Am Ende des Jahres blickt Maria Elisabeth Aigner zurück auf eine Zeit voller Verluste und Trauer: an der Grenze zwischen altem Leben, das vergangen, und neuem Leben, das noch nicht da ist, und im Angesicht jener Grenze, hinter der eine letzte Tür aufgeht, durch die die Sterbenden gehen.
Es ist so, als würde plötzlich ein Murgang das Leben erreichen und alles mit sich reißen. Zuerst sind hier und da kleine Geröllabgänge wahrnehmbar bis es Gewissheit wird und sich die Gesteinsmassen und der Schlamm nicht mehr aufhalten lassen. So ungefähr habe ich das Hereinbrechen der lebensbedrohlichen Erkrankungen in meinem familiären Umfeld in den letzten Monaten erlebt.
Zeitlich knapp versetzt haben mein Schwager und meine Schwester entsprechende Diagnosen erhalten. Zeitlich überlappend haben sich Pflege, Begleitung und Abschiednehmen gestaltet. Zuerst ist mein Schwager gestorben, dann gut zwei Monate darauf seine Frau, meine Schwester. Das Leben ist kontingent. Wir wissen, dass Ereignisse dieser Art eintreten können. Dennoch wünschen wir sie uns nicht, vertrauen darauf, dass sie uns nicht ereilen, dass unser Leben von Glück, Erfolg und Zuwendung bestimmt ist.
Alle Kräfte sind gefordert.
Wenn die Moräne im Gang ist, heißt es alle Kräfte zu mobilisieren, sich Schritt für Schritt dem Prozess hingeben, Entscheidungen zu treffen, da zu sein, zu horchen, zu spüren, was als Nächstes zu tun ist. Dazwischen sind Aufräumarbeiten zu tätigen, ist zu eruieren, was zerstört ist, was noch funktioniert, wo ein Stück Leben trotz allem in Leichtigkeit gelebt werden kann. Das Leichte stellt sich nicht so einfach von selber ein, man muss es bewusst suchen und sich ihm hingeben, trotz allem.
Als Geschenk erscheint es, wenn das Dunkel, der Schrecken nicht verschleiert werden müssen, wenn Kräfte und Formen des Zusammenhalts familiär spürbar werden. Dies ermöglicht wache Präsenz und verhindert das Abtauchen in die Verdrängung. Wenn es gelingt, sich dem Dunkel der Nacht zu stellen, mit dem Tod auf Tuchfühlung zu gehen, ja, sich von ihm beinahe berühren zu lassen, heißt das noch lange nicht, dass danach mit Sicherheit das Licht entgegenströmt. Da nehmen zuerst noch die Zonen der Leere, die Verzweiflung, die Taubheits- und Angstgefühle Gestalt an. Dass das Leben sich nach der Moräne wieder leicht anfühlen kann, dass es an Tiefe und Frieden gewinnt, das kommt erst später.
Die Verwüstung, die ein Murenabgang hinterlässt, teilt das eigene Leben und das der nicht unmittelbar betroffenen Menschen privat wie beruflich in zwei Welten. Es scheint keine Brücken zu geben zwischen dieser, meiner Welt und jener der anderen. Das Schlimmste, sind nicht die Verwundungen, die das Schicksal einem zufügt, sondern das Verhalten der Umwelt. Die Ignoranz, das So-tun-als-ob-nichts-Wäre stoßen einen tiefer in die Wunden als alles andere das zu bewältigen ist.
Problematische Reaktionsmuster
Krankheit und Verfall, Sterben und Tod lösen Gegenübertragungen und Reaktionsmuster aus, die für die Betroffenen problematisch sind. Der Satz, den ich am öftesten in diesen Monaten gehört habe war: Melde dich bitte, wenn du etwas brauchst! Wie soll ich mitten in den Schlammmassen herausfinden, was ich brauche? Woher soll ich die Kraft nehmen, den Telefonhörer in die Hand zu nehmen, geschweige denn eine Nachricht, einen Wunsch, eine Bitte zu formulieren? Die Welt dreht sich weiter – für die anderen so wie bisher, während für mich nichts mehr so ist, wie es war.
Es ist verständlich und dennoch ist es bitter, dass in der Geschäftigkeit des Alltags sich kaum wo ein Raum für das Unaussprechliche, die geweinten und nicht geweinten Tränen, das stumme Schweigen auftut. Melde dich, wenn du etwas brauchst. Bislang hatte ich diesen Satz als wohlwollende Einladung verstanden. Als der Lärm des nahenden Gerölls lauter wird, empfinde ich ihn wie ein Schutzschild, das mein Gegenüber wie einen Panzer vor sich herträgt.
Es gibt Betroffenheitsfixierungen (Das ist ja der blanke Horror!), zum Ausdruck gebrachte Handlungsunfähigkeit (Was kann man tun?) oder Resignation und Rückzug (Das Leben geht weiter.) Ich erlebe Ignorieren, Intellektualisierung, fassadenhaftes Verhalten. Menschen begegnen mir, als ob nichts wäre, als sei nichts passiert, als ob sie nichts wüssten. Ich spüre das empathische Bemühen und damit einhergehend die große eigene Unsicherheit und Verletzlichkeit meines Gegenübers. Ich kann es verstehen und dennoch spüre ich die Sehnsucht nach Austausch und Einklang, nach Teilen, Teilnehmen und Teilhaben.
Engel – en passant
Und dann gibt es die unscheinbaren, unaufgeregten, selbstverständlich agierenden, Engeln. Es gibt sie wirklich. Sie tauchen en passant auf. Nicht in großen Mengen, aber im Nachhinein betrachtet an der richtigen Stelle und zum richtigen Zeitpunkt. Es gibt sie – jene, die ohne Angst vor Zurückweisung riskieren zu fragen: Magst du erzählen? Die lange nicht gesehene Freundin, die ihrer Betroffenheit ohne Worte mit einer kurzen festen Umarmung Ausdruck verleiht.
Es gibt sie: Diejenigen, die im Alltag die hauchdünnen seidenen Fäden des Verstehens spinnen – durch einen offenen, schutzlosen Blick in meine Augen, eine stumme Geste, ein riskiertes, ausgesprochenes Wort. Es gibt sie: die Menschen, die alle paar Tage eine Whatsapp-Nachricht schicken. Ein Bild, ein Gruß, ein Foto. Ohne Erwartung, dass ich antworte. Einfach so, um Kontakt zu signalisieren und zu halten, ein Kontakt, der mich tröstet, begleitet und leben lässt.
In diesen Tagen kommt mir ein Satz von Botho Strauß wieder in den Sinn, der angesichts der Erfahrung von Sterben und Tod eine neue Dimension erhält: An der Küste des Himmels wechseln nicht Ebbe und Flut, sondern Zeit und Fülle. Während des Murenabganges, der Aufräumarbeiten und inmitten von allem, was danach kommt, ertappe ich mich immer wieder dabei, gedanklich die Küste des Himmels abzuschreiten.
Im Dazwischen
Ich bewege mich irgendwo dazwischen – zwischen dem neuen Leben, das noch nicht da ist, nachdem das alte vergangen ist und dieser Grenze, hinter der eine letzte Tür aufgeht, durch die die Sterbenden gehen. Uns Lebenden bleibt dieser Schritt einstweilen noch versagt, aber wir wissen, um seine Unausweichlichkeit. Ich bin dankbar, dass es die seidenen Kontaktfäden gibt und lausche inzwischen dem Gezeitenwechsel von Zeit und Fülle.
Maria Elisabeth Aigner ist Professorin am Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz.
Photo: Maria Elisabeth Aigner