Elisa Prkačin bringt zentrale Ergebnisse einer von ihr durchgeführten Studie zu Prozessen lokaler Kirchenentwicklung ins Gespräch mit dem Theologen Christian Hennecke. Gemeinsam überlegen sie, welche Wirkungen diese auf die Pastoral in deutschen Diözesen zeitigen könnten.
Elisa Prkačin: Die Erfahrungen weltkirchlichen Lernens, die unter dem Begriff Lokale Kirchenentwicklung firmieren, liegen nunmehr als 20 Jahre zurück. Eine kleine Studie in Form von 50 Interviews, die im Rahmen des missio-Projekts „pastorale Lerngemeinschaft weltweit“ im Jahr 2023 durchgeführt wurde, versucht wesentliche Ergebnisse dieser Lernprozesse festzuhalten. In deutschen Diözesen ragen laut Studie besonders jene Lernerfahrungen heraus, die in den Ortskirchen auf den Philippinen und den fresh-x-Gemeinden in Großbritannien gemacht wurden. Dahinter verbergen sich zwei unterschiedliche Zugänge und Kulturen von Kirchenentwicklung. Beide bringen Inspirationen hervor, die für viele Akteure in der Pastoral bis heute eine Ermutigungsquelle für eigene Wege der Erneuerung sind. Welche Gründe gibt es dafür?
Experimente der Kirchwerdung
Christian Hennecke: So ganz unterschiedlich die Zugänge und Ausdrucksformen der kirchlichen Entwicklungen auf den Philippinen und in der anglikanischen Kirche in England sind – sie verbindet beide eine ungeheure inspirierende Kraft. Die postsäkulare Situation der Kirche von England hat – durch unterschiedliche charismatisch geprägte Akteurinnen und Akteure – begeisternde Experimente der Kirchwerdung hervorgebracht: der Sozialraum, die Bedarfe der Menschen im jeweiligen Kontext führten leidenschaftliche und geistlich gegründete Protagonistinnen und Protagonisten und ihre Teams zur Gestaltung neuer gemeindlicher Orte. Und die Atmosphäre und Leidenschaft, die Originalität und Kreativität der neuen Wege – das begeistert und lässt mit neuen Augen schauen auf die Chancen und Möglichkeiten im eigenen Kontext.
Partizipative Visionsprozesse
In der Begegnung mit dem philippinischen Pastoralinstitut Bukal Ng Tipan und dem dortigen Team wurden Kolleginnen und Kollegen nicht dazu geführt, die Kultur der Basisgemeinden einfach zu kopieren. Ganz im Gegenteil: die Inspirationskraft und Begeisterung resultierten aus sehr ähnlichen Grundperspektiven: das Hinschauen auf die konkreten Menschen und ihren Lebensraum mit seinen Bedarfen, das sich-verwurzeln im Geheimnis der Gegenwart Gottes und seines Geistes; die partizipativen Visionsprozesse führten bei den vielen Workshops dazu, sich selbst neu zu fragen, wohin und wie Evangelium und Kirche sich in unseren Kontext entwickeln können – oder wie das Team aus Bukal immer sagte: es geht um das „German face of Jesus“.
Andersartigkeit und Performativität
Elisa Prkačin: Bezogen auf ein neuartiges Lernen scheint die Entsprechung von Inhalt und Methode im Sinne einer erfahrbaren Andersartigkeit und Performativität pastoraler Praktiken die entscheidende Wirkkraft zu besitzen. Gerade die Lernerfahrungen mit dem Bukal-Team (Philippinen) zeigen, dass es auch in Zukunft auf pastorale Praktiken ankommen wird, die bewirken und vollziehen, was sie aussagen. Aus den Ergebnissen der Interviews lässt sich jedenfalls die These formuliert: Die performative Kraft des Lernens liegt vor allem in einer anderen Art und Weise und nicht einfach nur an einer anderen Umgebung. Anders gesagt: Es wird dann am meisten gelernt, wenn nicht nur zugeschaut wird (Darstellung), sondern, wenn jede/r mit hingenommen wird in ein (andersartiges) Geschehen. Worin bestehen für Dich die entscheidenden Schlüsselmerkmale eines „Anderswie“, das neuartige Lernerfahrungen des Kircheseins hervorbringen? Wie lernen wir Andersartigkeit in pastoralen Prozessen?
