Zu Allerheiligen geht man an die Gräber. Gerrit Spallek hat für feinschwarz.net das Grab von Tiemo Rainer Peters OP auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg besucht.
Die ersten Tage im November führen viele Menschen traditionell auf Friedhöfe. Verstorbene Familienangehörige, Freunde und Bekannte werden besucht. Kerzen werden aufgestellt. Spätestens jetzt werden die Gräber winterfest gemacht.
Im vergangenen Jahr verstarb der Theologe Tiemo Rainer Peters OP. Auf feinschwarz.net erschien ein Nachruf (Link). Der Dominikaner und Hochschullehrer hatte seinen Lebensmittelpunkt in Münster. Geboren und aufgewachsen war er in Hamburg. Auf dem größten Parkfriedhof der Welt, dem Ohlsdorfer Friedhof, liegt er heute in der norddeutschen Metropole begraben.
Ein Parkfriedhof ist ein schizophrener Ort.
Ein Parkfriedhof ist gewissermaßen ein schizophrener Ort. Das merkt man daran, dass viele Besucherinnen und Besucher verunsichert sind, wie sie sich an diesem Ort verhalten sollen. Befinden sie sich nun in einem kunstvoll angelegten Park, welcher der Erholung und dem Wohlgefallen der Lebenden dient? Oder bleibt auch ein Parkfriedhof vornehmlich ein Ort für die hier Bestatteten, der den Hinterbliebenen Raum für bedächtige Trauer und die Erinnerung der Verstorbenen bietet?
Der Architekt des 1877 eröffneten Ohlsdorfer Friedhofs spricht sich eindeutig für ersteres aus. Den Zweck des Parkfriedhofs beschreibt er folgendermaßen: „Der Friedhof soll nicht eine Stätte der Toten und Verwesung sein. Freundlich und lieblich soll Alles dem Besucher entgegentreten […].“ Landschaftsarchitektonisch versucht der Parkfriedhof ein „Paradies auf Erden“ abzubilden – in einer Zeit, in welcher der Glaube an ein jenseitiges Pendant zunehmend zu bröckeln beginnt.
Die Theologie von T. R. Peters sperrt sich gegen die Versuchung, vom Tod der Toten abzulenken.
Für das Geschehen innerhalb des diesseitigen Paradieses sollen die hier ruhenden Toten jedenfalls eine möglichst geringe Rolle spielen. Sie genießen eine Art Bleiberecht, jedenfalls solange sie das Treiben der Lebenden nicht stören – getreu dem Motto: Ruht in Frieden, aber lasst die Lebenden in Ruhe!
An einem der hintersten Winkel des Ohlsdorfer Friedhofs liegt seit Dezember 2017 Tiemo Rainer Peters begraben. Auch wenn eine Grabplatte bislang fehlt, fügt sich das Grab des Dominikaners gut in das umliegende Gräberfeld der Hamburger Ordenspriester ein. Für Kennerinnen und Kenner des hier bestatteten Theologen stellt das Grab dennoch einen Störfaktor im Gefüge des Parkfriedhofs dar. Denn das theologische Wirken des Dominikaners sperrt sich gegen die Versuchung des Parkfriedhofs, vom Tod der Toten abzulenken.
Auferstehungshoffnung als Ausdruck eines Protests aus solidarischer Liebe.
Seit seinen ersten Veröffentlichungen versteht Peters die biblisch bezeugte Hoffnung auf eine göttlich gewirkte Überwindung des Todes als Ausdruck eines solidarischen Protests aus Liebe – erwachsen aus einem „Impuls für eine grenzenlose, sich den Zwängen des Faktischen nicht fügende Phantasie“ (Tod wird nicht mehr sein, 11). Diese Liebe zeigt sich darin, dass sie sich nicht mit weniger zufrieden gibt als mit der kompromisslosen Hoffnung auf Rettung und Erlösung aller Menschen, besonders der unschuldig gequälten und leidenden.
Sobald die Auferstehungsgewissheit einzig auf die eigene Todessituation verengt verstanden wird, werde sie privatisiert und entpolitisiert. Dann stehe sie in der Gefahr, zum jenseitsvertröstenden Opium zu verkommen, das vom diesseitigen Leben, der sozialen Verantwortung und von der inneren Widersprüchlichkeit des Todes ablenkt.
Eine christliche Trauer kann nur eine anamnetische Trauer sein.
Eine von der christlichen Hoffnung getragene Trauer kann für Peters einzig eine anamnetische Trauer sein. In der christlich verstandenen Gemeinschaft von Lebenden und Toten müsse es engagiert und solidarisch darum gehen, „die unabgefundene Sehnsucht der Toten und ihr unabgegoltenes Recht auf Freiheit, Glück, Gerechtigkeit, Frieden [und] Solidarität“ auch gegen die Widerstände von Selbstzufriedenheit und Behauptungswillen der (Über-)Lebenden erinnernd wachzuhalten (Tod wird nicht mehr sein, 40–42).
