Moderne und effektive Formen der zentralisierten Leitung identifiziert Annette Jantzen in der Konzeption des römischen Papsttums. Es fand unter Papst Johannes Paul II., der 2020 vor hundert Jahren geboren wurde, seinen Höhepunkt. Im Mai wird der 100. Geburtstag dieses Wendepapstes begangen werden. Damit kann auch das Paradox zwischen Moderne und Antimoderne in seinem Ponfitikat neu in den Blick kommen.
Mit Johannes Paul II. hat das moderne Papsttum seinen Zenit erreicht. Seit Pius IX. – der von Johannes Paul II. seliggesprochen wurde – hat das Papsttum sich rasant entwickelt: Im Abwehrkampf gegen die Moderne nutzte es die Bedingungen der Moderne, insbesondere die Kommunikations- und Transportmöglichkeiten, die eine Einwirkung auch auf geographisch entlegene Gebiete hin ermöglichen, um die Kirche in einer zunehmend zentralistischen Weise zu regieren.
In antimodernem Interesse moderne Instrumente nutzen
Der Anspruch des Papsttums, etwa durch Bischofsernennungen Einfluss auf die Angelegenheiten der Ortskirchen zu nehmen, ist genauso modern wie die globale Gehorsamseinforderung durch Antimodernisten- oder Treueeide. Der universale Machtanspruch des Papsttums kulminiert im Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes, durchgesetzt im monarchisch konzipierten Ersten Vatikanischen Konzil.
Alle drei Elemente – Globalisierung, Zentralisierung und Anspruch auf inhaltliche Definitionsgewalt – erreichen im Pontifikat Johannes Paul II. (1978-2005) ihren bisherigen Höhepunkt.
Globalisierung und Zentralisierung
Mit seinen 104 Auslandsreisen ist Johannes Paul II. medial präsent wie keiner seiner Vorgänger. Mit den Weltjugendtagen kreiert er ein Massenevent, bei dem der Papst gefeiert wird wie ein Popstar. Mit einer schier unüberblickbaren Fülle an apostolischen Schreiben, Enzykliken, Motuproprios, mit Generalaudienzen und Angelus-Ansprachen äußert er sich zu nahezu allen Themen des Glaubens und der Welt.
Mediale Präsenz als Indiz für Zentralismus
Mit der weltweiten medialen Präsenz geht ein umfassender römischer Geltungsanspruch einher: So werden etwa Bischofsernennungen zum Mittel der Durchsetzung der römischen Linie. Der Bischof ist in dieser Konzeption nicht zuerst ein Leiter für die Diözese, der diese „nach oben“ vertritt, sondern Repräsentant des Papstes, der „nach unten“ regiert. Das ist unter Johannes Paul II. keine neue Entwicklung – seit dem Ersten Vatikanischen Konzil kann der Papst ohnehin in jede Diözese direkt hineinregieren – aber eine, die sich in seinem Pontifikat massiv verschärft.
Papstreue wird zu Linientreue
Zudem wird unter Johannes Paul II. das Kriterium der Papsttreue, die sich insbesondere in Linientreue hinsichtlich der katholischen Sexualmoral und Ablehnung der Befreiungstheologie ausdrückt, ein wichtiger Marker für die Entscheidung für oder gegen einen Kandidaten. Hoch umstrittene Bischofsernennungen, die gegen scharfen Protest der Diözesanen durchgesetzt wurden, markieren dabei einen bitter empfundenen Macht- und Herrschaftsanspruch, der die Ortskirchen nachhaltig schädigt. Tiefpunkte sind dabei unter anderem die Ernennungen der Bischöfe Krenn und Groër in Österreich, die beide später in Zusammenhang mit Sexualstraftaten beschuldigt wurden.