Ein neues Format
Christian Hennecke: Das „Anderswie“ war zuerst auch ein „Anderswo“: aber es ging nicht in erster Linie um einen Ort, sondern um eine Erfahrung des Miteinander, eine Atmosphäre, in die die Teilnehmenden gleich von Anfang an „eintreten“: meine und unsere Erfahrung der „Summerschools“, wie wir sie nannten, war geprägt durch den „Spirit“ des Teams – und das zieht sich bis heute durch diese „Workshops“. Ich erinnere mich daran, dass ein Teilnehmer – für viele andere – das ins Wort brachte: „Das ist hier kein Kurs, das sind Exerzitien im Kirchesein“. Erlebbar war ein neues Format: auf der einen Seite ging es um wichtige Inhalte, es wurden konkrete Tools vermittelt und eingeübt, aber dies geschah eben nicht in einer Abfolge von Programmpunkten, es war vielmehr immer eingebunden in ein gemeinsames Hören auf die Schrift und den Austausch darüber, und besonders wichtig waren kontextuelle liturgische Feiern, die thematisch weiterführten, aber eben auch mit der Kraft des gemeinsamen Feierns, ausdrucksstarker Zeichen und Symbolhandlungen, die die Themen und Impulse weiter vertieften. Es gab nur einige wenige Momente, in denen es einen längeren Impuls gab – meistens waren wir in Arbeitsgruppen, in denen Methoden gemeinsam erarbeitet wurden, oder in denen wir uns austauschen konnten über unsere Erfahrungen und Positionen. Und dabei spielte auch eine Rolle, dass wir miteinander gegessen und getrunken haben, dass wir auch miteinander feierten und die Nächte zusammensaßen. Es entstanden dichte Beziehungen, die oft auch über die Zeit der Workshops hinausreichten und zu intensiven Kontakten zwischen den Beteiligten über das Jahr führten.
Mystagogien
Was also war so anders? Ich glaube, wir haben miteinander gelebt und erlebt, was doch auch implizites oder explizites Lernziel des Kurses war: wie Kirche als Gemeinschaft im Geist praktisch „geht“ und gelebt wird, wie sie sich entwickeln kann. Weil wir selbst sind, was wir gestalten wollen, wurden dann Schritt für Schritt Wege geöffnet, wie wir diese Wirklichkeit durch die „Tools“ und vor allem durch die liturgischen Feiern selbst anderen zugänglich machen. Man könnte also sagen: neben der unbestreitbaren und sehr professionellen Prozessqualität der Workshops, neben den intelligenten und einfachen Tools, die wir erlernten, und neben der begeisternden Vision, die uns innerlich ansprach, waren diese Lernmomente auch Mystagogien: wir waren nicht pastoralpraktische Handwerker, die selbst und für andere einige Tools anwendeten, oder die sich mit der Frage einer shared vision beschäftigten, um diese Kenntnisse dann anzuwenden, sondern wir wurden erfahrungsorientiert mit hineingenommen in die lebendige Wirklichkeit des Kirche-werdens, die wir „von innen“ entdeckten und reflektierten. Ich denke, das macht den Charme und die Kraft und den Geist dieses Lernens aus.
Organisationale Konsequenz?
