Nichts los in Sachen Religion im Osten der Republik? Ulrike Irrgang begibt sich auf Spurensuche in Dresden.
Dass Religion im Osten heute keine Rolle mehr spiele, wird immer wieder gern behauptet. Jüngst stellte diese These der Dresdner CDU-Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz im Gespräch mit Uwe Tellkamp (ZEIT 29.5.19) auf, wobei der Journalist Ijoma Mangold zu Recht bedauerte, dass diese Behauptung nicht der Diskussion ausgesetzt wurde. Auch im Deutschlandfunk wurde kürzlich eine Sendung über „Christsein im Osten Deutschlands“ lapidar eröffnet mit dem Kommentar der Moderatorin: „Klingt komisch, ich weiß.“ Christentum und Osten – jenseits der friedlichen Revolution vor 30 Jahren ist doch da nicht mehr viel zu holen, oder? Dabei lässt sich gerade hier im Osten hervorragend beobachten, dass Entkirchlichung nicht gleich Entchristlichung bedeutet. Am Beispiel Dresdens zeigt sich, dass in einer weitgehend entkirchlichten Gesellschaft durchaus ein produktives Interesse an Religion und Christentum zu beobachten ist, allerdings jenseits traditioneller kirchlicher Religiosität und vor allem jenseits der immer noch montags spazierenden Verteidigerinnen und Verteidiger des Abendlandes. Wohlgemerkt, dieses Interesse betrifft kaum das institutionalisierte Christentum. Die Kirchenaustrittszahlen der letzten Jahre belegen, dass die Prophetinnen und Propheten einer fortschreitenden Marginalisierung der Kirchen wohl doch Recht behalten. Aber: Die reduktive Tendenz betrifft eben die institutionelle Zugehörigkeit zu den Kirchen, nicht die biblische Botschaft, welche zu vergegenwärtigen doch eigentlich die Hauptaufgabe der Kirche(n) ist.
Entkirchlichung bedeutet nicht gleich Entchristlichung.
Drei Beobachtungen aus Dresden illustrieren, dass Religion nicht etwa pauschal „keine Rolle mehr spielt“, sondern dass sie an nicht-kirchliche Orte ausgewandert ist. Religiöses Fragen und die reflexive Auseinandersetzung mit dem textlichen Erbe des Christentums sind aus den Kirchen migriert und leben andernorts auf völlig neue Weise auf: in den Sphären der Kultur. So erzählte mir mein „konfessionsfreier“ Nachbar im letzten Dezember, dass er leider keine Karten mehr für das Stück „Das letzte Schaf“ im Theater der Jungen Generation für seine Familie „ergattern“ (welch’ Hauch von Ostalgie) konnte – alles längst ausverkauft. „Das letzte Schaf“ von Ulrich Hub erzählt auf humorvolle Weise die Weihnachtsgeschichte aus der Sicht der von den Hirten zurückgelassenen Schafe, die sich auf eigene Faust auf den Weg nach Bethlehem machen. Nur zu gern hätte er sich kurz vor dem Fest die Weihnachtsgeschichte erzählen lassen, im Theater. Ich verkniff mir die Bemerkung, dass er ja zum Trost das Krippenspiel in der Kirche anschauen könnte, weil ich ahnte, dass dieses Angebot irgendwie weniger reizvoll klingt. Ein zweites Bespiel: Wieder Nachbarn „o.B.“ (ohne Bekenntnis), im Treppenhaus … Kurz vor Weihnachten machten sie sich auf den Weg ins Dresdner Dynamo-Stadion, in welchem alljährlich ein Weihnachtslieder-Singen mit dem Kreuzchor stattfindet. Ca. 20.000 Besucherinnen und Besucher nehmen an dieser Veranstaltung teil, bei der von Prominenten das Weihnachtsevangelium vorgetragen wird. Meine Nachbarn waren begeistert. In eine Kirche gehen sie nie. Diese Show im Stadion: Nur Weihnachtsromantik? Massenevent?