Das Ende wissenschaftlicher Freiheit
in der Theologie
Ein anderer Schauplatz der massiven Ausweitung des römischen Geltungsanspruchs während des Pontifikats Johannes Paul II. ist die Änderung der Verfahren, die zur Erteilung eines universitären Lehrauftrags in katholischer Theologie führen: Die dafür nötige Unbedenklichkeitserklärung „Nihil obstat“, „es steht nichts entgegen“, ist, wenn es um die erste Berufung einer Wissenschaftlerin bzw. eines Wissenschaftlers auf Lebenszeit geht, seit 1983 nicht mehr vom Ortsbischof zu erteilen, sondern von der römischen Kongregation für das katholische Bildungswesen. Beklagt werden in der Folge intransparente Verfahren, die Unmöglichkeit eines Einspruchs bei Verweigerung des Nihil obstat und die Fokussierung auf einzelne dogmatische und ethische Detailfragen insbesondere in den Bereichen der Geschlechteranthropologie und der Sexualmoral.
Totalitäre Mechanismen der Einschüchterung
Diese Faktoren ermöglichten ein Klima der Einschüchterung und der Denunziation, das den Dialog zwischen kirchlichem Lehramt und wissenschaftlicher Theologie nachhaltig erschwert und zum Bedeutungsverlust der universitären katholischen Theologie deutlich beigetragen hat.
Anspruch auf inhaltliche Definitionsgewalt
Die bekannteste Entscheidung Papst Johannes Paul II. ist in Bezug auf seine Ausübung des Lehramtes sicher das apostolische Schreiben „ordinatio sacerdotalis“. Darin stellte er 1994 fest, dass die Kirche nicht die Vollmacht habe, Frauen zu Priesterinnen zu weihen und dass sich alle Gläubigen endgültig an diese Entscheidung zu halten hätten. Sekundiert wurde diese Entscheidung, die den Verwerfungen innerhalb der anglikanischen Kirche nach der dortigen Zulassung von Frauen zum Amt folgte, von weiteren Maßnahmen, die die Verbindlichkeit der päpstlichen Äußerungen auch in anderen Fragen erhöhen: Hatte schon das Erste Vatikanische Konzil die Berufung beim Konzil gegen eine außerordentliche päpstliche Lehrentscheidung untersagt, so fundierte der Katechismus der katholischen Kirche von 1992 nochmals die päpstliche Unfehlbarkeit in Glaubens- und Sittenlehre.
Alles ist zu lehren, nicht nur das Unfehlbare
Die neue Formel des Treueeids, der von jedem Weihekandidaten und von Theologielehrenden vor der ersten Übernahme eines katholisch-theologischen Lehrstuhls abzulegen ist, verpflichtet schließlich seit 1998 zur gläubigen Annahme aller Aussagen des Lehramts, auch wenn diese in sich keine Unfehlbarkeit beanspruchen. Dies folgt aus der im gleichen Motu proprio „ad tuendam fidem“ eingeführten neuen Verbindlichkeitsstufe lehramtlicher Aussagen: Es kann nun Lehren geben, die nicht als Gegenstand der Offenbarung vorgelegt werden, aber trotzdem als endgültig anzunehmen seien, weil sie „zur unversehrten Bewahrung und zur getreuen Darlegung des Glaubensgutes erforderlich“ seien (Can. 750 §2). Was nach innerkirchlichen Detailfragen aussieht, folgt einer eigenen Logik, die die gesamte Institution, jedenfalls soweit sie Geltung beanspruchen kann, als ein in sich geschlossenes, selbstreferentielles System aufstellt, das von innen heraus nicht mehr veränderbar ist.
Ein selbstzerstörerischer Schutz
des Systems Kirche
Die Tragik dieses Systems ist, dass es von innen heraus dadurch auch zugleich ausgehöhlt wird, weil immer mehr Systembeteiligte es nicht mehr anzunehmen bereit sind, aber auch keine Instrumente mehr haben, es zu reformieren.
Was bewegte diesen Papst, der diese Widersprüchlichkeit auf die Spitze getrieben und der so massiv auseinandergehende Deutungen seiner Amtsausübung auf sich gezogen hat?