Elisa Prkačin: Aus den Ergebnissen der Interviews lassen sich drei Energiefelder weltkirchlichen Lernens beschreiben: Das erlebbare Anderswie in der schon erwähnten Entsprechung von Inhalt und Methode, die Erfahrung der Sakramentaltität eines Kircheseins, das sich in den Dienst des Leben-Könnens der Menschen vor Ort stellt („serve first“) und die Umkehr von einem einladenden Glauben („Mach mit“) hin zu einem bezeugenden Glauben, der Menschen jesuanisch zuspricht: „Dein Glaube hat Dir geholfen.“ Allerdings berichten die Befragten auch, dass in der praktischen Umsetzung vor Ort eine bleibende Herausforderung besteht, da sich viel Gelerntes in einem „Weiter wie bisher“ verliert. Weltkirchliches Lernen scheint vor allem eine biografische Inspiration zu erwirken, wo bleibt aber die organisationale Konsequenz?
Quasi als Exerzitien
Christian Hennecke: Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch in den Philippinen beim Institut Bukal Ng Tipan. Ich horchte auf, als ich hörte, dass sie pastorale Entwicklungprozesse nicht einzelnen Pfarreien, sondern nur gesamten Diözesen anbieten. „Wie macht ihr das?“, war meine verblüffte Frage. Das Format eines solchen Angebots richtete sich an das gesamte Presbyterium samt Bischof, die eine Woche lang – quasi als Exerzitien – in die Logik partizipativer Kirchenentwicklung hineingenommen werden. Ich habe Interesse geäußert, das mal zu erleben und wurde natürlich herzlich eingeladen. Das war ein intensiver Workshop, in Art und Stil den beschriebenen Summerschools ähnlich. Am Ende stand dann die Frage an Bischof und Priester, ob sie einen solchen Prozess in ihrer Diözese durchführen wollen mit Hilfe von Bukal Ng Tipan. Manche entschieden sich sofort, andere brauchten Zeit, wieder andere lehnten ab.
Strategische Gesamtentscheidung
Diese Erfahrung hat mich und uns gelehrt, dass die individuelle und biographische Inspiration ganz gewiss nachhaltig und wirkmächtig ist, dass aber organisationale Konsequenzen nur dann entstehen, wenn ein ganzes System – Pfarrei oder Bistum – diesen Weg gehen. Das bedeutet dann auch, dass es nicht reicht, wenn eine Gruppe von Leuten in der Pfarrei das will – oder einige Referent*innen eines Bistums. Es geht um eine strategische Gesamtentscheidung. Zugegeben, das ist ein langer Weg und bedarf langer Gesprächs- und Entwicklungsprozesse. Mein Eindruck ist, dass nur in wenigen Diözesen eine Leitungsentscheidung in diesem Sinne getroffen worden ist. Gleichwohl sind wirksame Teilelemente und die grundsätzliche Ausrichtung von vielen Leitungspersonen geteilt.
Hier wächst Neues
In einige Pfarreien meines Bistums erlebe ich auch, dass manche Verantwortliche oft mehr als zehn Jahre Entwicklungsarbeit in dieser Richtung geleistet haben – und das kann man merken. Dann entwickelt sich Kirche vor Ort partizipativ, kreativ, biblisch gegründet und spirituell – und sehr stark diakonisch ausgerichtet. Hier wächst Neues und entwickelt sich eine Kompetenz, die echt vorzeigbar ist.
Dr. Elisa Prkačin ist Referentin im Bistum Münster (derzeit in Elternzeit), aktuell leitet sie das Projekt „Pastorale Lerngemeinschaft Weltkirche“ bei missio Aachen und ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Pastoraltheologie an der Universität Münster. Neuere Veröffentlichung: Prkačin, Elisa: „Auf das Hören hören“. Überlegungen zu einer hörenden Pastoral im Horizont einer responsiven Phänomenologie, Münster 2023.
Dr. Christian Hennecke leitet die Hauptabteilung Pastoral im Bistum Hildesheim, neuere Veröffentlichung: Hennecke, Christian: Raus in eine neue Freiheit. Die Überwindung der klerikalen Kirche, München 2021. Hennecke, Christian: Freier und katholischer denn je: Was mich bewegt, Oberpframmern 2024.
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