Weihnachtslieder-Singen im Dynamo-Stadion
Auch außerhalb der Vorweihnachtszeit macht sich in verblüffender Regelmäßigkeit ein Interesse an der biblischen Botschaft in der Dresdner Kulturszene vernehmbar. Das kabarettistische Stück von Ellen Schaller „Natürlich hat Gott Humor“ auf der Bühne des Dresdner Societätstheaters dreht sich um den Schöpfungshymnus aus dem Buch Genesis, welcher als biblischer Bezugstext die Künstlerin zu vielfältigen Interpretationsansätzen inspirierte. Zwischen schwarzem Humor, Selbstironie und ernsthafter Prophetie wurde an diesem Theaterabend Gottesrede betrieben. Wenn Gott den Dinosaurier und den Meteoriten, das Blockflötenquartett und das Ohr, den Sonntagsgottesdienst und das Zwerchfell (!), und sogar die ewig verdrießlichen Sachsen schafft, dann muss Gott Humor haben. Interessant war bei Schallers humorvoll-ironischer Gottesmeditation, dass gerade die Schöpfungsperspektive eine Draufsicht auf die Absurditäten ihrer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ermöglichte, die es ihr erlaubte, diese als „Krone der Schöpfung“ zu dekonstruieren. Und interessant ist außerdem, dass jene eigentümliche Ausblendung der Gottesfrage, unter der ein kulturelles Interesse an Religion angeblich nur zu haben sei, hier so nicht zutrifft.
Gottesrede zwischen schwarzem Humor, Selbstironie und ernsthafter Prophetie
Die Reihe könnte fortgesetzt werden, etwa mit „Ich bin Kain“ (Theater Junge Generation) oder „Judas“ (Staatsschauspiel). Selbst im Sommertheater im legendären Bärenzwinger bekommen theaterbegeisterte Dresdnerinnen und Dresdner sowie ihre Gäste bei einem Glas Wein das Thema „Sünde“ präsentiert, in der derzeit laufenden Inszenierung „Sündige Hexen“. Diese Beispiele zeigen, dass in der Dresdner Kultur- und Theaterszene biblische Narrative aktualisiert, fortgeschrieben, transformiert, auch gegengeschrieben werden und religiöse Fragen verhandelt werden. Dies ist sicher kein Breitentrend, aber durchaus ein unüberhörbarer Ton in der hiesigen Theater- und Kulturlandschaft.
Die Wirkungsgeschichte biblischer Texte geht weiter.
Warum aber vermag dieser Befund zu verblüffen? Weil er immer noch tiefsitzende Narrative von Säkularisierung als dem Verlust und Verdunsten religiöser Traditionen anfragt. Die biblischen Textwelten und ihre Traditionen verdunsten aber eben auch im Osten nicht nur einfach ins Nirgendwo, sondern werden gerade von Künstlerinnen und Künstlern als inspirierender Tiefenstrom ihres kulturellen Erbes wiederentdeckt. Die Wirkungsgeschichte biblischer Texte geht weiter, und vielleicht gerade dann umso kreativer und unmittelbarer, wenn die traditionellen Gefäße der Tradierung der biblischen Botschaft schon vor Generationen zerbrochen sind. Vielleicht denken wir zu klein von den biblischen Geschichten von Schöpfung und Erlösung, wenn wir meinen, dass sie institutionelle Gefäße bräuchten. Vielmehr sprengen sie diese und fließen über in die Welt- und Selbstdeutung des Menschen auf seiner spätmodernen Bühne.
