Debatte um die Analytische Theologie (Teil 2): Feinschwarz.net veröffentlicht die Beiträge einer Onlinediskussion der AG Dogmatik und Fundamentaltheologie. Heute: Das Statement von Thomas Schärtl-Trendel.
Methodenstreitigkeiten gab es in der Arbeitsgemeinschaft Dogmatik und Fundamentaltheologie schon immer; so manche unserer Tagungen war vom Streit um die richtigen Ansätze geprägt. Nachwuchswissenschaftler*innen waren manchmal irritiert, gelegentlich fasziniert von der Art und Weise, wie die Klingen gekreuzt wurden. Meistens gelang es, einen moralisierenden und politisierenden Ton zu vermeiden, weil jede/r den Grundsatz im Kopf hatte, dass es einen paradox anmutenden Grundsatz gibt, der besagt, dass die Schärfung des Eigenen das Andere, von dem man sich abgrenzt, voraussetzt, dass man in ein und derselben Geste das Andere abwertet und zugleich aufwertet.
Wende in der systematischen Theologie
Aber ich habe das Gefühl, dass seit 2017 eine Wende in der systematischen Theologie passiert ist – zufällig oder eben nicht zufällig in dem Jahr, in welchem Benedikt Göckes Herder Korrespondenz-Artikel für Wellen sorgte und das Handbuch für Analytische Theologie auf den Markt kam. Es folgten danach die Jahre der Freiheits-Streitschriften (2018 bis 2020), aber auch der Debatten um den theologischen Realismus (2020 bis 2022) oder die Frage nach der Zuträglichkeit der Metaphysik etc. Wer schon etwas länger durch das theologische Dorf irrt – so wie ich – wird auch einräumen, dass diese Debatten von Weitem von alten Diskussionen um Denkformen (freiheitstheoretische, anerkennungstheoretische, phänomenologische, einheitsmetaphysische Theologie) beeinflusst wurden, die damals mit den klingenden Namen der großen theologischen Standorte verbunden waren. Sollte man die jetzigen Auseinandersetzungen also nicht gelassener sehen: als Wiederholung alter Schulstreitigkeiten und Diskussionen – mit neuen Protagonist*innen und variierten Ansätzen? Aber ab wann wird die Wiederholung fad oder gar zur Farce?
Kritik am analytischen Denken, an der analytischen Religionsphilosophie, Gotteslehre oder Metaphysik kenne ich in- und auswendig. Von den Stilen der Theologie (publiziert 2015 in ratio fidei) bis zur QD Analytische und Kontinentale Theologie im Gespräch (2021) gab es immer wieder Anfragen, die durchaus nicht zimperlich waren. Aber gleichzeitig gab es, wie diese Publikationen zeigen, den nicht abreißenden Gesprächsfaden, die honorigen Debattenforen u.a.m.
Andere Kritiken erwartet
Vor diesem schon bekannten Hintergrund hätte ich für die Gegenwart andere, immanentere systematisch-theologische Kritiken an der Analytischen Theologie erwartet, auf die zu replizieren auch nicht gerade einfach gewesen wäre. Zu denken wäre etwa an eine Kritik im Stil von Theologie, den man bei Christian Danz findet und den man einen Neo-Schleiermacherianismus nennen könnte: Wenn Theologie tatsächlich nur das religiöse Bewusstsein zum Gegenstand haben kann, dann ist jeder Versuch jenseits der Beschreibung und Analyse des religiösen Bewusstseins noch etwas über Gott – Gottes Eigenschaften oder Gotteskonzepte – aussagen zu wollen, eine Form von Grenzüberschreitung, die sich durch ihre Ergebnislosigkeit irgendwann enttarnen würde. Man könnte mit Ingolf Dalferth die Analytische Theologie und das, was die evangelischen Kollegen Schwöbel und Hermanni in der Schriftenreihe Collegium Metaphysicum versuchten, als Götzendienst verurteilen und dem Gott der metaphysischen Vernunft den rein und ausschließlich im Glauben erreichbaren Gott des Evangeliums gegenüberstellen – womit man inzwischen bei einer Form des Posttheismus landete, der sich aus besagten Gründen von der Analytischen Theologie nichts verspricht.
Ich hätte außerdem eine Kritik im Stile von Falk Wagner erwartet, die hätte herausstellen können, dass unter den Einsichten der Moderne alles Transzendente im Bewusstsein als das radikal Undarstellbare und Nicht-Repräsentierbare gelten müsse, sodass jeder Versuch, sich dem, was mit „Gott“ bezeichnet wird, mit einer sozusagen begriffsoptimistischen Attitüde zu nähern, sich in Dialektiken verheddert, weil im religiösen Bewusstsein immer nur die Grenze zwischen dem Transzendenten und dem Immanenten angezeigt werden könne, ohne dass sich diese Grenze begrifflich noch einmal einholen ließe. Wie gesagt: Alle diese Anfragen haben und hätten ja von sich aus schon ein enormes Gewicht; und es wäre spannend gewesen zu sehen, ob eine Eleonore Stump, eine Marylin McCordAdams und die modernen Klassiker der analytischen Religionsphilosophie, die ich so gerne zitiere, mir und meinen Peers einen gangbaren Ausweg hätten bieten können.
Kirchenpolitische Zuschreibung
Aber mit dem von Christian Bauer verwendeten Etikett „vorkonziliar/Konzilsproblem“ kommt eine neue, dezidiert kirchenpolitische Zuschreibung herein, die weit über die theologiepolitischen Claim-Markierungen, deren problematische Seiten wir in der Arbeitsgemeinschaft seit Jahrzehnten immer wieder beobachten müssen, hinausgeht. Dieses Etikett war und ist, wie Godehard Brüntrup so treffend sagte, die „nukleare Option“. So ein Etikett zu verteilen, präsentiert eine Strategie, die nicht mehr darauf ausgerichtet ist, dass ein theologisches Paradigma sich ehrlich macht oder aufgeklärt wird, sondern – ganz einfach –, dass es verschwindet. Auch die rhetorische Dimension von Christian Bauers Artikel in der ThRev war für mich überraschend: Wir sind Ironie und Polemik als Mittel gewohnt, aber sein Text war weitgehend – in meiner Wahrnehmung – ironiefrei; er war eher warnend und mahnend, ja fast im Stil eines Enthüllungsaufsatzes geschrieben. Dieser Debattentonfall stellt eine Veränderung gegenüber den seit 2017 laufenden Diskussionen dar.
Ich konnte mir auf Christian Bauers Diagnosen und Thesen zunächst auch keinen Reim machen: Wieso ignoriert die Analytische Theologie angeblich die Erkenntnistheorie des Konzils? Wieso ist die Analytische Theologie angeblich politisch blind oder steht sogar rechts? Wieso steckt sie angeblich unter einer Decke mit der Radical Orthodoxy? Wieso ist ihre Wissenschafts- und Vernunftform zu wenig zeit-sensibel und daher grundsätzlich problematisch?
Theologie alter weißer Männer?
Noch rätselhafter waren für mich zudem einige Schlüsselwörter, die Bauer und später auch Michael Schüßler in ihren Artikeln bzw. Statements verwendeten: „Epistemologische Synodalität“, „French Theory“, „Postkoloniale Theologie“, „situiertes Wissen“. Interessant fand ich zunächst Schüßlers Hinweis, dass es wieder an der Zeit sei, dass die Fundamentaltheologie eine Handlungstheorie entwickle, aber dass diese vermutlich bereits von einer Frau aus dem globalen Süden verfasst würde. Dieser kleine Nebensatz liest sich wie eine codierte Formel, die im Klartext meint, dass die Theologie alter, weißer, europäischer Männer ausgedient hat.
Nach einiger Lektürearbeit meine ich eine gewisse Ahnung bekommen zu haben, worauf Bauer und Schüßler abzielen, ja auch – woher die Verve der Wortmeldungen, der mahnende oder warnende Tonfall herstammen. Was Christian Bauer mit „French Theory“ bezeichnet, ist – soweit ich das überblicke – ein sehr diversifiziertes Theorienkonglomerat, das sich auf Foucault und Derrida, teilweise auf Deleuze zurückbezieht, aber auch Elemente der Weiterentwicklung der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos aufnimmt. Dieses Theorienkonglomerat wurde – interessanterweise – nicht in Frankreich, sondern in den USA überhaupt erst in eine anwendungsorientierte Theoriengestalt gegossen (so viel zum Etikett „kontinental“) und fand einen ersten Resonanzboden in der Literaturwissenschaft, in der Soziologie und in der kritischen feministischen Theorie. In der zweiten und jüngsten Phase spielen diese Ansätze in der Antirassismusforschung, in der Queer Theory, in der (Dis-)Ability-Theory oder in der Body-Shaming-Analyse und natürlich in den Postcolonial Studies eine enorm einflussreiche Rolle.
