Poetische Mehrstimmigkeit und vielfältige Verflechtungen zwischen Biographie, literarischem Schaffen und Religiosität prägen das Werk des kürzlich verstorbenen Autors Amos Oz. Lukas Pallitsch greift in seinem Nachruf einige Spuren auf.
Amos Oz ist am 28.12.2018 in Jerusalem gestorben. Könnten bedeutende Bücher Licht verbreiten, dann würden aus den halbdunklen Ecken einer weltliterarischen Bibliothek die Bücher von Amos Oz einen Lichtfleck erzeugen. Eine gewisse Ironie liegt wohl darin, dass der israelische Schriftsteller mit dem autobiographischen Roman „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ Weltruhm erlangte.
Selten wurde eine vielschichtigere Familiengeschichte über Israel, Enttäuschung und Hoffnung geschrieben, deren Tonalität vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund zwischen Melancholie und Ironie oszilliert. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet und in alle Weltsprachen übersetzt. Manche seiner Bücher erreichten Auflagen in Millionenhöhe.
„Oz“
Geboren wurde er als Amos Klausner 1939 im britischen Mandatsgebiet Jerusalems. Dort wuchs er in einer hochgebildeten rechts-zionistischen Familie heran. Bereits im Alter von 15 Jahren zog er in das Kibbuz Hulda, wo er sich den hebräischen Namen „Oz“ (dt. Kraft, Stärke) zulegte. Es sollten die prägenden Jahre seines Lebens werden. Eine persönliche Traumatisierung markierte allerdings bereits zuvor der Selbstmord seiner Mutter. Fortan sollte sein literarisches Schaffen immer wieder um elementare Verluste kreisen. Verlust, Tod, Liebe, Sehnsucht, Einsamkeit: nichts weniger als die großen religiösen Themen kartographieren sein Werk.
Nun ließen sich viele Fäden aus diesem bewegten Lebensknäuel aufgreifen, ausziehen oder entflechten, doch hier sollen lediglich einige kleinen Fäden, bei denen Biographie, literarisches Schaffen und Religiosität eine Nahtstelle bilden, aufgegriffen werden.
Onkel Klausner und Jeschua hanozri
Begibt man sich auf die Suche nach religiösen Prägungen seiner autobiographischen Romanspuren, dann stößt man zunächst unweigerlich auf seinen Großonkel Joseph Gedalja Klausner, der an der Universität Heidelberg mit einer Arbeit über Die Messianischen Vorstellungen des jüdischen Volkes im Zeitalter der Tannaiten promoviert wurde. Onkel Klausner, wie er in „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ liebevoll genannt wird, war Zionist, gab bereits früh die Monatsschrift Ha-Schiloach heraus, die von seinem Mentor Achad Ha’am begründet wurde, und wurde Professor an der Hebräischen Universität, wo er den Lehrstuhl für hebräische Literatur und später jenen für die Erforschung der Geschichte der Zeit des Zweiten Tempels innehatte.
Für großen Argwohn sollte Joseph Klausner mit dem Buch „Jeschua hanozri“ sorgen. Es wurde bereits 1930 aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt: Jesus von Nazareth: Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre. Seine zentrale These, die er in einem zweiten Buch mit dem Titel Von Jesus zu Paulus weiterentwickelte und die der Großneffe Amos in seinem letzten Roman „Judas“ aufgriff, besagt schlichtweg, dass Jesus von Nazareth ein Jude war und als solcher am Kreuz starb.
