein Muezzin in einer christlichen Messe, wenn das gehen soll, brauchen alle Toleranz. Hinduistische Texte dann noch dazu: aber ach, die sind ja höchst zeitgemäß, das spricht mir aus der Seele. Uns allen. Menschen wie brennende Fackeln, spielt es da noch eine Rolle, welcher Religion man angehört? Wenn man so etwas sieht, spielt nur noch Menschlichkeit eine Rolle.
Schmerz ist überreligiös.
Der Schmerz ist überreligiös. Das Erleben einer Mutter, die ihr Kind verliert, ist maßlos. Das spürt in dieser Musik jede/r. Und die Vorstellung, nach einem Atomkrieg allein übrig zu bleiben und die Zerstörung zu sehen, ist fast nicht auszuhalten. Und in diese Stimmung kommt die wunderschöne, fast sphärische Musik des „Agnus Dei“. Denkt dabei noch jemand an die Bedeutung des Textes? Oder ist man nur froh, dass man getröstet wird?
Und wieder reißt uns Karl Jenkins mit in die Realität. Die Glocken läuten und wie mit indianischen Trommeln wird das Gute hereinbeschworen und das Böse hinaus. „Better is PEACE than always war!!!“ Alle Musiker/innen wissen: genau DAS ist es, was ich möchte. Jetzt. Immer. Jede/r gibt sich bedingungslos und ganz hinein in die Musik. Und am Ende heißt es dann nur ganz schlicht: „God shall wipe away all tears“. Ja. Ho! Amen! So might it be!
Birgit Hoyer: Ja, genau das ist es. Das macht die Größe der Messe und die spürbare Begeisterung – im doppelten Wortsinn – der Sänger:innen aus. Sie sind mit einem – vielleicht heiligen Geist – erfüllt und erfüllen die Hörer:innen mit Geist. Wodurch entsteht diese Energie, dieses Erfülltsein?
Andrea Fessmann: Schön, wenn es so ankommt! Wir versuchen immer, mit ganzem Herzen zu musizieren und die Menschen zu erreichen. Das Erfülltsein ist ein Kreislauf, der sich immer weiter ausweitet: von der Musik zu den Musizierenden, von den Musizierenden zum Publikum, vom Publikum wieder zurück auf die Bühne, wieder zu den Musizierenden – die dadurch mit noch mehr Leidenschaft und Hingabe in die Musik gehen… Das Ganze schaukelt sich hoch. Am Ende ist es ein Geschenk für alle und ein unbeschreibbares Erlebnis. Aber im Vorfeld ist es harte Arbeit, denn seine eigene Berührtheit und Begeisterung zu zeigen, erfordert viel Mut. Auch, etwas wirklich aus Liebe zu tun und dazuzustehen, ist nicht selbstverständlich. Musik ohne Liebe geht nicht. Finde ich.
Lauwarm und mezzoforte auf Dauer berührt nicht.
Das ist Teil der Chorproben. Und es darf (muss) auch gelacht werden. Humor schwimmt auf der selben Welle. Völlig gleich, ob man eine Messe einstudiert, die „Carmina Burana“ oder Bachs „Weihnachtsoratorium“. Wir geben immer ALLES. Und ich muss gestehen: Ich fordere auch immer ALLES. Vorher bin ich nicht zufrieden. Lauwarm und mezzoforte auf Dauer berührt nicht. Es macht nichts mit uns. Jede/r im Chor oder im Orchester spürt, wenn plötzlich ein Ruck durch die Gruppe geht und die Musik wirklich Kraft bekommt. Noten lesen ist das Eine, Musizieren etwas ganz Anderes. Das spüren die Menschen und machen mit.
Musik ist eine Sucht, Gott sei Dank… Man spürt sich selber dabei, nimmt seine eigene Kraft wahr, erlebt, wozu man imstande ist, was man vielleicht nie geahnt hätte, geht auf in der Musik, verschmilzt mit den Anderen. Es geht ja nur gemeinsam, Egoismus ist hier nicht möglich.
Birgit Hoyer: Wie begeistern Sie soviele Menschen fürs Singen? Und wie kommen Sie zur Überzeugung, dass jede/r (mit-)singen kann? Wirklich jede/r?