Entsprechend hat sich Peters in seiner Theologie immer wieder dafür eingesetzt, dass sowohl der Tod als auch die Endlichkeit des Menschen nicht verdrängt werden dürfen. Die Aufklärung hatte damals gegen den jenseitsvertröstenden Missbrauch des Todes durch die Religionen protestiert. Werde den Versuchungen nicht widerstanden, selbst den Tod in den störungsfreien Ablauf unserer Konsum- und Industriekultur einzufügen, droht der Tod ansonsten erneut missbraucht zu werden, diesmal gewinnorientiert im Kalkül einer „pseudoreligiösen Fortschrittsgesellschaft“.
Parkfriedhof: Produkt einer pseudoreligiösen Fortschrittsgesellschaft?
Der Parkfriedhof Hamburg-Ohlsdorf ist ein wunderschöner Ort. Ursprünglich lag der Friedhof außerhalb der Stadtgrenzen. Längst ist die Stadt um den Friedhof herumgewachsen. Mitten in der Stadt beherbergen 389 Hektar Friedhofsfläche rund 1,4 Millionen Verstorbene. Der Parkfriedhof bietet den gehetzten Stadtbewohnerinnen und -bewohnern nicht nur ein kunstvoll gestaltetes Naherholungsgebiet. Für viele Tiere und Pflanzen stellt der Parkfriedhof gleichzeitig ein urbanes Naturreservat dar, deren ursprünglicher Lebensraum zerstört worden ist. Tatsächlich ließe sich vor diesem Hintergrund diskutieren, inwiefern es sich bei einem Parkfriedhof auch um ein Produkt „einer pseudoreligiösen Fortschrittsgesellschaft“ handelt.
Vom Haupteingang des Friedhofs bis zum Grab von Tiemo Rainer Peters OP sind es gut 3,5 km. Wer den Fußweg scheut, kann eine der beiden Buslinien nehmen, die auf dem Friedhofsgelände verkehren. Das Grab des Hochschullehrers ist maximal unauffällig. Nicht einmal ein Grabstein kann bislang die Aufmerksamkeit von Friedhofsbesucherinnen und -besuchern wecken. Der Störfaktor, der von dieser Grabstätte im Gefüge des Parkfriedhofs ausgeht, erschließt sich nur den Kundigen der Theologie des hier Bestatteten.
Auf dem Rückweg werde ich nachdenklich und neugierig: Wer verbirgt sich sonst noch hier?
Die theologischen Gedanken von Peters im Hinterkopf können aber die Augen öffnen, für diejenigen und dasjenige, von denen die Schönheit des Parkfriedhofs ablenken kann: die Verstorbenen (ob hier bestattet, anonym beigesetzt oder anderswo verborgen), die Wirkmächtigkeit des Todes und die unausweichliche Endlichkeit des menschlichen Lebens.
Auf dem Rückweg meines Grabbesuchs werde ich nachdenklich und gleichzeitig neugierig. Wer verbirgt sich sonst noch hier? Auf diesem Friedhof liegen über eine Millionen Individuen begraben. Selbst von den erhaltenen Grabstätten lassen sich nur sehr bedingt Rückschlüsse über deren Leben, Denken und Erfahrungen ziehen. Jede und Jeder von ihnen verdient es, erinnert zu werden. Welche Türen würden sich wohl öffnen, wenn ich mich nur für einen Bruchteil von ihnen mit ähnlicher Sorgfalt interessieren würde? Ein solches Forschungsunterfangen wäre sicherlich im Sinne desjenigen gewesen, dessen Grab ich heute besucht habe.
Morgen folgt bei feinschwarz.net ein Besuch von Roman Siebenrock am Grab von Karl Rahner in Innsbruck.
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Gerrit Spallek ist Theologe in Hamburg und Redaktionsmitglied von feinschwarz.net.
Bild: feinschwarz.net
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Literatur:
Tiemo R. Peters, Ars moriendi. Die Christen und der Tod, in: Hans-Gerd Schwandt (Hg.), Leben im Angesicht des Todes (Publikationen der Katholischen Akademie Hamburg 10), Hamburg 1992, 63–84.
Tiemo R. Peters, Entleerte Geheimnisse. Die Kostbarkeit des christlichen Glaubens, Ostfildern 2017, hier: 60–67.
Tiemo R. Peters, Tod wird nicht mehr sein, Zürich 1978.
Zu Tiemo Rainer Peters OP bei feinschwarz.net erschienen: