An einer Puppe wird die Herzdruckmassage geübt, als ob sie ein Mensch sei. Wie unsere Vorstellungen Handeln beeinflussen und wohin menschliche und christliche Basics entschwunden sind, fragt sich Barbara Henze.
Wenn man mit Kindern durch unwegsames Gelände läuft, kann es passieren, dass sie leichtfüßig über glitschige Steine und Wurzelgestrüpp springen und seltener fallen als man selbst. Und erst im Gebirge: selbst zitternd und unsicher angesichts der Abgründe meistern die Kinder die schmalsten Pfade. Es wird an ihrer Unerfahrenheit liegen, denke ich dann, sie kennen die Gefahren nicht. Sie gehen, wie wenn der Weg sicher ist, und ich, wie wenn an jeder Ecke etwas passieren kann. Welche „These“ stimmt, wird sich erst bei der Heimkehr zeigen, aber offensichtlich ist, dass die Füße anders gesetzt werden, je nachdem, wie mir der Weg erscheint.
In Schreckenszeiten werden
gültige Gesetze über Bord geworfen.
Über die Vorstellungen, die ich mir von etwas mache, und wie sie sich auf mein Handeln auswirken, schreibt Paulus im ersten Korintherbrief. „Die Zeit ist kurz. Daher soll, wer eine Frau hat, sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich freut, als freue er sich nicht, wer kauft, als würde er nicht Eigentümer, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht; denn die Gestalt dieser Welt vergeht“ (1 Kor 7,29-31 in der Einheitsübersetzung von 2016). Für Paulus gilt: Wenn klar ist, dass die Weltzeit abläuft, verhalte ich mich anders, als wenn sie nicht abliefe. Wie das andere Verhalten genau aussieht, erklärt Paulus nicht. Aus Berichten über die gesamteuropäische Pestwelle Mitte des 14. Jahrhunderts oder über Gewalt gegen Frauen im Krieg wissen wir, dass in Schreckenszeiten die bisher gültigen Gesetze des Zusammenlebens über Bord geworfen werden und vor allen Dingen zwei Bereiche betroffen sind, die auch Paulus nennt: das Verhältnis zu Frauen und zu Eigentum. Wie sich der Zusammenhang konkret gestaltet, ist offen, aber über den Zusammenhang besteht kein Zweifel: Die Zeitspanne, von der ich denke, dass sie mir zur Verfügung steht, beeinflusst mein Leben. Hier kann Resilienzforschung ansetzen, so dass Pauluskommentar und sie sich gegenseitig befruchten.[1]
Einen Menschen nicht „haben“.
Habe ich begriffen, dass es meine Lebenszeit ist, die abläuft, dann versuche ich, sie meinen Idealen gemäß zu füllen und warte damit nicht bis morgen. Von Gilbert Keith Chesterton, Autor der Pater-Brown-Kriminalfälle und Seelenverwandter von John Henry Newman, gibt es darüber eine vergnügliche Story. Für Chesterton lag der Witz der Paulus-Sentenz „wer eine Frau hat, verhalte sich in Zukunft so, als habe er keine“ in dem „haben“. In einer Welt, in der alle Menschen Geschöpfe Gottes sind, „hat“ kein Mann eine Frau. Chestertons Roman „Manalive“ von 1912 handelt von der Umsetzung dieses Leitsatzes ins Leben. Im Deutschen trägt er den Titel „Menschenskind“. Er erzählt von Innozenz Smith, der in der Londoner Pension „Leuchtfeuer“ allerhand ungewöhnliche Dinge tut, weswegen man ihm u.a. Einbruch, Totschlag und Polygamie vorwirft. Die Verbrechen lösen sich in Luft auf. Die Frauen, die er an unterschiedlichen Orten umworben hat, waren immer eine einzige, nämlich die eigene. Sein Verteidiger kommt zu dem Schluss: „Innozenz Smith […] weigert sich zu sterben, während er noch lebt. […] Aus diesem Grunde […] pflegte er die Frau, die er mit unerschütterlicher Treue liebte, irgendwo abzustellen (wenn man sich so ausdrücken kann), in Schulen, Pensionen und Büros, damit er sie sich immer wieder von neuem durch einen Überfall und eine romantische Entführung erobern könne. Ernsthaft versuchte er durch wiederholtes Einfangen seiner Braut das Gefühl ihres dauernden Wertes [… ] in sich lebendig zu erhalten.“[2] Indem Innozenz Smith in neu arrangierten Konstellationen seiner Frau gegenübertritt, als ob er ihr zum ersten Mal begegnete, verwandelt er ihre Beziehung. Sein Handeln verändert die Wirklichkeit. Und zwar so überzeugend, dass die Umwelt dachte, es handele sich jeweils um „andere“ Frauen.
Für Vergängliches
lohnt kein Einsatz (mehr)?
Innozenz Smith hat die Realisierung seiner ungewöhnlichen Auffassung vom „Nicht-Haben“ einer Frau selbst in der Hand, und es geht um Smiths eigene Auffassung. Was aber ist, wenn ich von Werten lebe, deren Realisierung nicht allein in meiner Hand liegen? Oder wenn ich möglicherweise früher sinnvolle Vorstellungen unhinterfragt durch mein Verhalten realisiere, die gegenwärtig mehr Unheil als Heil anrichten? Ein Beispiel für Letzteres: Als sich das von Paulus erwartete Ende der Welt verzögerte, kam der Gedanke auf, die Korintherbriefstelle so zu interpretieren, dass Einstellung und Verhalten gegenüber allem zu prüfen ist, was zur „Welt“ gehört, da diese „endet“. Die Prüfung besteht nur, wo nicht zu viel Einsatz gezeigt wird. Denn für etwas, das vergeht, lohnt kein Einsatz. Einsatz lohnt sich nur für „Ewiges“, also für „Gottes Dienst“. Ein solches Urteil erklärt die jahrhundertelange Abwertung der Ehe gegenüber dem Ordensleben und der sogenannten Laien gegenüber Klerikern. Das fehlende Engagement kritisierte schon im 17. Jahrhundert Vinzenz von Paul, wenn er zu einer Ordensschwester sagte: „Man merkt, dass Sie für den lieben Gott arbeiten.“[3]
Erfahrungen, die helfen
das Leben zu verändern.