Fragile partikulare Identitäten
Mit diesen Erweiterungen und der sich dadurch zuspitzenden politischen Agenda werden auch die Wasserzeichen dieses Denkens sichtbar: Es geht um die Aufdeckung von Machtstrukturen und Oppression; diese Machstrukturen werden, so heißt es, performativ erhärtet und ausgeübt, unsere fragilen partikularen Identitäten wiederum sind (immer nur) performativ (Judith Butler) erarbeitet oder bekräftigt oder – im Unterdrückungsfalle – übergestülpt: der von Polizisten bedrängte Schwarze, der an der Partizipation von uns zum Behinderten Stigmatisierte, die auf Rollenerwartungen festgelegte Cis-Frau … Befreiung kann somit immer nur in der Änderung der Performanz erreicht werden, die aber verhindert wird, wenn man – und hier avanciert die Methodik der analytischen Theologie zum erklärten Gegner – metaphysisch an Identitätskonstitutionen festhält. Denn aus der genannten Sicht zementiere jedes metaphysische Theoriegebäude gerade wegen seines Rekurses auf Notwendigkeiten und Essenzen dasjenige als unabänderlich, was lediglich performativ an eine marginalisierte Person von einer dominanten Gesellschaft oder Ethnie oder kulturellen Situation … an sie herangetragen wird.
Bis hierher würde ich auf weite Strecken mitgehen, das Performative unterstreichen. Ich würde die metaphysische Fragestellung unter dem Stichwort einer Hermeneutik der Aktualität verteidigen und gegenüber einer Hermeneutik des Verdachts in Schutz nehmen.
Erstpersönlich partikulare Erfahrung
Aber ich schätze, dass diese Einverständnisversuche mir oder dem analytisch-theologischen Projekt wenig neuen Kredit bringen werden. Denn nach der Lektüre von Capers, Coates, Cooper, DiAngelo, Gray, Jagose, Kendi, Spivak u.a. habe ich langsam verstanden, was hinter den Schlüsselbegriffen der von Christian Bauer herangezogenen „French Theory“ steht und warum sich theologische Diskurswelten in atemberaubender Geschwindigkeit voneinander entfernen: Wenn beispielsweise Kompetenz wie Status als Produkt asymmetrisch performativer Zuschreibungen gesehen werden, bedeutet der Rekurs auf synodale Epistemologie, dass die Kerningredienzien der in der analytischen Erkenntnistheorie hochgehaltenen Wissenstheorie – wissenschaftliches Wissen ist durch kanonische Verfahren und Kompetenz gerechtfertigtes wahres Annehmen – verworfen werden müssen, damit die erstpersönlich partikulare Erfahrung als Wissen gelten kann.
Zudem ist eine von weißen, männlichen, beamtenrechtlich privilegierten Professoren formulierte Theologie in der theologisch adaptierten French Theory nicht einfach ein Paradigma unter anderen, sondern stellt im Grunde eine Verkehrung des genuin christlichen Glaubens dar, der im Symbol des Gekreuzigten ja gerade die permanente und unermüdliche Aufdeckung der Marginalisierungsmechanismen beinhalte, die dann nicht gelingen könne, wenn es nicht die Marginalisierten sind, die sich theologisch artikulieren … Wenn dann noch die These hinzukommt, dass man nicht unpolitisch sein könne, weil jeder, der die Machtmechanismen nicht entlarvt, sie perpetuiert und sogar stützt, wird sehr schnell klar, warum die seelenruhige Theorienverliebtheit analytischer Zirkel ein politisches Ärgernis darstellt. Und wenn man dann noch die Annahme ergänzt, dass das Zweite Vatikanische Konzil mit Gaudium et Spes zeichentheoretisch und performativ genau das theologisch sagen wollte, was sich mit der French Theory nun wirklich explizit darstellen lässt, dann ist jeder, der die French Theory nicht als theologisch wissenschaftstheoretischen Ausgangspunkt wählt, vorkonziliar …
Dialektiker, Hermeneutiker, Popperianer…
Als alter Dialektiker würde ich grundsätzlich einräumen, dass die French Theory wichtige Dinge vollkommen zurecht anmahnt und dass die analytische Methode von ihr lernen kann, die semantischen und pragmatischen Voraussetzungen ihrer Artikulationskontexte und auch die Künstlichkeit ihres Propositionalismus verstehen zu lernen. Als Hermeneutiker würde ich vermuten, dass wir aber nicht nur mit einer Hermeneutik des Dauerverdachts leben können, sondern auch eine Hermeneutik des Wohlwollens und des Übereinstimmens brauchen, sodass es Äußerungskontexte geben kann, die nicht von asymmetrischen Machtstrukturen durchherrscht sind. Als Popperianer würde ich fordern, dass wir offene und partizipatorische Debattenvoraussetzungen erzeugen, wobei in diesen Debatten die Falsifikation von Theorien und Thesen uns zur Suche nach dem je besseren Begriff oder Modell anleitet.
