Welche befreiende Kraft können die Praktiken der Volksfrömmigkeit heute noch entfalten? Ottmar Fuchs entführt Sie in ein oberfränkisches Dorf und versucht von dorther eine Antwort. Zum „Doppelfest Allerheiligen und Allerseelen“ (O. Fuchs) ein Beitrag in zwei Teilen.
Das Dörflein liegt auf einem Bergrücken zwischen zwei Tälern im oberfränkischen Frankenwald und gehört zum Landkreis Kronach, mit Kirche und etwas mehr als zweihundert Einwohnern und Einwohnerinnen. Die Geschichte dieser kleinen Ortschaft reicht bis in die Rodungen des 12. Jahrhunderts.
Auf dem weiten Wiesengrundstück einer alteingesessenen Familie steht auf der Anhöhe eine kleine Kapelle, nicht größer als dass höchstens drei Personen darin Platz hätten. Am 12. September 2021 fand dort eine besondere Erinnerung statt. Hundert Jahre steht sie jetzt, und genau das ist der Anlass, dass die Gläubigen kommen, dieses Mal nicht in die große Dorfkirche, sondern hierher mit einem Altartisch vor der Kapelle und davor Bänken für die Gläubigen.
Mehr als 150 Menschen sind da, und jemand bemerkt: „Da sind viele hier, die normalerweise unten nicht in die Kirche kommen.“ Der Gottesdienst wurde feierlich gestaltet, mit Blaskapelle, Ministranten und Ministrantinnen und beliebten Marienliedern, wie „Meerstern, ich dich grüße“ und „Wunderschön Prächtige“ und am Schluss mit „Großer Gott wir loben dich“.
Ich wurde eingeladen, die Ansprache zu halten, „aber ja nicht zu lang“! An diesem Sonntag feiern wir das Fest „Maria Namen“. Ich bringe eine leicht entfaltete Version dieser Ansprache:
Lieber Schwestern und Brüder,
aus tiefer Dankbarkeit ist diese Kapelle von den Vorfahren der Familie, die heute noch hier lebt, gebaut. Denn es ist ein Wunder geschehen. Die fünf Söhne der Familie sind aus dem Ersten Weltkrieg wieder heil zurückgekommen, während fast alle Familien im Dorf einige ihrer Söhne verloren haben. Damit erfüllte die Familie ihr Gelübde, dass sie eine Kapelle stiften wolle, wenn ihre Söhne heil zurückkehrten. Es ist ein freudiges Patrozinium, und man hätte erwartet, dass eine freundliche Madonna mit Kind diese Freude ausgedrückt hätte. Aber das ist nicht der Fall. Wir finden in der Kapelle die Gestalt der Pieta, der Schmerzensmutter, die ihren toten Sohn beweint.
Es war der Familie klar, dass sie ein unverdientes Wunder geschenkt bekommen hat, und dass gerade dieses Wunder ihr Mitgefühl mit den anderen Familien des Dorfes vertieft und verschärft. In der Kapelle und in der Pieta verbindet sich beides, die Familien, die über die toten Söhne weinen, und zugleich die unaufdringliche Freude darüber, dass die eigenen Söhne heimgekommen sind. Beides verbindet sich in dieser Erinnerung, die Dankbarkeit und der mitfühlende Schmerz. Und beide steigern sich gegenseitig.
Und es gibt ein zweites Wunder: Es gibt in der Kapelle auch eine andere Statue, nämlich die der heiligen Rita. Irgendwann wurde auf dem Altartisch eine Rita-Statue vorgefunden. Auf einmal war sie vor Jahrzehnten da. Viele kommen gerade wegen der heiligen Rita, wenn sie ein besonderes Anliegen haben. Und nicht wenige zünden eine Kerze an und/ oder lassen einen Blumenstrauß zurück.
