Mit dem zentralen und zugleich herausfordernden Begriff des Anatheismus in der Religionsphilosophie setzt sich René Dausner auseinander. Mit ihm wird die bloße Gegenüberstellung von Heiligem und Weltlichem neu bedacht.
Der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor ist in der theologischen Szene kein Unbekannter. Zu Recht. Denn gemeinsam mit Jürgen Habermas wurde ihm im Jahr 2015 der mit 1,3 Millionen Dollar dotierte Kluge-Prize verliehen, der als Ersatz für den leider nie ausgelobten Nobelpreis für Philosophie gilt. Dass Taylor dieser hohen Ehre würdig war, hatte er spätestens mit seinem höchst lesenswerten, weil instruktiven Buch „Ein säkulares Zeitalter“ belegt, das im Jahr 2009, also zwei Jahre nach dessen englischer Originalpublikation im Deutschen erschienen ist. Vor diesem Hintergrund gewinnt eine Aussage ihr volles Gewicht, die Charles Taylor in einem Gespräch mit dem US-amerikanischen Religionsphilosophen Richard Kearney geäußert hat. Im Oktober 2013 hatten sich beide in Boston zu einem Gespräch getroffen, das nun auch auf Deutsch in dem Band Revisionen des Heiligen. Streitgespräche zur Gottesfrage (im Folgenden Seitenangaben in runden Klammern) erschienen ist und in dem Taylor bereits eingangs konzediert: „Nun ich wollte, ich hätte, als ich mein Buch schrieb, Ihren Begriff anatheism gekannt.“ (109)
Die Gottesfrage neu denken.
Anatheism? Anatheismus? Auch hierzulande ist weder dieser Begriff noch die damit einhergehende Konzeption geläufig – trotz der von Taylor konstatierten Nähe zu seinem eigenen Denken: „Er hätte sehr gut mit meiner Idee des Wiederglaubens […] zusammengepasst, nachdem wir unsere dogmatischen Gewissheiten hinter uns gelassen haben. Es gibt verschiedene Marken von Dogmatismus – atheistische und theistische –, worauf Sie in Ihrem Buch hinweisen.“ Gemeint ist das Buch „Anatheism. Returning to God after God“, das Richard Kearney vor fast zehn Jahren veröffentlichte und dessen Rezeption in Deutschland weithin ausgeblieben ist. Erstaunlicherweise, wenn man in Rechnung stellt, dass in anderen europäischen Ländern Kearney längst wahrgenommen wird. Der belgische Fundamentaltheologe Lieven Boeve setzte sich bereits sehr früh mit Kearneys Werken auseinander und an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der tschechischen Karls-Universität in Prag ist unlängst eine Dissertation zu Kearneys Werk entstanden. Warum tut sich die deutsche Theologie mit Kearneys Denken so schwer? Und worum geht es?
Die Wiederentdeckung der Heiligkeit
Die erste Frage ist relativ leicht zu beantworten, hat sie doch mit dem gegenwärtigen Standing der phänomenologischen Philosophie in Deutschland insgesamt zu tun. Denn anders als in Deutschland steht die Phänomenologie in den meisten Ländern sehr hoch im Kurs: in Frankreich, Italien, Japan sowie in den USA und hier zumal in dem von Jesuiten geprägten und geleiteten Boston College, an dem der gebürtige Ire Richard Kearney seit 1999 forscht und lehrt. Kearney, der wichtige geistige Einflüsse nicht nur seinem Doktorvater Paul Ricœur, sondern auch Emmanuel Levinas verdankt, entwickelte einen eigenen Denkansatz, der auf die religionsphilosophischen und theologischen Herausforderungen des frühen 21. Jahrhunderts reagiert. Hier stoßen wir auf die zweite Frage, die schwieriger zu klären ist, weil sie auf ein Grundverständnis der Religionsphilosophie Kearneys zielt. Der Terminus für diesen Denkansatz, der auf Deutsch so fremd wie vielsagend „Anatheismus“ heißt, wurde von der Philosophin und Künstlerin Sheila Gallagher umschrieben als „die Idee einer Rückkehr zu Gott ‚nach‘ Gott, der Wiederentdeckung des Heiligen im Zufall, des Ikonischen im Gewöhnlichen, des Höchsten im Niedrigsten. Hier vermischt sich das Sakrament mit dem Banalen, und Transzendenz kann sich in den meisten basalen oder alltäglichen Dingen finden.“ (19)
im Weltlichen, durch das Weltliche,
vorwärts auf das Weltliche
