Der Verfall der Glaubwürdigkeit wird sich nicht abschwächen, solange der Ernst der Lage nicht benannt, anerkannt und aufrichtig bekannt wird. Rainer Bucher und Hans Joachim Sander zur existentiellen Gefährdung der katholischen Kirche. Teil 1
Wenn Religionen gegen die normativen Grundlagen jener Gesellschaften verstoßen, in die sie eingebettet sind, bekommen sie ein politisches Problem. Wenn diese Normen dann mit einigem Recht als säkulare Varianten der eigenen grundlegenden Prinzipien gedeutet werden können, dann bekommen Religionen ein existentielles Problem. Denn ihre Glaubwürdigkeit zerbricht in strukturellen Selbstwidersprüchen. Wenn dann noch Skandale diese Selbstwidersprüche exemplarisch veröffentlichen, steht es wirklich schlecht um Religionen. Sie bekommen dann nicht nur immer mehr Gegner, sondern sie verlieren ihre Anhänger. Genau dies ist aktuell bei der römisch-katholischen Kirche Deutschlands und nicht nur dort der Fall.
Ein existentielles Problem
Die normative Grundlage westlicher Demokratien bilden die Menschenrechte, die mit einigem Recht, obwohl real gegen die katholische Kirche durchgesetzt, auch als säkulare Fassung christlicher Essentials begriffen werden können. Die skandalisierende Zuspitzung aber stellt der dreifache Verrat des Missbrauchsskandals dar: der Verrat an den Opfern, am Evangelium und an der eigenen integren Existenz.
Nun hat die katholische Kirche deutlich fundamentale Menschenrechtsprobleme. Da ist zum einen die essentialistische Fassung der Geschlechterdifferenz(en), welche Frauen die gleiche Würde, nicht aber die gleichen Rechte zuschreibt. Wenn sich, wie es gegenwärtig in unseren Breiten geschieht, nicht nur die Geschlechterstereotypen auflösen, sondern auch die konkrete Geschlechterrollenpraktiken dies tun, dann manövriert sich jede Institution, welche die patriarchale Paradoxie weiterhin vertritt, sowohl ins Jenseits der Biografien wie ins Aus der Gesellschaft. Im Fall der Kirche gilt zudem: Sie manövriert sich auch in unauflösliche Selbstwidersprüche zu den eigenen Basics.
In Konflikt mit menschenrechtlichen Normen wie gesellschaftlicher Erfahrungsrealität steht in der Wahrnehmung vieler Menschen auch die klerikal-ständische innerkirchliche Herrschaftsordnung. Sie verwehrt dem allergrößten Teil des Volkes Gottes, in Deutschland 99,94 Prozent, den Zugang zu den allermeisten kirchlichen Entscheidungs- und Repräsentanzpositionen. Entscheidungspartizipation und Repräsentanz wird nur in Form eines gewissen Zulassungspaternalismus zugebilligt. Übersetzt sich diese ständisch-juridische Ordnung ohne Gewaltenteilung und unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit auch noch in einen spezifischen klerikalistischen Habitus, verliert sie in Zeiten religiöser Selbstbestimmung endgültig jede Autorität.
Verdacht: Wo Heil propagiert wird, ist Unheil.
Religiöse Orte werden freilich seit einiger Zeit zunehmend situativ und interessensgeleitet genutzt. Man kann all diesen Legitimationsproblemen also durch selektive Nutzung ausweichen. Kein Integrationsdruck zwingt, sich in der Kirche zu „beheimaten“ und mit deren verstörenden Merkmalen auseinanderzusetzen. Aber deren Image leidet massiv. Man will eine Heilsinstitution sein und ist in den Augen vieler das Gegenteil. Das wirkt sich auf Dauer aus. Man beginnt es zu bemerken und ist mehr als verstimmt. Der begründete Verdacht kommt auf, dass, wo Heil propagiert wird, Unheil ist.
Nun sind Gut und Böse nicht gerecht verteilt. Weder haftet Böses nur an bösen Menschen noch bleibt eine Gemeinschaft, die Gutes tut, immer nur mit Güte identifizierbar. Auch sie kann Böses tun und das Böse böser Menschen greift leider auch auf gute über. Wenn wir es lokalisieren können, dann springt etwas Böses viel nachhaltiger ins Auge als das, was dort auch noch an Gutem geschieht. Das ist ungerecht, aber unvermeidlich; denn die Macht des Bösen ist erheblich bedrängender und hinterlässt mehr Eindruck als die Ermächtigung durch Gutes. Ermächtigung wächst langsam und bisweilen unscheinbar, Macht demonstriert sich unmittelbar und gewaltig.
