Viele sehen in der Corona-Krise Veränderungspotential für alle Bereichen des Lebens – auch in der Kirche. Martin Stewen meldet hier seine Zweifel an: Die Menschen wollen nicht Veränderung, sondern wieder Normalität. Schnell bitte.
Bloss keine Schieflagen
Der Begriff der Homöostase1 beschreibt ein Konzept, nach dem offene und dynamische Systeme danach drängen, in einen Zustand des Gleichgewichts, der Ausgeglichenheit zu kommen. Festgemacht wurde dieses Prinzip zunächst einmal an physischen Organismen. So versucht der menschliche Körper, bei wechselnden Belastungen und sich verändernden Lebenssituationen seinen Bedürfnissen gerecht zu werden und möglichst ausgeglichen zu bleiben. Wenn wir normal leben, haben wir irgendwann Hunger, wenn wir uns stärker belasten, meldet sich der Bauch schneller: Also muss man essen und trinken. Und gehen wir nicht darauf ein, kommt es zu Abbau und schlimmstenfalls zu Mangelerscheinungen. Bekommt der Körper mehr, als er braucht, ist auch das auf Dauer nicht gesund.
Dieses Prinzip der Homöostase funktioniert aber nicht nur im menschlichen Körper, sondern auch in psychischen Zuständen. Entgegenstehende Emotionen zum Beispiel oder gar widersprechende psychische Zustände müssen vom Menschen in der Balance gehalten werden. Meistens tun wir das aus einem Reflex heraus. Geht es uns nicht gut, suchen wir nach Abhilfe und nach Situationen oder Menschen, die uns guttun, um wieder ausgeglichen zu werden. «Was tust du zum Ausgleich?» ist eine der bekannten Fragen, die Personalchef*innen Mitarbeiter*innen stellen, um sicher zu sein, dass der- oder diejenige mit den eigenen psychischen und physischen Ressourcen pfleglich umgeht und ausgeglichen daherkommt. Wer sich im Job immer nur ohne Erholung belastet, ist ein/e Burnout-Kandidat/in.
Die Bewegung hin zum Ausgleich gibt es auch in sozialen Konstellationen. Wo immer Menschen zusammen sind, lässt sich beobachten, dass die meisten Mitglieder eines solchen Systems darum bemüht sind, eine Ausgeglichenheit untereinander herzustellen, die mit Frieden, Ruhe oder etwas indifferent mit Normalität beschrieben werden kann. Wird diese Normalität beständig gestört, werden die Mitglieder des Systems versuchen, diesen heterostatischen Zustand zu überwinden und ihn in einen neuen, andersartigen homöostatischen Zustand zu überführen.
O Gott schenk mir Geduld – aber zackig!
Ganz gleich, in welchen Systemen man sich homöostatische Vorgänge anschaut, kann man feststellen, dass überall eines vorherrscht: Der Weg in die Situation des Gleichgewichts soll grundsätzlich, wenn es irgendwie geht, kurz, schnell und schmerzlos sein. Wenn ich Hunger oder Durst habe, muss zackig etwas zu essen oder zu trinken her oder ich werde ungemütlich. Wenn physische, psychische, soziale oder andere Systeme in ein Ungleichgewicht geraten, wird der Weg zum Gleichgewicht gesucht.
Seit Mitte März diesen Jahres wirft das Corona-Virus unser Leben physisch, psychisch und sozial deutlichst aus dem Gleichgewicht. Das ganz Fiese an diesem Virus ist, dass er unsichtbar geisterhaft unser Leben durcheinanderbringt. Wir wissen nicht, mit wem wir es zu tun haben. Die Bedrohung wird besonders manifest, wenn wir Erkrankte erleben oder etwa die aus Italien verbreiteten Bilder von Leichenwagen-Kolonnen sehen. Das macht zurecht grosse Angst. Diese Angst stresst immens, weil der Virus eben so ein diffuser Feind ist, dem man nichts entgegenhalten kann. Wir können nicht aus eigener Kraft und mit eigenem Aufwand in den Zustand der Ausgeglichenheit zurück. Wir müssen ohnmächtig darauf warten, dass Institutionen wie Gesundheitsbehörden und Forschungseinrichtungen uns wissen lassen, dass das Leben wieder ‘normaler’ und für die Gesundheit sicherer ist. Mitten da drin gibt es dann auch noch jene – auch in kirchlichen Kreisen -, die sich selbst und ihre Umwelt mit Hinweisen auf Verschwörungstheorien und Fake-News betrügen, was helfen soll, die eigene Angst abzutun und die Verantwortung für diese Angst anderen in die Schuhe zu schieben.
Der Beitrag der Kirchen zur Normalität.