Warum musste Jesus sterben? Diese Frage führt in das Zentrum von Klausners Buch. Jesus war ein rebellischer Jude, ein „Reformrabbiner“, der die religiös bestimmende Klasse harsch kritisierte und das Judentum in einer nonkonformistischen Art und Weise von innen her reformieren wollte. Gegen dieses Jesusbild wurde heftig polemisiert, von jüdischer und christlicher Seite. In einem „Zwischenruf“ erzählte Amos Oz, was „Onkel Klausner“ ihm früh auf dem Lebensweg mitgab: „Wann immer du eine Kirche oder ein Kreuz siehst, sieh genau hin, denn Jesus war einer von uns, einer unserer großen Lehrer, einer unserer bedeutendsten Moralisten, einer unserer größten Visionäre.“ (Amos Oz, Zwischenruf, 12)
In kleinen Abwandlungen fand dieser Satz Eingang in das Romanwerk und speist sich aus der tiefen Überzeugung seines Onkels, der früh einen tiefen Eindruck beim heranwachsenden Amos hinterließ. Dabei wurde der kleine Amos in der orthodoxen Schule dazu angehalten, vor jedem Kreuz das Gesicht abzuwenden. Dieses Motiv prägt Leben und Werk des Großneffen. Denn die Strahlkraft, die vom Nazarener fortan ausging, verschaffte ihm wichtige Zugänge, von Bach bis Dostojewski.
Feinfühlige Stilhöhe
Sofern man sich ernsthaft auf einen jüdisch-christlichen Dialog einlassen möchte, wird man die Stimme dieses Schriftstellers nicht überhören können. Mit seinem letzten Roman Judas kehrt Amos Oz in das Jerusalem der Ben Gurion-Zeit zurück. Der Roman kann als Laboratorium seiner großen Figuren und Themen gelesen werden: Erstens erlaubt die Romananlage, den Text als Liebesgeschichte zu lesen. Die Dialoge gewähren zweitens Einblick in die brisanten Diskussionen der fünfziger Jahre. Mit Gewissheit trifft diese Diskussion den entscheidenden Lebensnerv von Amos Oz, denn in der Frage zum Judenstaat hat sich der Schriftsteller nachdrücklich positioniert. So entschieden die Haltung des homo politicus Amos Oz als Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung war, so vertrackt liest sich im Judas-Roman das dialogische Ausloten dieser Frage. Drittens schreibt der verliebte Protagonist an einer Forschungsarbeit über „Jesus in der Perspektive der Juden“, die allerdings auf die titelgebende Judasfigur zusteuert.
Gegenüber fundamentalen Festschreibungen, die verkrustete Lagerbildungen in wichtigen Fragen oft vornehmen, schafft Amos Oz im Roman eine dialogische Atmosphäre. Während dogmatische Festlegungen über weite Strecken in starre Muster zurückfallen, vermag die Poesie jene Mehrstimmigkeit erzeugen, die der russische Literaturtheoretiker Michail Bachtin als Dialogizität und damit als offene Konfrontation von divergierenden Positionen charakterisierte. Gegen autoritäre Affirmationen werden in diesem wie auch in anderen seiner Romane ironische Stilisierungen, mutige Verfremdungsversuche und antagonistische Bezugnahmen zu vorgegebenen Traditionen in Stellung gebracht. Es soll allerdings keineswegs der Eindruck erweckt werden, Oz’ Texte wären als pamphletartige Thesenromane zu lesen. Im Gegenteil, ganz ohne Pathos balanciert er sprachlich in feinfühliger Stilhöhe scheinbar festgefahrene Positionen aus. Auf diese Weise gelingt es, die kanonisierte Haltung gegenüber Judas Iskariot einer sanften Dekonstruktion zu unterziehen.
Kraft der Poesie
Entscheidungen bleiben aber dem Leser überlassen. Darin liegt nicht zuletzt die Kraft der Poesie, wenn sie in den Raum der Theologie eindringt – Amos Oz sagte einmal in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: „Ich weiß, dass man die Welt nicht nur mit einem Paar Augen betrachten kann.“ Seine Poesie, die religiöse Themen aufgreift und fortschreibt, sie verfremdet oder provoziert, ermöglicht aber, eine festgefahrene Blickrichtung zu wechseln. Sie führt, wie im letzten Roman, die Handlungsstränge zusammen, und erlaubt somit, den Weg derer zu erkunden, die neue Denkpfade öffnen und als Verräter stigmatisiert werden.
Für einen jüdisch-christlichen Dialog lässt sich an Amos Oz, an dessen Oeuvre und an seinen Figuren viel einsehen. Daraus ließe sich aber auch einiges lernen.
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Lukas Pallitsch, Literaturwissenschaftler und Theologe, ist Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Burgenland.
Bild: Michiel Hendryckx unter CC-Lizenz