Der Begriff „Anatheismus“ ist ein Neologismus, entstanden aus der Kombination der griechischen Vorsilbe „ana-“, die Kearney als die doppelte Bewegung „zurück“ (back) und „erneut, wieder“ (again) umschreibt, mit dem ebenfalls doppelt codierten Substantiv A-/Theismus. Der Rückgang auf das Moment vor der Unterscheidung zwischen Theismus und Atheismus erlaubt es, beide Argumentationsgänge angesichts ihrer je eigenen Plausibilität sowie angesichts des je eigenen Defizits ernstzunehmen. „Der Anatheismus ist kein Atheismus, der die Welt von Gott befreien möchte, indem er das Heilige zugunsten des Weltlichen zurückweist. Ebenso wenig ist er ein Theismus, der Gott von der Welt befreien will, indem er das Weltliche zugunsten des Heiligen zurückweist. Er ist aber auch kein Pantheismus (ob überliefert oder New Age), der das Weltliche und das Heilige zusammenwirft und dabei jede Unterscheidung zwischen dem Transzendenten und dem Immanenten bestreitet. Der Anatheismus sagt nicht, dass das Heilige das Weltliche sei; er sagt, es sei im Weltlichen, durch das Weltliche, vorwärts auf das Weltliche. Ich würde sogar sagen, dass das Heilige vom Weltlichen nicht zu trennen sei, dabei aber von ihm unterschieden bleibe.“ (41)
Wenn wir nicht mehr sicher wissen,
was das alles zu bedeuten hat…
Diese kurzgefasste Programmatik mag genügen, um das prospektive Potenzial des anatheistischen Denkens anzudeuten. Kearneys Reflexionen bleiben nämlich nicht bei Negativsetzungen stehen, sondern greifen weit aus sowohl in die europäische und US-amerikanische Kultur- und Literaturgeschichte als auch in die Philosophie- und Theologietradition. Die Werke von Marcel Proust, James Joyce und Virginia Woolf werden ebenso selbstverständlich in die Diskurse einbezogen wie die Bibel, antike oder moderne Philosophie. Im Unterschied zu Theismus oder Atheismus sowie den mit ihnen verbundenen Positionsbestimmungen erlaube der Anatheismus die Wiedergewinnung von zentralen „Eröffnungsmomenten“, das sind „Momente, mit denen wir alle im Leben konfrontiert werden, wenn wir nicht mehr sicher wissen, was das alles zu bedeuten hat, wenn wir uns wieder der radikalen Fragestellung, der extremen Aufmerksamkeit für das Sein öffnen – was getan, gesagt, gerufen wird – für das, was ist und was sein könnte.“ (308)
Das Risiko der Gastfreundschaft
Die Frage nach dem Heiligen und nach der Heiligkeit, die ebenfalls prominent von Hans Joas bearbeitet worden ist, bildet ein zentrales Interpretationsfeld. Vergleichbar mit dem fundamentaltheologischen Ansatz Christoph Theobalds bestimmt auch Kearney die Heiligkeit im Kontext von Gastfreundschaft. Gerade hier wird die Ungewissheit und Unsicherheit deutlich, die sich sprachlich an der Differenz von Hospitalität und Hostilität, Gastlichkeit und Feindschaft zeigt. Niemand, der einem oder einer Fremden die Tür öffnet, weiß ob es sich um Monster oder um den Messias handelt. Kearney spürt diesen Phänomenen nach und deutet sie mit Blick auf historische Personen, „die den Fremden wirklich willkommen heißen.“ (45) Kearney nennt als eindrückliche Beispiele, Dorothy Day oder Jean Vanier, wobei die jüngsten Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs gegenüber letzterem die bei Kearney bereits angedeutete Problematik des Ungewissen, Zweifelhaften aufs Erschütterndste bestätigen.
Der Anatheismus als Eröffnung
von Dialogräumen
In Zeiten, in denen nolens volens die häusliche Klausur unvermeidlich ist, kommen Literaturanregungen nicht ungelegen; auf dieser Liste sollten Kearneys Werke nicht fehlen, und nicht nur Anatheism (2010), sondern auch frühere Bücher wie The God who may be (2001) oder Strangers, Gods and Monsters (2003). Als hilfreiche Einführung in sein Denken mag das bereits genannte, erste deutschsprachige Werk Kearneys Revisionen des Heiligen dienen, das Kearneys anatheistisches Denken zur Gottesfrage mit den bekanntesten Philosophinnen und Philosophen unserer Zeit diskutiert: mit Catherine Keller, Gianni Vattimo, Julia Kristeva, Jean-Luc Marion und – neben einigen weiteren – nicht zuletzt auch mit dem zu Beginn zitierten Charles Taylor. In eben diesem Gespräch antwortet Kearney mit Blick auf die Leistung des Anatheismus, er sei ein Raum, der Eröffnung ermögliche, ein Raum, in dem „ein offener Theismus und ein offener Atheismus in Dialog treten können.“ (112)
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Autor: René Dausner, geb. 1975, Dr. theol. habil., Professor für Systematische Theologie (Dogmatik und Fundamentaltheologie) am Institut für Katholische Theologie der Stiftung Universität Hildesheim. Herausgeber der deutschen Ausgabe „Revisionen des Heiligen. Streitfrage zur Gottesfrage“, Richard Kearney u.a. Dt. Übersetzung von Karl Pichler und Irmengard Gabler. Freiburg i.Br.: Herder 2019.
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