Das Waisenhaus, auf Polnisch „Dom Sierot“, von Janusz Korczak in Warschau ist ein Beispiel für Ersteres. Die Werte, die ihm am Herzen lagen, Gerechtigkeit, Liebe und Respekt, wünschte er als überall auf der Welt praktizierte Werte. Er begann mit ihrer Realisierung in seinem Kinderheim. Er leitete es nach Regeln, die die Kinder genau das erfahren ließen, ohne Rücksicht darauf, dass das Leben außerhalb des Waisenhauses nicht gerecht und liebevoll war. Ein Junge beim Verlassen des Heims: „Ohne dieses Heim hätte ich nicht gewusst, (dass es auf der Welt ehrliche Menschen gibt, die nicht stehlen. Hätte ich nicht gewusst), dass man die Wahrheit sagen kann. Hätte ich nicht gewusst, dass es auf der Welt gerechte Gesetze gibt.“[4] Korczak musste darauf vertrauen, dass die Erfahrungen, die die Kinder in seinem Heim machten, ihnen später helfen werden, das Leben außerhalb des Waisenhauses zu verändern. Einfluss darauf hatte er nicht.[5]
Handeln als ob.
Wenn ich Respekt für wichtig erachte, muss ich selbst respektvoll sein, so Korczak. Wenn ich nicht möchte, dass im Kinderheim gestohlen wird, müssen die Hausregeln so sein, dass alle zu ihrem Recht kommen und nicht nötig haben, dafür zu betrügen. Wie ich mich verhalte und wofür ich mich einsetze, ist Spiegel dessen, was mir wichtig ist. Oder im Falle der Gebirgswanderung: Wie ich mir den Weg vorstelle, so setze ich die Füße. Was beim Individuum gilt, gilt auch für Gruppen, auch für die Kirche.
Zugegebenermaßen sind die Rückschlüsse von dem, wie Kirche agiert, auf die Einstellungen, die den Aktionen zugrunde liegen, nicht immer eindeutig. Umso schlimmer, wenn sie zutreffen. Ein fehlendes Engagement in gesellschaftspolitischen Fragen erweckt den Anschein, als ob nicht weiter störe, wenn Welt und Gesellschaft auseinanderfallen. Das Befolgen der Ratschläge von Finanzberatungen verändert Prioritäten, als ob es Kirche um Finanzwerte gehe. Sitzungen sind schlecht vorbereitet, als ob kein Austausch und keine Mitsprache gewünscht seien. Wortwahl und Inhalt von Predigten machen den Eindruck, als ob Prediger (und Predigerinnen) ihre Zuhörerinnen und Zuhörer nicht ernst nehmen.
Als ob Visionen wahr werden können.
Wie soll es weitergehen? Kirche ist komplexer als ein Waisenhaus. Dennoch: Es ist zu wünschen, dass es auch in ihr Räume, Netzwerke, Gemeinschaften, Gruppen gibt, wo Erfahrungen gemacht werden können, die helfen, die Welt zu verändern. Wo diskutiert und gestritten, gearbeitet und gefeiert wird, als ob die Klimakatastrophe aufgehalten werden kann, als ob jede Einzelne und jeder Einzelne zählt, als ob Frieden möglich ist, als ob Unsicherheit und Angst ausgehalten werden kann, … als ob die Visionen der Bibel keine Fiktionen sind, weil es Menschen gibt, die von ihnen leben, als ob sie wahr werden können.
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Barbara Henze, Dr. theol., bis März 2023 Akademische Oberrätin in der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg/ Breisgau für Frömmigkeitsgeschichte und Kirchliche Landesgeschichte.
Titelbild: Michel E / unsplash.com
[1] Richter, Cornelia: Als-ob-nicht: ὡς μἡ. Fiktion mit performativem Wirklichkeitswert, in: Vernunft-Fiktion-Glaube, hg. von Markus Firchow und Michael Moxter, Leipzig 2020 (= Marburger Theologische Studien 134), 95-109, besonders 105-109.
[2] Chesterton, Gilbert Keith: Menschenskind, München-Zürich 1974, S. 169 („ß“ zu „ss“ umgeschrieben).
[3] So in „Der Laie“ von Yves Congar, zitiert bei Eva-Maria Faber, Tätige Teilnahme in Liturgie und Kirche. Die Wiederentdeckung der ganzen Kirche in der vorkonziliaren Theologie und auf dem II. Vatikanischen Konzil, in: Volk Gottes im Aufbruch. 40 Jahre II. Vatikanisches Konzil, hg. von Manfred Belok und Ulrich Kropač, Zürich 2005, S. 43-73, hier S. 66.
[4] Korczak, Janusz: Tagebuch [Erster Teil], in: Ders., Sämtliche Werke Bd. 15, Gütersloh 2005, S. 297-353, hier S. 342 („ß“ zu „ss“ umgeschrieben).
[5] Schneider-Flume, Gunda: Kinder können fliegen. Leben mit Kindern – Im Gespräch mit Janusz Korczak, Frankfurt/Main 2015, S. 26.