Aber gerade auch die Kirchen haben vor allem via Social Media in hohem Mass dazu beigetragen, diese Angst vor der Unsicherheit und Unnormalität nicht abzutun und wegzudrücken, sondern wahrzunehmen, ihr zu begegnen und sie zu verarbeiten. Gestreamte Gottesdienste und andere virtuelle Veranstaltungen geben Menschen im Lockdown daheim ein kleines bisschen das Gefühl von «wie immer», was mitten in Angst und Sorge für Entspannung sorgt. Seelsorgerinnen und Seelsorger sind, wo es möglich ist, mit einem Höchstmass an Fingerspitzengefühl dabei, katholische – allumfassende – Kirche in Form von Gesprächsangeboten aus den Pfarrhäusern oder als gestreamte Gottesdienste aus dem Kirchbau in die Häuser der Menschen zu «tragen». Das ist wohl bei weitem kein Normalzustand, aber ein Versuch, der Angst vor dem totalen Kontrollverlust zu begegnen. Das Defizitäre, allem voran der Mangel an echten zwischenmenschlichen Kontakten, bleibt dabei allerdings immer stark spürbar.
Diese aus der Not geborenen Annäherungen an ein bisschen Normalität haben auch kritische Stimmen in verschiedenen Tonlagen laut werden lassen. Katholischerseits waren da etwa jene, die angesichts von Gottesdiensten, die der Priester allein ohne physisch anwesende Gemeinde feiert, den Untergang der Errungenschaften des II. Vatikanums sahen. Gerade am Tag nach dem Lockdown in Deutschland veröffentlichten die Liturgiker Gerhards, Kranemann und Winter unter dem Titel „Privatmessen passen nicht zum heutigen Verständnis von Eucharistie“2 ihre Befürchtung, nun falle man mit Messen ohne Volk – „Geistermessen“ – zurück in vorvatikanische Zustände.
Ohne Volk? Der Widerspruch zusammen mit Hinweisen auf Beispiele geglückter Social Media Gottesdienste, bei denen Gemeinde virtuell sehr wohl zugegen ist, war heftig. Aber der Einwurf der drei Liturgiker stösst noch aus einem ganz anderen Grund auf. Das Thema des Artikels sind nicht zuerst die liturgischen Lösungen im Kontext der Krise. Es geht dort vielmehr um grundsätzlich liturgisch problematische Situationen. Nur: Solche Diskussionen kann man nicht jetzt in der Ausnahmesituation führen, in der jede/r, so schnell es geht, die Bedrohung überwinden und zurück zur Normalität will. Die Thematik der drei Liturgiker ist alt, sie jetzt in der Krise aufzukochen, ist auch gegenüber all jenen, die gerade versuchen, das Schiff der Kirche irgendwie heil durch die Krise zurück zur Normalität zu steuern, nicht ganz fair. Jede/r in Verantwortung macht doch jetzt vor allem das, was die Krise zu überleben hilft, und jede/r macht das genau mit den Mitteln, mit denen er/sie vor der Pandemie auch schon gearbeitet hat.
Corona: keine Zeit, um liturgische Änderungen zu diskutieren.
Wer Liturgie zuerst als partzipativ-dialogisches Geschehen versteht, tut alles, um Partizipation auch jetzt in der Krise zu ermöglichen (eben z.B. via Streaming). Wer auf diesen Charakter der Liturgie nicht so großen Wert legt, wird ganz locker während der Krise die Messe ohne Volk feiern. Diese Priester haben das aber auch schon vorher getan. Phänomenologisch mögen die Gottesdienstformen vielleicht derzeit anders daherkommen, bedeutungstheoretisch hat sich aber nichts getan. Diese Bedeutungen der verschiedenen liturgischen Formen kann und muss man diskutieren, aber nicht jetzt. An dem Aufkochen zum falschen Zeitpunkt beteiligt sich übrigens auch der Dogmatiker Helmut Hoping, der in seiner Replik gegen Gerhards/Kranemann/Winter hält, dass es Privatmessen gar nicht gibt, weil liturgisches Handeln immer Handeln der Kirche ist.3 Fraglos werden wir hier Zeug/innen einer wichtigen Diskussion, aber: Eine Rede zur falschen Zeit ist wie Musik in der Trauer (vgl. Sir 22,6). Liturgiepraktiker/innen wie Seelsorger/innen brauchen derzeit zu allererst eines: Unterstützung, Ermutigung.
Der Freiburger Moraltheologe Bogner verbindet seine Kritik an den Gottesdiensten ohne physisch anwesende Gemeinde noch mit einem Ausdruck der Hoffnung, der aufhorchen lässt. Im Radiobeitrag „Ein Priester allein macht noch keine Kirche“4 bemerkt er, dass feste (liturgische) Formate nun vor allem hinsichtlich der Rollenverteilung in diesen Feiern durcheinandergeraten sind und davon nach der Krise etwas bleiben soll. Gläubige in den Gemeinden, die jetzt besondere (liturgische) Verantwortung übernommen und Kreativität für Lösungen in der Krise entwickelt haben, müssen auch nach der Krise in dieser Form so weitertun. Das, was jetzt passiert, so Bogner, soll das Selbstbewusstsein der Gläubigen formen und die Zukunft der Kirche bestimmen.
