Was ist eine zeitgemäße Theologie? Wie lässt sich Theologie lernen? Wolfgang Beck entwickelt seine Gedanken an der Kunst von Marcel Duchamp, konkret an einer Schneeschaufel.
Ich kann mich seit kurzem für Schneeschaufeln begeistern. Ich sehe sie jetzt, im Mai, mit anderen Augen, nachdem ich in einer aktuellen Ausstellung zum Werk des Künstlers Marcel Duchamp im Frankfurter Museum für Moderne Kunst eine Schneeschaufel gesehen habe. Sie lehnt dort unspektakulär an der Wand. Der Maler und Bildhauer hatte bei seinem Besuch in den USA erstaunt festgestellt, dass die Amerikaner*innen eigens konstruierte Schaufeln benutzen, um den Schnee vor dem eigenen Haus zu entfernen. Das kannte er aus seiner französischen Heimat nicht.
Entscheidend: Wahrnehmungskompetenz.
Es hat ihn so beeindruckt, dass er in der Schneeschaufel ein Kunstwerk erkannt und sie in sein Werk aufgenommen hat. Marcel Duchamp hat viele Alltagsgegenstände in sein künstlerisches Schaffen integriert. Er hat Kunst nicht als Machen, sondern als Entdecken verstanden und ihr damit in der Mitte des 20. Jahrhunderts einen wichtigen Impuls gegeben, der m.E. auch für das Verständnis von Theologie in der Spätmoderne von zentraler Bedeutung ist. Für diese Form von Theologie ist die Wahrnehmungskompetenz von entscheidender Bedeutung. Sie ist mit Elementen verbunden, mit denen sich auch Duchamp beschäftigt hat und in denen sich lohnende Desiderate, Leerstellen ausmachen lassen. Mit ihnen wird erkennbar, was auch der spätmodernen Theologie fehlt:
Von möglichst vielen gegenwartskulturellen Phänomenen aus dem Tritt bringen lassen.
Mit der Suche nach Kunst wird auch eine Suche nach Theologie in den Alltagspraktiken, in den Biografien und gesellschaftlichen Kontexten wichtig. Theologie lässt sich nicht primär „haben“ oder „verwalten“, nicht verteidigen oder begründen. Deshalb ist es so wichtig, dass Theologie sich mit allen oder wenigstens möglichst vielen gegenwartskulturellen Phänomenen beschäftigt und von ihnen aus dem Tritt bringen lässt. Solche Theologie lässt sich primär entdecken, gerade dort, wo sie nicht explizit als solche gekennzeichnet ist. Man kann deshalb zur Kunst von Duchamp sagen, dass es ein Widerspruch ist, sie in Museen und Ausstellungen zu präsentieren. Mit diesen Widersprüchen müssen Menschen aber auch in ihren sonstigen Lebensvollzügen umgehen. Die Widersprüche und Aporien nehmen weder der Kunst noch der Theologie ihre Kraft, sondern verweisen auf ein zweites, zentrales Element:
Humor als grundlegende Kompetenz, mit den Widersprüchen der eigenen Existenz umzugehen.
Duchamp musste damit leben, dass eine ganze Reihe von seinen Kunst-Installationen nicht als solche erkannt wurden und sogar aus seinem Atelier verschwanden. Das Einzige, womit sich für Außenstehende die Kunstwerke identifizieren ließen, war seine Signatur. Um mit dieser Situation umzugehen, brauchte es für ihn und sein Umfeld Humor. Humor ist die grundlegende Haltung und Kompetenz, um mit den erlebten Widersprüchen der eigenen Existenz umgehen und mit ihnen konstruktiv spielerisch umgehen zu können. Im 21. Jahrhundert wird m.E. unübersehbar, wie sehr den etablierten theologischen Ansätzen der Humor fehlt. In ihm liegt die Fähigkeit, sich selbst relativieren, Widersprüche schmunzelnd begleiten und Streit nicht eskalieren lassen zu müssen. Humor trägt auch in theologische Aussagen den Vorbehalt des Vorläufigen und der zu erwartenden Korrektur ein. Allerdings gelingt Humor im Miteinander manchmal nicht, er kann Missverständnisse erzeugen oder sogar Ärger. Am Humor wird deshalb ein drittes Desiderat erkennbar:
Dem Risiko des Uneindeutigen ausgesetzt.
Duchamp setzte seine Kunst dem Risiko des Uneindeutigen aus. Er überließ es einem offenen Rezeptionsprozess, ob Menschen in seinen Werken das Großartige sehen konnten, was er darin sah. Deshalb gehört zu seinem Arbeiten die Bereitschaft zum oder sogar die Lust am Risiko. Dieses Risiko bzw. die Risikofreude halte ich für etwas, was gerade auch gegenwärtiger Theologie über weite Strecken fehlt.1 So wie dem Humor das Risiko des Missverständnisses und der Empörung anhängt, so gehört zur Kunst Duchamps das Risiko der Lächerlichkeit und der Nichtbeachtung.
Eine spätmoderne Theologie braucht deshalb eine Freude an dem Risiko, sich mit der persönlichen Positionierung angreifbar zu machen, sich mit der eigenen Themenwahl lächerlich zu machen oder sich mit einem spielerischen Konstellieren unterschiedlicher Methoden und Perspektiven angreifbar zu machen. Wo Theologie stattdessen „auf Nummer sicher geht“, steht sie in der bedrohlichen Gefahr, zur Ideologie zu verkommen.
Die Theologie braucht das Gefallen am Risiko schon deshalb, weil jede Rede von Gott und Glaube mit der automatischen Anfrage einhergeht, dass ihr Gegenstand ihr selbst entzogen bleibt. Theolog*innen reden immer über Dinge, von denen sie ahnen, dass sie auch ganz anders sein könnten. Manche lässt dieses Risiko in Ehrfurcht und Ängstlichkeit erstarren. Das halte ich für tragisch.
Trainingsfeld feinschwarz.net
Die drei genannten Elemente, die ich in dem Kunstverständnis von Duchamps ausmache, stellen auch für theologische Diskurse eine zentrale Basis dar. Auf ihr können vielfältige Perspektiven und theologische Suchprozesse entwickelt werden, wie sie sich ja auch in der Pluralität von Beiträgen hier im Theologischen Online-Feuilleton feinschwarz.net abbilden. Sie stellen gerade in ihrer Vielfalt ein für Redaktion und Leser*innen wertvolles Trainingsfeld für den Umgang mit gesellschaftlicher und theologischer Unübersichtlichkeit dar, die einer auf offenem Suchen, Humor und Risikofreude aufbauenden Theologie zur Anregung wird.
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Text: Prof. Dr. Wolfgang Beck, Mitglied der feinschwarz-Redaktion, Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Homiletik an der PTH Sankt Georgen, Frankfurt/M.
Bild: Ausstellungsplakat Marcel Duchamp 2022, Wolfgang Beck.
- Beck, Wolfgang, Ohne Geländer. Pastoraltheologische Fundierungen einer risikofreudigen Ekklesiogenese, Ostfildern 2022. ↩