«Oh lasset uns anbeten», heisst es in einem bekannten Weihnachtslied. Und der heutige Dreikönigstag erinnert an die Sterndeuter, die zur Krippe kamen, vor dem Krippenkind niederfallen und es anbeten. Ausgehend von der Benediktsregel erschliesst Martin Werlen ein neues, weiteres Verständnis von Anbetung.
«Anbeten» kommt in der Benediktsregel nur einmal vor: Im Kapitel über die Gastfreundschaft, das mit den Worten beginnt: «Alle Fremden, die kommen, sollen aufgenommen werden wie Christus; denn er wird sagen: ‘Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen’» (RB [Regel des Hl. Benedikt] 53,1). Darin heisst es:
«Allen Gästen begegne man bei der Begrüßung und beim Abschied in tiefer Demut: man verneige sich, werfe sich ganz zu Boden, Christus wird in ihnen angebetet, der in Wahrheit aufgenommen wird» (RB 53,6f.)
In verschiedenen Übersetzungen wird das eindeutige Wort ‘adoretur’ abgeschwächt mit ‘wird verehrt’.
Der immerzu Kommende
Anbetung ist in der benediktinischen Spiritualität engstens mit Gastfreundschaft verbunden. Das ist verständlich, denn der heilige Benedikt ist überzeugt, dass Gott da ist. Dieser Glaube durchzieht die Regel von Anfang bis Ende, ja er ist die Mitte unserer Spiritualität.
Gott ist der immerzu Kommende. Von diesem Geheimnis atmet die Regel vom Anfang bis zum Schluss. Gott kommt auf den Menschen zu, er spricht ihn an.
«Höre!» (Vw [Vorwort zur Benediktsregel] 1).
«Wer ist der Mensch, der das Leben liebt und gute Tage zu sehen wünscht?» (Vw 15).
«Liebe Brüder, was kann beglückender für uns sein als dieses Wort des Herrn, der uns einlädt?» (Vw 19).
Im Abt kommt Gott auf den Mönch zu, im Gast, in den Armen, in den Kranken, in den Pilgern, in den Mitbrüdern, in den Jüngsten, in der Heiligen Schrift, in der geistlichen Lesung, in der Meditation, im Stundengebet, in jeder Situation und Begebenheit. Um das Kommen Gottes lässt Benedikt seine Mönche vor Aufgaben beten, in denen die Versuchung zum Selbermachen und zum äußerlichen Verrichten besonders groß ist: vor dem Stundengebet (RB 17,3; 18,1) und vor dem Wochendienst in der Küche (RB 35,17).
Exemplarisch für das Kommen Gottes ist genau das Kapitel 53 von der Aufnahme der Gäste, in dem Anbetung ausdrücklich vorkommt. Davon zeugen die bereits zitierten Verse. Diese Haltung wird im selben Kapitel weitergeführt. Nach der Fußwaschung sprechen nicht etwa die Gäste, sondern die Mönche: «Wir haben, o Gott, deine Barmherzigkeit aufgenommen inmitten deines Tempels» (RB 53,14). Folgerichtig bittet auch nicht der Gast um den Segen des Mönchs, sondern der Mönch um den Segen des Gastes: «Wer ihnen [den Gästen] begegnet oder sie sieht, grüße sie, wie schon gesagt, in Demut, bitte um den Segen» (RB 53,24). Diese Grundbewegung – Gott als der immerzu Kommende – ist Voraussetzung für die zweite Grundbewegung.
Der immerzu Gott Suchende
Der Mensch ist der immerzu Gott-Suchende. Deshalb ist auch die Grundfrage bei der Aufnahme eines Bruders: «Man achte genau darauf, ob der Novize wirklich Gott sucht» (RB 58,7).
Weil Gott ihm überall entgegenkommen will, kann der Mensch ihn überall suchen und in seiner Gegenwart leben. Für den benediktinischen Menschen wird alles zum Einfallstor Gottes: Erfolg und Misserfolg, Arbeit und Gebet, Einsamkeit und Gemeinschaft, Gesundheit und Krankheit, Dienst und Anbetung. In allem kann und soll Gott verherrlicht werden (vgl. RB 57,9). Deshalb soll der Mönch immer bereit sein (vgl. RB 22,6). Auch in der Nacht brennt ständig eine Lampe (vgl. RB 22,4).
