Ein Dokumentarfilm zeigt, was rationaler Theologie nur schwer erschließbar ist. Viera Pirker über die filmische Annäherung an die Anatomie des Wunders eines neapolitanischen Marienkults.
Der italienische Dokumentarfilm erkundet die alte Praxis der Marienfrömmigkeit. Die italienische Regisseurin Alessandra Celesia hat mit ihrem neuen Film eine erzählende Dokumentation über drei Frauen und ihre Beziehungen zu einer wundertätigen Madonna gedreht. Die Madonna Dell’Arco, deren Heiligtum in der Nähe von Neapel liegt, steht seit über 500 Jahren im Zentrum einer intensiven Frömmigkeitspraxis, in die ganze Familien und Stadtviertel involviert sind und die seit vielen Jahren Ethnografie und Ritualforschung anlockt. Immer am Ostermontag verlässt das Fresko der Madonna mit dem blauen Punkt auf der Wange seinen Bildnischarakter und nimmt eine ikonenhafte Identität an.
Problematische Ekstase am Rande der katholischen Glaubenspraxis?
Die Madonna wird in diesem Bild für die Gläubigen unmittelbar erfahrbar und ansprechbar. Die etwa 30.000 fujenti, Angehörige der Madonnenvereinigungen in Neapel, ziehen in einer Prozession zu ihr, die die ganze Stadt ergreift. Beim Überschreiten der Schwelle werfen sie sich vor ihr nieder, manche geraten in Trance. Die italienische Ethnographie erkennt in der Frömmigkeitspraxis Rückblenden in antike, archaische Kultformen. Die im Sanctuarium herrschenden Dominikaner betrachten sie als problematische Ekstasen am Rande der katholischen Glaubenspraxis. Die neapolitanische Frömmigkeit umgreift soziale Schichten und Möglichkeiten, Blessuren, Leid und Hoffnung.
Ganz nah an dem Geschehen – aus der Perspektive von drei Frauen.
Alessandra Celesia führt mit dem Film ganz nah an das Geschehen heran, indem sie die Erfahrungen von drei Frauen aus unterschiedlichen Perspektiven begleitet. Die eine ist Giusy Orbinato, eine Studentin der Anthropologie, die in der Nähe des Heiligtums aufgewachsen ist und für ihre Abschlussarbeit eine Erkundung des Kultes schreiben möchte. Giusy kennt den Kult von Kindesbeinen an, ohne je praktisch daran teilzunehmen. Selbst im Rollstuhl sitzend stellt sie sehr individuelle Anfragen an Konzeptionen von Wunder und Glaube, von Leid und Anerkennung.
Die zweite ist Fabiana Matarese, die zwischen den Geschlechtern lebt und in den österlichen Tagen ganz im Kult dieser Madonna aufgeht – als Fahnenschwinger, Träger einer Statue und im Tanz. Die dritte Frau ist Sue Song, eine koreanische Pianistin, die die Musik der Stadt entdecken will. Sie daran glaubt, dass Neapel ihr Musik schenken wird. Sie ist tief angerührt von der Freundlichkeit der Madonna dell’Arco, wendet sich ihr zu und folgt einem inneren Ruf, in Neapel zu bleiben. Sie beginnt, Klavierunterricht für benachteiligte Kinder im Viertel zu geben, doch sie kommt nicht direkt mit der Ekstase in Berührung.
Der eigentümliche Bann dieser Maria liegt wie ein Schirm über der ganzen Stadt. Alessandra Celesia gelingt es, durch ihre filmische Arbeit das Gefühl ihrer besonderen Gegenwart, aber auch unterschiedliche Distanzen und Annäherungen zu Madonna und Marienkult zu vermitteln. Sie geht an der Seite von Fabiana ganz hinein ins kindliche Herz der frommen Praxis.
An der Seite von Giusy bietet sie Skepsis und Nüchternheit, gepaart mit individueller Hoffnung und Zweifel angesichts der eigenen Krankheit, die sie in Interviews und Selbstreflexionen thematisiert. Mit Sue begleitet sie die Zuschauer hin zum hörenden Herz und zur Musik, die in diesem Film eine eigene Rolle spielt. Sei es die Musik der Pianistin, die trauernd-drängende Musik der Blaskapellen auf der Prozession, aber auch ein Kirchenmusiker kommt vor, der an den kultischen Hoch-Tagen keine Arbeit im Sanctuarium hat.
Es geht hier nicht darum, die Madonna zu sehen. Es geht darum, sich von der Madonna gesehen zu wissen.
„Schau auf uns, Maria“ das sind die eröffnend gesungenen und gebeteten Sätze, und dieses Motiv durchzieht den gesamten Film, der keine Geschichte erzählt und die Zuschauer auf weiten Strecken alleine lässt mit dem, was zu sehen und zu hören ist. In einer mäandrierenden Beobachtung führt die Filmemacherin auf dem Höhepunkt des Filmes zu, Ostermontag, der Tag, an dem die große Prozession zum Sanctuarium zieht. Die Kamera ist mittendrin bei den weiß gekleideten Menschen und den bettelnden Frauen.
Sie alle spielen mit heiligem Ernst das heilige Spiel, eine archaische Liturgie, die wenig Priester braucht, weil sie ganz aus der Sehnsucht lebt. Es geht hier nicht darum, die Madonna zu sehen. Es geht darum, sich von der Madonna gesehen zu wissen. Mittendrin ist auch die Anthropologin im Rollstuhl, die zum ersten Mal an Ostermontag das Sanctuarium erlebt.
Der Film bricht durch auf die emotionale Ebene der religiösen Erfahrung.
Der Film zeigt und belässt die Menschen in ihrem Suchen, ihren Leiden, mit ihren Verletzungen und Erfahrungen. Zugleich schließt er die Möglichkeit kathartisch-ritueller Erfahrung nicht aus. Die Kamera bleibt nah an den Protagonistinnen. Der Film bricht durch auf die emotionale Ebene der religiösen Erfahrung. Diese Ebene ist rationaler Theologie schwer erschließbar. Sie ist auch nicht mystisch gekleidet, sondern rituell gebunden. „Ein Himmel voller Wunder“ zeigt Frömmigkeit, Ritual, Beziehung, Einsamkeit, Existenz, Geschlecht, soziales Miteinander und starke Traditionsanbindung.
In einer Zeit, in der die säkulare Welt den Himmel über sich geöffnet hat, spürt die Filmemacherin dem Geheimnis der Erwartung nach. Ohne explizit etwas zu untersuchen, zeigt sie mit drei nahegehenden Einzelstudien die Anatomie des Wunders.
Der intime Film ist noch bis zum 27. September in der ARTE Mediathek online.
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Viera Pirker ist Assistentin am Institut für Praktische Theologie / Religionspädagogik der Universität Wien.
Beitragsbild: Screenshot aus der ARTE Mediathek
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Film:
Anatomia del Miracolo / Ein Himmel voller Wunder, Italien/Frankreich 2017, Regie: Alessandra Celesia; Kamera: François Chambev. Zeugma Film.
Link:
https://www.arte.tv/de/videos/065324-000-A/ein-himmel-voller-wunder/
Literatur:
Natalie Göltenboth, „Basta con questo teatro“. Trancediskurse und die Herstellung von Folklore im Santuario der Madonna dell’Arco in Neapel, Zeitschrift für Kulturwissenschaft 9 (2015) 2, 97-104.