Irgendjemand hat beide zusammengestellt, die Schmerzensmutter und die heilige Rita. Haben sie etwas miteinander zu tun? In der Einladung zu dieser Feier stand jedenfalls: „Die beiden heiligen Frauen verstehen sich gut!“
Die heilige Rita, eine liebevolle Abkürzung des Namens Margareta, was so viel wie Perle heißt, ist 1447 in Cascia in Italien gestorben. Sie hat in ihrem Leben eine Menge mitgemacht. 18 Jahre mit einem gewalttätigen Mann verheiratet, wird dieser 1401 ermordet. Ihre beiden Söhne schwören Blutrache, Rita aber betet dafür, dass sie eher sterben als dass sie zu Mördern werden. Als sie tatsächlich sterben, geht sie ins Kloster. Sie führt ein strenges Leben in stellvertretender Buße und erlebt 1422 die Verwundung mit den Wunden, die Christus am Kreuz hatte. 15 Jahre lang hat sie eine offene Wunde. Vor ihrem Tod wünscht sie sich eine Rose aus dem Garten, und obwohl es ein klirrender Winter ist, hat der Rosenstrauß geblüht.[1] Sie gilt als Helferin in aussichtslosen Nöten und, was vor allem in Corona-Zeiten bedeutsam ist, sie wird als Helferin gegen die Pest, gegen Pocken und Pandemien überhaupt angerufen.
Man kann gut erahnen, warum die Menschen zu dieser Ehefrau, Mutter und Nonne kommen und ihr Erhörung zutrauen. Ja, Maria und Rita haben, so verschieden ihre Zeiten und Leben sind, viel miteinander zu tun: und der unbekannte Mensch, der die Rita beigestellt hat, hatte wohl eine Ahnung davon. Es ist eine geheimnisvolle Verbindung der Wunden am eigenen Leib, der Verwundbarkeit durch das Leid anderer. Die Stigmatisierung ist eine Erfahrung der Empathie bis zum äußersten.
Beide sind derart intensive Erfahrungsgestalten gegen die Kälte des Herzens, die uns heutzutage in bedrängender Weise zu schaffen macht. Sie stehen gegen den Hass, gegen die Gewalt und dafür, dass das Unmögliche geschehen kann, wie die Rose im Winter blüht und mitten in der Kälte eine Schönheit und einen neuen Duft aufblühen lässt. Es ist die Ahnung, die auch vom heutigen Evangelium (Lk 1,26-31) bestätigt wird: bei Gott ist nichts unmöglich! Manchmal schon diesseits, mit Sicherheit aber im Jenseits zu dieser Welt, zu unseren Sorgen und zu unserem Leiden.
Indem wir beiden in dieser Kapelle begegnen, begegnen wir auch entsprechenden Erfahrungen unseres eigenen Lebens, zwischen Dankbarkeit und Schmerz, zwischen Mitgefühl und Hoffnung, zwischen Verzweiflung und Vertrauen auf Rettung. Und indem wir daran denken, dass wir mit Maria und all den heiligen Frauen und auch mit unseren eigenen Müttern eine mütterliche Macht im Himmel haben, die uns begleitet und trägt. Denn wie die Beigabe der Rita zeigt: die Schmerzensmutter ist nicht für sich allein, sondern sie eröffnet den solidarischen Raum aller verstorbenen Frauen, nicht nur der offiziellen Heiligen, sondern auch unserer eigenen verstorbenen Mütter. Mit Maria geben sie der mütterlichen Macht im Himmel ein Gesicht, besser viele Gesichter.
Sagen wir es mit einem vor allem auch im fränkischen Bereich vielfach antreffbaren Bild aus der christlichen Kunst: in der Aufnahme Mariens in den Himmel wird Maria von unten nach oben mitten in die Dreifaltigkeit hineingeschoben (wobei die Taube des Heiligen Geistes nach oben fast aus der Dreifaltigkeit hinausgeschoben wird): Eine frühe in der christlichen Kunst zur Auffahrt Marias in den Himmel vielverbreitete Kritik der männlichen Vorherrschaft in der Dreifaltigkeit! So wird deutlich: Maria ist die erste und allen Menschen geschenkte Vergegenwärtigung des Heiligen Geistes auf Erden und im Himmel.
Ich wünsche der Familie, die uns diese Kapelle und die dazugehörigen Geschichten gegeben hat, weiterhin die Gnade dieses Ortes und das Vertrauen in Gottes mütterlichen Beistand in den Gestalten Maria und Rita.
TEIL 2 des Beitrags erscheint morgen.
Ottmar Fuchs ist emeritierter Professor für Pastoraltheologie und lebt in Lichtenfels bei Bamberg.