Weil Gott der immerzu Kommende ist, kann der Mensch beständig sein – im jeweils gegebenen Moment und Ort Gott begegnen. Er kann ganz da sein. Alles wird wichtig. Sogar Geräte und Klosterbesitz werden als heiliges Altargefäss betrachtet (vgl. RB 31,10). Der Mönch läuft auch schwierigen Situationen und Beziehungen nicht davon. Denn auch da ist jemand dahinter. «Ich lasse dich nicht, es sei denn, du segnest mich» (Gen 32,27), sagt Jakob im Kampf mit Gott. In ähnlicher Weise kann der Glaubende dieses Wort überall dort sprechen, wo er nicht durchsieht oder sogar scheitert. Auch in unmöglichen Situationen ist Gott der Entgegenkommende (vgl. RB 68,5). Darum gibt der Mönch nicht auf, bevor er dahinter sieht. Es soll überall Segen sein. In zwischenmenschlichen Beziehungen soll es nicht Sieger und Besiegte geben, sondern Gesegnete:
«Wenn ein Bruder vom Abt oder von einem Oberen aus einem noch so geringfügigen Grund irgendwie zurechtgewiesen wird, oder wenn er merkt, dass ein Älterer innerlich gegen ihn erzürnt oder ein wenig erregt ist, dann werfe er sich unverzüglich zu Boden und liege zur Busse so lange zu seinen Füssen, bis die Erregung durch den Segen zur Ruhe kommt» (RB 71,6-8).
Auch hinter allem Scheitern ist jemand. Silja Walter hat diese tiefe Erfahrung bereits vor ihrem Klostereintritt in die einprägsamen Worte gekleidet:
Ist hinter allen Dingen,
Die scheinbar nicht gelingen,
Doch Einer, der mich liebt.
Gott ist der immerzu Kommende – der benediktinische Mensch der immerzu Gott-Suchende. Gott hat ein achtsames Herz für den Menschen – der benediktinische Mensch ein achtsames Herz für Gott. Der benediktinische Weg verbindet Theozentrik und Anthropozentrik. Es geht um ein konsequentes Ernstnehmen der Menschwerdung Gottes – von Seiten Gottes wie auch von Seiten des Menschen. «Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt» (Joh 1,14). Fridolin Stier[1] übersetzt das wörtlich: «Und Er, das Wort, ward Fleisch, zeltend unter uns.» Das ist nicht Vergangenheit – das ist Gegenwart!
Zutiefst mit dem konkreten Leben verbunden
Anbetung ist zutiefst mit dem konkreten Leben verbunden. Es wäre erschreckend, Christus in der Monstranz zu suchen und ihn in den Notleidenden zu übersehen. Was der große Prediger Johannes Chrysostomus (347–407) gesagt hat, muss uns auch heute zu Herzen gehen:
«Willst du den Leib des Herrn ehren? Vernachlässige ihn nicht, wenn er unbekleidet ist. Ehre ihn nicht hier im Heiligtum mit Seidenstoffen, um ihn dann draußen zu vernachlässigen, wo er Kälte und Nacktheit erleidet. Jener, der gesagt hat: ‚Dies ist mein Leib‘, ist der gleiche, der gesagt hat: ‚Ihr habt mich hungrig gesehen und mir nichts zu essen gegeben‘, und ‚Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.‘ […] Was nützt es, wenn der eucharistische Tisch überreich mit goldenen Kelchen bedeckt ist, während er Hunger leidet? Beginne damit, den Hungrigen zu sättigen, dann verziere den Altar mit dem, was übrigbleibt.» [2]
Auch im 20. und im 21. Jahrhundert haben wir für dieses Verständnis unseres Glaubens hervorragende Zeugnisse. Alfred Delp (1907-1945) schreibt mit gefesselten Händen in einem Brief aus dem Gefängnis:
«Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten: die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt uns dies gleichsam entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen. Wir erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott hervorströmen. Das gilt … für alles Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, liebende Antwort.» [3]
Anbetung hat zutiefst mit unserem Leben zu tun. Das hat Bischof Oscar Romero (1917-1980) in der Begegnung mit den Armen gelernt. Dort ist der 2018 Heiliggesprochene Gott begegnet – bei denen, die Unterdrückung und Unrecht erleiden mussten. In prophetischer Weise spricht Romero an, woran die Kirche in unserer Zeit krankt. Er schreckt heilsam auf, wenn er in seiner Predigt am 3. Dezember 1978 sagt:
«Wenn viele Menschen sich bereits von der Kirche entfernt haben, dann ist das darauf zurückzuführen, dass die Kirche sich zu weit von der Menschheit entfernt hat. Eine Kirche, die die Erfahrungen der Menschen als ihre eigenen verspürt, die den Schmerz, die Hoffnung, die Angst aller, die sich freuen oder leiden, am eigenen Leib verspürt, diese Kirche wird zum gegenwärtigen Christus.» [4]
Die heilige Mutter Teresa von Kalkutta (1910-1997) hat der Anbetung am Morgen in der Kapelle viel Zeit gegeben. Sie bezeugt, dass es derselbe Christus ist, den sie am Morgen empfängt und verehrt und dem sie auf den Strassen in den Sterbenden begegnet. Sie schreibt:
«Wenn ich durch die Slums gehe und die dunklen Löcher betrete – dann ist dort Unser Herr wirklich immer gegenwärtig.» [5]
Anbetung ist ein grosses Staunen vor dem Gott, der da ist, zeltend mitten unter uns. «Die Strassen, Kalighat, die Slums & die Schwestern sind zu Orten geworden, an denen Er Sein eigenes Leben der Liebe ganz lebt. [6]
Der geistliche Schriftsteller Andreas Knapp (*1958), der den Weg als Kleiner Bruder in der Spiritualität von Charles de Foucauld wagt, provoziert uns mit einem Gedicht ganz gehörig.
unser Stadtviertel
ist unser Kloster
und die belebten Straßenkreuzungen
sind unser Kreuzgang
unsere Klosterwerkstätten
sind die Fabriken
und unsere Gebetszeiten
werden von der Stechuhr diktiert
unsere Fürbitten
stehen in der Zeitung
die Probleme der Nachbarn
hören wir als Tischlesung
und ihre Lebensgeschichten
sind unsere Bibliothek
die Gesichter der Menschen
sind unsere Ikonen die wir verehren
und im leidgezeichneten Antlitz
schauen wir auf den Gekreuzigten[7]
Ein zuvorkommender Gott
Unser Gott ist ein zuvorkommender Gott. Der Mensch ist der immerzu Gott Suchende. Diesem Geheimnis können wir letztlich nur staunend begegnen – oder mit anderen Worten: In der Anbetung. Das gilt für das ganze Leben – ob wir nun in der Kirche vor dem Tabernakel oder vor der Monstranz knien oder auf der Strasse sind. Die Welt ist Gottes so voll! Nur wenn uns das aufgeht, ist Anbetung spannend und immer neu herausfordernd – auch und gerade in den fürchterlichen Geschehnissen heute.
[1]Fridolin Stier, Das Neue Testament. München (7. Auflage) 2012.
[2]Joannes Chrysostomus, In Evangelium S. Matthaei homiliae, 50,3-4, PG 58.
[3]Alfred Delp, Aufzeichnungen aus dem Gefängnis. Freiburg i.Br. 2019, 26.
[4]Martin Werlen, Raus aus dem Schneckenhaus! Nur wer draussen ist, kann drinnen sein. Freiburg i.Br. 2020, Kapitel 33.
[5]Mutter Teresa, Komm, sei mein Licht. München 2007, 198.
[6]Ebd.
[7]Andreas Knapp, Brennender als Feuer. Geistliche Gedichte. Würzburg (7. Auflage) 2014, 89.
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Beitragsbild: Wolfgang Moroder on Wiki-Commons