Die Macht des Bösen ist bedrängender als die Ermächtigung durch Gutes.
Wenn man an New York denkt, dann lässt sich an unglaublich viel Gutes denken, das diese globale Stadt für die Menschheit bedeutet. Man nehme nur die Freiheitsstatue, die zurecht dort steht und die ankommenden Menschen begrüßt. Und doch ist New York unvermeidlich mit dem identifizierbar, was die Stadt an Üblem beherbergen musste und auch aufkommen ließ. So ist sie jetzt auf Dauer mit zwei Katastrophen behaftet, die globalen Zuschnitt haben – 9/11 und Donald Trump. Zu beidem gibt es natürlich gerade in New York erhebliche Güte. Da ist der Opfermut der Feuerwehrleute und von vielen anderen, die am 11. September 2001 ohne zu zögern ihr Leben riskiert haben, um anderen zu helfen, und es verloren. Und in diesen Wochen ist die Serie der Anklagen losgegangen, die die Justizbehörden der Stadt gegen Geschäfts- und Politikgebahren des Ex-Präsidenten der USA zu erheben genötigt sind. Wie sehr auf Dauer das Üble großen Schaden anrichtet und Überhand bekommt, sieht man an Rudi Guiliani, dem globalen Bürgermeister von 9/11. Seine Reputation ist dahin.
Ähnliches müssen wir für die katholische Kirche konstatieren. Es geschieht viel Gutes in ihr und sie steht für etwas außerordentlich Gutes, das Evangelium. Aber global und kontinental, regional und lokal haften mittlerweile zwei Größen realer Bosheit an ihr – der sexuelle Missbrauch durch Priester aus ihren Reihen und die systemische Vertuschung der Taten durch Führungsfiguren aus ihrem Klerus. Das wird sie nicht los und das wird sie auf lange Zeit nicht loswerden. Deshalb verliert sie massiv an Glaubwürdigkeit und das wird auf absehbare Zeit so weitergehen. Sie kann das weder aufhalten noch vermeiden, weil sie die Taten anerkennt und ebenso das Vertuschen aufklären lassen muss. Und jeder Erkenntnisschritt bedeutet einen weiteren Schub im Glaubwürdigkeitsverlust. Je glaubwürdiger sie aufklärt und aufklären lässt, desto größer der Schub. Und das hört so schnell nicht auf. Wer in der Kirche arbeitet, in ihr oder in ihrem Umfeld professionell handelt und an dem mitwirkt, was Gutes in ihr geschieht, kann sich dem nicht entziehen, sondern muss sich auf diesen Zusammenhang einstellen.
„Krise der Kirche“: Das verharmlost.
Unter diesen Beteiligten wird immer deutlicher, dass es völlig unangemessen ist, von einer Krise der Kirche zu sprechen. So etwas zu sagen, verharmlost das Üble, das zu Tage getreten ist und weiter zu Tage treten wird. Krisen erwecken immer den Eindruck, sie kämen von außen. Das tun sie auch dann, wenn es hausgemachte Krisen sind. Sie fallen überraschend über Menschen herein, nicht mit einer langen Ansage. Die Menschen, die von den verheerenden Fluten dieses Sommers getroffen sind, erleben eine solche Krise. Aber das, was der Kirche geschieht, ist anders gelagert.
Es gibt eine lange theologische Ansage, dass es so nicht für sie weitergeht. Diese Ansagen kreisen alle um Menschenrechtsfragen. Der sexuelle Missbrauch gehörte nicht zu dieser Ansage; das ist der Teil des Versagens, den auch die Theologie tragen muss. Aber dieser Missbrauch hebt die Ansage nicht auf, sondern zeigt, wie nötig sie war. Daher mag man von der „Krise der katholischen Kirche“ gar nicht mehr hören als Theologe – und als Theologin wahrscheinlich noch weniger. Man mag es nicht mehr hören, weil es so etwas von nicht überraschend ist.
Schon seit Jahrzehnten wurde zu Recht vor dem gewarnt, was sich bei denen mit der Entscheidungsmacht in der Kirche an Selbsttäuschungen und Utopias eingeschlichen hat und mit der daran hängenden Beratungsresistenz gegenüber moderner kritischer Theologie ins Werk gesetzt wurde. Im Gegensatz zu dieser ignorierte man die Stärken der anderen und musste die eigenen Schwächen verstecken: Der sexuelle Missbrauch durch Priester wurde vertuscht und der Klerikalismus verharmlost. An die Stelle einer selbstkritischen, die eigenen Fehler freilegenden Theologie wurden Mythen gesetzt.