Eine Prägung
in der vorkonziliaren Kirche Polens
Früher Verlust der Mutter, dann des Bruders, mit Anfang 20 schließlich des Vaters, Erfahrung mit der deutschen Invasion und Arbeitseinsatz in einer Chemiefabrik, Untergrund-Priesterseminar, Priesterweihe 1946 – so beginnt seine Biographie als Priester im vorkonziliaren Polen. Ab 1958 Weihbischof war er in Krakau, ab 1964 Leitung der Diözese im sozialistischen Staat, er wurde Teilnehmer am Zweiten Vatikanischen Konzil, 1978 folgte die Wahl zum Papst. Marienfrömmigkeit und die katholisch geprägte polnische Nationalkultur bildeten den Hintergrund seiner Spiritualität, und eine tiefe Skepsis gegenüber den Entwicklungen der Moderne, als deren letzte und schlimmste Folge er die nationalsozialistische Ideologie und den realexistierenden Sozialismus verstand, prägte seine Geschichtsauffassung. Seine philosophische Wahlheimat war die mittelalterliche Scholastik, und er lehnte alle Denkströmungen ab, in der die menschliche Freiheit als Ausgangspunkt der Moral begriffen wird.
Die nachkonziliare Wende zum Subjekt
nicht mitvollzogen
Von hier aus wird seine weltpolitische Agenda verständlich: sowohl sein Anteil am Fall des Eisernen Vorhangs als auch seine Ablehnung der Befreiungstheologie, sowohl sein Eintreten für Religionsfreiheit und seine interreligiöse Initiative für den Frieden als auch seine Ausrichtung auf das Millenium und sein Ziel, die Kirche ins dritte Jahrtausend zu führen. Er folgte damit einer Geschichtstheologie, die die nachkonziliare Wende zum Subjekt nicht wirklich mitvollzogen hat, sondern auf einem theozentrischen Weltbild basiert. Da die Vorsehung hierin Akteurin der Geschichte ist, werden autoritäre Bewegungen keiner fundamentalen Kritik unterzogen, während Bewegungen, die ihren Ausgangspunkt bei individuellen menschlichen Freiheitsrechten haben, per se verdächtig sind.
Moraltheologie als Rigorismus
Ausdrücklich wird dies in der Enzyklika „Veritatis splendor“ von 1993 dargestellt, in der Johannes Paul II. eine auf menschlichen Freiheitsrechten gegründete Moraltheologie zurückwies. Folgerichtig stellte er angesichts der AIDS-Epidemie das Verbot künstlicher Empfängnisverhütung und damit auch des Verbots von Präservativen über die Möglichkeit, mit deren Hilfe die Verbreitung des Virus’ einzudämmen. Ebenso war er bereit, Verstöße gegen die katholische Doktrin strikt zu ahnden wie im Kräftemessen mit den deutschen Bischöfen um die Schwangerschaftskonfliktberatung, in dem er die katholische Kirche in Deutschland zum Ausstieg aus dem staatlichen Hilfe- und Beratungssystem zwang.
Kirche als Verwalterin ewiger Glaubenswahrheiten
Wenn die Kirche Hüterin einer objektiven, unveränderlichen Glaubenswahrheit ist, die ihr in überzeitlicher Form zugänglich ist, dann ist es folgerichtig, dass der von Johannes Paul II. herausgegebene Katechismus der katholischen Kirche diese Glaubenswahrheit gültig zusammenfassen kann. Es ist ebenso folgerichtig, dass während seines Pontifikats die Zahlen der Selig- und Heiligsprechungen in aller Welt geradezu explodierten, oft genug auch gegen deutlichen öffentlichen Widerspruch in den jeweiligen Ortskirchen, weil damit die Geschichtsmächtigkeit Gottes einen Ausdruck finden sollte.
Ein vormodernes Frauenbild
Teil der unveränderlichen Lehre war für Johannes Paul II. die tradierte, von ihm nicht als historisch bedingt wahrgenommene Geschlechteranthropologie. Sein Frauenbild folgte einem vormodernen, essentialistischen Naturbegriff, in dem Annahmen über das „Wesen der Frau“ direkt in normative Rollenerwartungen münden. Dabei sah er sich nicht in der Lage, ein anderes Frauenbild als jenes in der Kirche Raum greifen zu lassen, das Frauen in den Dimensionen Jungfräulichkeit, Bräutlichkeit und Mütterlichkeit beschreibt, weil er dieses Frauenbild als Gottes Plan entsprechend verstand.