Andrea Fessmann: In meinem Iffeldorfer KlangKunst Chor darf jede/r mitsingen und jede/r diese Erfahrung machen. Wer sprechen kann, kann auch singen. Dahinter stehe ich. Ich ermuntere alle zum Mitsingen. Wenn mir jemand erwidert, er/sie „könne“ nicht singen, frage ich „wer war’s?“. Die Reaktion sind zunächst erstaunte Blicke über die Bedeutung dieser Frage, dann wird aber schnell klar: mein Lehrer hat gesagt…, mein Vater meinte…, meine Mitschüler haben gelacht… Fast alle haben eine Antwort. Danach wurde aus Scham das Singen eingestellt. Oft für Jahrzehnte. Traurig.
Und ja: es gibt Menschen, die keinen Ton treffen. Aber meist, weil sie nicht gewohnt sind zu hören. Stimmbänder sind Muskeln. Die kann man trainieren, wie Joggen. Ohren sind schulbar, tut man nur meisten nicht, weil man nicht weiß, wie. Und für manche ist es harte Arbeit. Ja. Aber es ist möglich. Und wenn es wirklich im Chor jemanden gibt, der/die sich absolut schwertut, gibt es ein Geheimnis zwischen mir und der Person, das heißt „Fischgesang“ an prekären Stellen.
Birgit Hoyer: Wie sind Sie zu diesen Einsichten gekommen? Wie ist das, was ich erleben durfte, geworden, wie sind Sie die geworden, die Sie heute sind?
Andrea Fessmann: Wie bin ich das geworden, was ich bin? Lange Geschichte…, die wahrscheinlich jeden Tag völlig anders klingt, weil ich einen anderen Aspekt betrachte. Eines bleibt immer gleich: ich liebe, was ich tue. Und ich bin zutiefst dankbar, dass ich tun kann, was ich liebe. Als Jugendliche wollte ich Pfarrerin werden, wollte aber nicht auf die Musik und die Liturgie der Katholischen Kirche verzichten. Dann habe ich mich auf die Musik fokussiert und mehr in der Evangelischen Kirche musiziert, denn da gab es Johann Sebastian Bach. Oft wurde mir aber zu viel geredet, daher wollte ich Buddhistin werden, am liebsten im Kloster oder als Einsiedlerin, habe es aber nur bis zur Schamanin und Hexe geschafft. Das wiederum hat Irritation in meinem Umfeld ausgelöst, so dass ich beschlossen habe, ich selbst zu sein.
Alles, was ich tue, ist für mich Gottes-Dienst.
Ich beschäftige mich viel mit Mystik und alles, was ich tue, ist für mich Gottes-Dienst. „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, – und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Dieses Zitat von Reinhold Niebuhr begleitet mich seit langem. Ich versuche, mich in Richtung meiner höchsten Möglichkeiten zu bewegen, mit höchstmöglicher Leichtigkeit. Ich versuche, einen klaren Geist zu behalten und die Fähigkeit zu behalten, selber zu denken… und zu lieben, was ich tue. Dafür bin ich sehr dankbar.
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„Weihnachtsoratorium in Jazz“ am 12.12.2022 um 20 Uhr im Prinzregententheater München, Karten unter www.klangkunst-im-pfaffenwinkel.de ab Mitte September.
Andrea Fessmann studierte Gesang an der Hochschule für Musik in München, verschiedenen Meisterkurse, Ausbildung im Italienischen „Bel Canto“ bei Johannes R. Libal in Wien. Neben einer regen solistischen Konzerttätigkeit, vor allem in den Bereichen Oratorium, Lied und Neue Musik, ist sie Mitglied im Konzertchor des Bayerischen Rundfunks. Mit dem Trio „Laetare“ (Gesang, KlangSteine und Hackbrett) konzertiert sie international. Als Dirigentin leitet sie seit 1986 eigene Ensembles. Darüber hinaus ist Andrea Fessmann diplomierte Gesangspädagogin, Stimmbildnerin und Lehrbeauftragte für Alexandertechnik an der Hochschule für Musik und Theater München. Seit 2011 ist sie Intendantin der Iffeldorfer Meisterkonzerte.
Titelbild: Lea Letzing; Portrait: Ralf Gerard.