Ein Virus macht noch keine neue Welt.
Bogner ist mit diesem Aufruf, mit dieser Art von Idee, nicht allein. Auch ausserhalb der Kirche hört man immer wieder die mit einer gewissen Hoffnung verbundene Frage: Wie verändert Corona die Welt nachhaltig? Und mittendrin dann die Kirche? Ich wage die pessimistische Antwort: So gut wie gar nicht. Jedes Gespräch, das ich mit Menschen in der Gemeinde oder im privaten Umfeld geführt habe, ließ als persönliche Quintessenz und Hoffnung durchscheinen: Hoffentlich ist der Spuk bald vorbei, damit wir wieder zurück zur Normalität können. In keinem Gespräch schien auf, was der oder die Andere nach Corona in seinem Leben grundlegend anders machen will.
Nur bloss schnell wieder zurück zur Normalität. Diese Normalität, das ist das, was immer schon war – vor Corona und als durch die Krise tragende Hoffnung während Corona. Für den Wandel fehlt die Kraft, weil sie durch die Angst gelähmt wird. Schauen wir hin, lässt sich dasselbe wie bei Priestern und anderen Berufskatholik/innen auch bei den Gläubigen bemerken: Gläubige, die jetzt gerade versuchen, auf irgendwelchen Wegen an traditionellen Gottesdienstangeboten teilzunehmen, haben vielleicht zuvor das Internet nie benutzt, aber sicherlich an solchen Gottesdiensten teilgenommen. Und sie sind nun dankbar, dass Social Media ihnen den notwendigen Ersatz bieten, bis sie bald dann wieder auf einfachere und auf gewohnte Weise Gottesdienst feiern können. Gläubige, die heute Glaubensleben für sich und in der Gemeinde alternativ gestalten, haben das auch vor Corona schon so gemacht und werden es nachher weiter so handhaben.
Die Heterostase muss nicht unbedingt ein Zustand des totalen Unglücks sein, der schnellst zu überwinden ist. Vielleicht wird es hier und da Einzelne geben, die die Krise als Chance erkennen und ihr Leben auf den Kopf stellen, weil ihre Kraft nicht gelähmt wurde. Die Mehrheit der Menschen aber wird schnellstmöglich zu dem zurück wollen, was Normalität, Frieden, Ruhe und Sicherheit ohne noch mehr Risiken bietet. Dieser Zustand der Heterostase, diese Unausgeglichenheit in der Krise, diese Unnormalität wird jetzt weitestgehend nicht als grosse Chance, sondern eben als unglaubliche Bedrohung für Leib und Leben wahrgenommen, die jede und jeder nur so schnell es geht loswerden will. Und so sind alle intensivst damit beschäftigt, mit dieser Gefahr fertigzuwerden, und Kraft zur Veränderung bleibt keine mehr. Das ist wohl jammerschade, aber realistisch und zutiefst menschlich.
Wer Veränderung will, darf nicht auf Viren setzen, darf die Verantwortung nicht an einen Virus delegieren – auch nicht in der Kirche. Wer Veränderung will, muss aufstehen. Neues entsteht nicht durch einen Virus, sondern durch Menschen, die bereit sind, (sich) zu verändern. Und Veränderung geschieht dann nicht wegen, sondern trotz des Virus.
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Text: Dr. theol. Martin Stewen (*1970), 1997-2000 Pastoralassistent, seit 2001 Priester der Diözese Chur, in Zürich tätig, 2015-2020 im Einsatz als Auslandspriester auf der Arabischen Halbinsel, außerdem zertifizierter Supervisor. Im März 2020 erschien im Echter-Verlag sein Buch „Zwischen Kollar und Krawatte. Klerikalismus und (k)ein Ende?“.
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- Art. „Homöostase“, in: Häcker, Hartmut O. / Stapf, Kurt-H.; Dorsch. Psychologisches Wörterbuch, Bern 152009. ↩
- Gerhards, Albert; Kranemann, Benedikt; Winter, Stephan; Privatmessen passen nicht zum heutigen Verständnis von Eucharistie, in: katholisch.de URL: https://www.katholisch.de/artikel/24874-privatmessen-passen-nicht-zum-heutigen-verstaendnis-von-eucharistie. ↩
- Hoping, Helmut; Die Messe ohne Volk ist legitim – nicht nur in der Corona-Krise, in: katholisch.de URL: https://www.katholisch.de/artikel/24892-die-heilige-messe-ist-auch-waehrend-der-corona-pandemie-nowendig. ↩
- Wipfler, Judith; Ein Priester allein macht noch keine Kirche, in Radio SRF 2 Kultur, Perspektiven (3.5. 2020), URL: https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/corona-als-chance-fuer-reformen-ein-priester-allein-macht-noch-keine-kirche. ↩