Was wurde da seit dem Pontifikat von Johannes Paul II. nicht alles bejubelt. Ein medial gefeierter Menschenrechtspapst! Die Begeisterung der Jugendlichen! Die Hingabe der Neuen Geistlichen Gemeinschaften! Die Priesterzahlen der jungen transeuropäischen Katholizismen! Die breit diskutierte Ratio des Glaubens! Die charismatische Morgenröte! Die säkulare Sehnsucht nach der wahren Moral! Die überwältigenden Communio-Kräfte der neuen Bischofsgeneration! Der Run der Eliten auf die katholischen Schulen! Das Bollwerk schlechthin gegen den grassierenden Relativismus! Und wer bei dies allem nicht mit großen begeisterten Augen Ja! zu rufen bereit war, wurde verdächtigt und an den Rand gedrängt.
Verharmlosungen und Beschwichtigungen
Die Warner und Warnerinnen wurden spätestens dann mit Diskontinuitätsverdikt belegt, als Kardinal Ratzinger, eine Schlüsselfigur des propagierten Selbstverständnisses „Habt keine Angst, Euch ganz und gar katholisch zu zeigen!“, selbst ins kirchliche Spitzenamt gekommen war. Als er den Ausgleich mit den Piusbrüdern suchte und mit Platonismus ziemlich viel an entweltlichter Disharmonie komponierte, wurde immer noch beschwichtigt: Das sei nur Ausdruck einer Vorliebe für die alte Liturgie mit ihrer Schönheit der Gewänder. Aber eigentlich wären wir doch wirklich das Salz der Erde und in den public-religion-Aufschwüngen käme das auch immer deutlicher zum Tragen. Und schließlich machen auch mal Päpste Fehler, die aber die unbestreitbaren Verdienste nicht in Zweifel ziehen würden.
Das erste ist auf jeden Fall richtig und das zweite mag sogar stimmen. Das Problem ist allerdings, dass diese Fehler auf den Feldern geschehen sind, auf denen über die big points in Sachen Glaubwürdigkeit entschieden wird. Darum wiegt es so schwer, dass die Führungsriege der katholischen Kirche der Diktatur des Relativismus bei ihr selbst nicht mit demokratischen Gepflogenheiten der offenen, freien und öffentlichen Auseinandersetzung zu Leibe rückte, sondern diese mühselige Komplexität für religiös unverträglich hielt. Stattdessen sprach man sich für einen gewissen Grad an Autoritarismus aus, also dass der Papst es richten könne. Die Freiheit und die Pluralität der Moderne und der Modernen hielten nun einmal nicht auf Dauer, sondern agierten nur pragmatisch auf kurze Sicht. Aber genau deshalb kann man diesen Päpsten nicht ersparen, dann eben auch für die Mythologisierungen gerade zu stehen, mit denen die Krise überspielt werden sollte.
Spätestens mit dem Canisius-Kolleg und seiner Skandalisierung ist sichtbar geworden, dass auch katholische Mythen nicht ablenken können von den Rissen, die schon vorher im tragenden Teil des Gebäudes sichtbar wurden. Es sind Risse wie die Nibelungentreue des Santo Subito Karol Woytila zu Kardinal Groer, zum Spotlight-geplagten Law und seinen Unverschämtheiten, zu den Meisners, Haas und den vielen anderen offenkundigen Fehlbesetzungen im Bischofsamt. Das Bröckeln hat damit aber nicht aufgehört, im Gegenteil, es hat sich zu wahren Erosionen verbreitert.
Über die erste Alm nicht hinaus
Die kann auch der gegenwärtige Papst weder aufhalten noch sanieren. Das übersteigt die Fähigkeiten dieses Amtes. Immerhin räumt er die Erosion mit dem Mc-Carrick-Report und der jüngsten Rücknahme der Traditionalistenversuchung ein. Bei jedem Berg, den Papst Franziskus bisher der Kirche als zu ersteigen vorgeschlagen hat, um endlich wieder den großen Überblick zu bekommen, kamen er, seine Amtskollegen und seine Kurie über die ersten Almen nicht hinaus. Und ob die künftige Synode über den Flachgau wirklich sich wird erheben können, ist auch nicht ausgemacht. Aber bleiben wir als gute Katholiken und Katholikinnen bei der Hoffnung, die bekanntlich zuletzt stirbt.
Teil 2 folgt am 6. August.
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Hans-Joachim Sander ist Professor für Dogmatik an der Universität Salzburg, Rainer Bucher Professor für Pastoraltheologie an der Universität Graz.
Photo: Dominik Van Opdenbosch (Unsplash)