Als jemand, der Habermas mit Gewinn liest, würde ich hoffen, dass Wissenschaft auf Objektivität ausgerichtet ist, sodass erstpersönliche Erfahrung zwar eine Erkenntnisquelle, aber kein Ersatz für wissenschaftliches Wissen im Sinne einer erklärenden Theorie ist … Als jemand, der mit den Texten von Quine und Lewis gearbeitet hat, würde ich wünschen, dass wir uns die Mühe machen, auch Performativität auf ontologische Voraussetzungen hin zu befragen, weil der Vollzug von Performation voraussetzt, dass es einen legitimen Unterschied zwischen Handlungen und Naturereignissen gibt.
Klassischer Liberalismus
Christopher Insole hat die analytische Religionsphilosophie (und indirekt auch die analytische Theologie) in ihren Grundsätzen, Anforderungen und Visionen mit dem politischen Liberalismus verglichen; aber der klassische Liberalismus wird derzeit von sehr verschiedenen Seiten – und eben nicht nur von den ultrarechten Populist*innen der Gegenwart – teilweise heftigst kritisiert: u.a. als Partizipations-Placebo weißer, männlicher Unterdrücker, das den Marginalisierten verabreicht werde, um Wut und Aufbegehren mit dem Versprechen auf Chancengleichheit zu kalmieren. Der klassische Liberalismus hält noch dazu eine Form des Universalismus hoch. Liegt darin möglicherweise ein – bislang verborgener – Stein des Anstoßes? Muss der liberale Universalismus ein metaphysisches Fundament haben, das nur um den Preis der Vernachlässigung des Partikularen erkauft werden kann?
Oder ist die Situation noch problematischer: Wenn nämlich allein die Praxis der Gerechtigkeit (pace Lyotard), die wir dem Partikularen widerfahren lassen, in performativer Aktualisierung universalisiert werden kann, ist der theoretische Rekurs auf eine universale Menschennatur oder Vernunftnatur womöglich eine gefährliche Illusion. Das Verteidigen eines Modus-Vivendi-Liberalismus (David McCabe), dem ich irgendwie immer noch anhänge, wird in dem Moment konservativ, in dem man sich zu einer anti-utopistischen Auffassung von politischem Tun bekennt und zugibt, dass man nicht daran glaubt, dass sub specie mundi die geschuldete Anerkennung des Partikularen in einer, radikale Chancengleichheit eröffnenden, Weise gelingen wird.
Nicht auf politische Agenden festgelegt
Aber weder die Analytische Philosophie noch die Analytische Theologie sind grundsätzlich auf inhaltliche politische Agenden festgelegt; eine Theorie der Wirkung von Macht und Unterdrückung kann auch über eine Ontologie der Artefakte und Institutionen und sozialen Strukturen (Sally Haslanger) formuliert werden. Wäre ein Projekt „Foucault Meets Searle“ oder „Butler Meets Kripke“ nicht spannend und eines längeren, geduldigen Theorie-Experimentes wert? Nur der Gedanke, dass das Formulieren solcher Theorien selbst schon eine Perpetuierung von Unterdrückungsstrukturen wäre, ließe sich analytisch vermutlich nicht mehr produktiv einholen.
Für mich ist nicht nur die Zukunft der analytischen Theologie eine brennende Frage, sondern auch, wohin Christian Bauers Weg zu einer postkolonialen Theologie führt. Steht uns eine Revision (post-koloniale Theologie) oder eine Revolution (de-kolonialisierte Theologie) unserer theologischen Arbeit ins Haus? Bauers „French Theory“ scheint – und das lässt sich an den Autorinnen und Autoren, die diese Ansätze auf konkrete Felder applizieren, belegen – ein starkes anderes Paradigma als Abstoßmaterie zu brauchen. Wäre diese in der Logik der Sache liegende Abstoßung auch ohne Delegitimierung möglich?
Prof. Dr. Thomas Schärtl-Trendel ist Professor für Fundamentaltheologie an der Universität München.
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