Hinter moderner Wirkung ein fundamentalistisches Potential
Das fundamentalistische Potential dieses Wahrheitsanspruchs konnte und kann übersehen werden, gerade weil Papst Johannes Paul II. in seinen öffentlichen Auftritten, seiner Reisetätigkeit und seiner Nutzung der Massenmedien so modern wirkte. Dabei konnte aber das dialogische Potential dieser modernen Medien nicht zum Zuge kommen: Denn von den Gläubigen wird Gehorsam, nicht Freiheit erwartet – im Eigenjargon des Lehramtes unter Johannes Paul II. ist ja gerade der Gehorsam die wahre Freiheit der Gläubigen.
Vom Communio-Begriff des Konzils bleibt die Gemeinschaft mit und unter der Hierarchie
Neben diesen Festschreibungen und Weichenstellungen bleibt wohl am wirksamsten über seine Amtszeit hinaus die Verkündung des neuen Kirchlichen Gesetzbuches von 1983, das nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil dessen authentische Auslegung in kirchliches Recht überführen sollte. Dieses geltende Kirchenrecht beschreibt die vom Konzil entwickelte Communio des Volkes Gottes als communio hierarchica und die kirchliche Gemeinschaft wesentlich als eine Gemeinschaft von Ungleichen, nämlich von Klerikern und Laien. Damit wird das Bild einer Trennung der Kirche in einen lehrenden und einen hörenden Teil und damit ein Konzept von Über- und Unterordnung aufrechterhalten: Die Ordination der einen bedingt die Subordination der anderen.
Vor allem die Spaltung ist gefürchtet
Diese Schlaglichter aus sehr unterschiedlichen Aspekten des Pontifikats Johannes Paul II. weisen hin auf eine Grundkonzeption, in der das, was am meisten gefürchtet wird, die Spaltung ist, und der positive Gegenbegriff zur Spaltung nicht Vielfalt, sondern Einheit lautet. Wenn die Einheit aber über Einheitlichkeit erwirkt werden soll, dann kommt es zu Desintegrationserfahrungen, und der Verweis auf die Weltkirche wertet die in den jeweiligen Ortskirchen drängenden Probleme und Fragestellungen ab. Wenn Einheit das Gegenteil von Spaltung ist, dann sind auch Druck und Zwang gerechtfertigt, um die Spaltung zu vermeiden.
Förderung autoritärer
Strömungen und Gruppierungen
Es ist darum nicht verwunderlich, sondern folgerichtig, dass im Pontifikat Johannes Paul II. autoritäre Strömungen in der katholischen Kirche deutlich gefördert wurden. Zu nennen sind hier etwa die Legionäre Christi oder das Opus Dei – auch hier war eine Heiligsprechung ein wirksames kirchenpolitisches Instrument. Auch konnten solche neuen geistlichen Gemeinschaften gedeihen, die heute im Verdacht stehen, spirituellen Missbrauch an ihren Mitgliedern strukturell zu ermöglichen. Die Einheit der Kirche lässt sich aber mit Druck nicht mehr erzwingen, und sowohl die Zentralisierung als auch der Anspruch auf inhaltliche Definitionsgewalt kommen an ihr Ende.
Ein Pontifikat der kritischen Reflexion durch Heiligsprechung entzogen
Die Bilanz dieses Pontifikats ist also gerade heute, wo der Skandal der sexualisierten Gewalt die Kirche weltweit in die Kritik gebracht hat, durchaus gemischt. Da Johannes Paul II. aber in Rekordzeit selig- und dann heiliggesprochen wurde, konnte eine solche gemischte Bilanz in die entsprechenden Verfahren nicht einbezogen werden. Mit Selig- und Heiligsprechungen von Päpsten feiert und sakralisiert das Papsttum sich letztlich selbst. Von dort her ist die beispiellose Schnelligkeit des Selig- und Heiligsprechungsverfahren für Johannes Paul II. ein in sich schlüssiges Finale, das gleichzeitig das Ende der globalen Bedeutung des Papsttums eingeleitet hat.
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Autorin: Annette Jantzen ist Theologin und Pastoralreferentin in der Diözese Aachen. Sie ist Geistliche Verbandsleitung beim BDKJ Aachen und regionale Frauenseelsorgerin und ehrenamtlich im Leitungsteam von „Zeitfenster“.
Bild: Jorge Zapata / unsplash.com