Warum aber zieht es Menschen in Dresden ins Theater oder ins Dynamo-Stadion, um sich biblische Geschichten anzuhören und anzusehen? Das Theater und das Stadion sind öffentliche Orte, die für jede und jeden offen sind. Auch wenn die Kirchen sich diese „Offenheit für alle“ immer wieder rhetorisch auf die Fahnen schreiben, so wirken sie auf Außenstehende doch höchst bekenntnisintensiv und gewissheitsgetränkt. Kirchen wirken nicht selten wie geschlossene Vereine, welche insbesondere aus einer hohen Glaubensverbindlichkeit leben. Weder diese Verbindlichkeit noch die vereinshafte Dichotomie von Außen und Innen wirken anziehend auf „außenstehende Zeitgenossen“ – wenngleich die intensive Zugehörigkeit aus der BeobachterInnenperspektive doch auch oft als eine Bereicherung vermerkt wird. Auch im Theater kann diese Verbundenheit untereinander ansatzweise empfunden werden. Grundlegend jedoch kann jeder und jede kommen, etwas auf sich wirken lassen und wieder gehen.
Humor drängt nicht zum Bekenntnis.
Ein weiteres Merkmal der Auseinandersetzung mit biblischen Stoffen auf den Bühnen der Stadt ist nicht selten deren Gewand der Leichtigkeit und des Humors, in dem große Fragen verhandelt werden. Humorvolle Zugänge zu biblischen Texten, wie sie z.B. Ulrich Hub meisterhaft aufzeigt, verhandeln religiöse Themen in der Schwebe von Ernsthaftigkeit und Humor, ja Humor scheint überhaupt der Weg zu sein, die Gottesfrage (wieder) stellen zu können, wie Ellen Schallers Inszenierung zeigt. Humor drängt nicht zum Bekenntnis. Humor lässt Skepsis zu. Humor legt nicht fest. Humor spielt mit verschiedenen Perspektiven und überrascht durch ungeahnte Entwicklungen. Humor erwächst, wenn sich der Klammergriff der Verbindlichkeit löst. Es ist ein genussvolles Ereignis, sich die Botschaft von der Geburt des göttlichen Kindes im Stall zu Bethlehem humorvoll erzählen zu lassen. Ist sie darum weniger wahr? Weniger wirksam? Weniger prägend?
Schöpfungstheologie im Zoo? Rechtfertigungslehre im Waschsalon? Bußtheologie im Wertstoffhof?
Es ist inzwischen in das theologische Bewusstsein eingesickert, dass Theologinnen und Theologen ein „Wagnis der Exteriorität“ eingehen müssen, wenn sie mit ihrer Botschaft in der Lebenswelt der Menschen andocken wollen. Also: Schöpfungstheologie im Zoo? Rechtfertigungslehre im Waschsalon? Bußtheologie im Wertstoffhof? Die Beispiele aus der Dresdner Theater- und Kulturlandschaft zeigen, dass sich die biblischen Hoffnungstexte bereits selbst ihren Weg in die „Exteriorität“ bahnen. Und das ist keine unwesentliche Beobachtung, wenn von einer „postsäkularen Kultur“ gesprochen wird, in welcher das Säkularisierungsparadigma im Sinne einer Verlustgeschichte verabschiedet ist. Als offene Narrative rufen biblische Erzählungen nach kreativen Inszenierungen und neuen „Verkörperungen“. Können in dieser Präsenz biblischer Hoffnungsgeschichten und religiöser Fragen in der Kulturszene einer ostdeutschen Großstadt nicht auch Spuren von Transzendenz inmitten einer säkularen Kultur gelesen werden? Christian Lehnert, der gebürtige Dresdner Dichter und Theologe, könnte dem zustimmen: „Die Frage nach ‚Gott‘ ist vielleicht bereits die deutlichste Form seiner Gegenwart, und wo er vollmundig bekannt wird, kann er ferner sein denn je.“[1]
Autorin: Ulrike Irrgang, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Technischen Universität Dresden. In Kürze erscheint ihre Dissertation „Das Wiederauftauchen einer verwehten Spur. Das religiöse Erbe im Werk Gianni Vattimos und Hans Magnus Enzensbergers“ im Matthias Grünewald Verlag.
Beitragsbild: unsplash.com, Dresden
[1] Christian Lehnert, Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter von Kult und Gebet, Berlin 2017, 21.