Wie soll sich der Staat gegenüber den Religionsgemeinschaften in Zeiten religiöser Individualisierung und Pluralisierung verhalten? Aus der Schweizer Perspektive, aber mit Relevanz auch für andere religionsrechtliche Situationen reflektiert Daniel Kosch, Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz, die vielfältigen Implikationen des Anerkennungsbegriffs.
In der Diskussion, wie der Staat sich in der Schweiz gegenüber Religionsgemeinschaften überhaupt, speziell aber gegenüber neuen, nicht in der Schweizer Geschichte verwurzelten Religionsgemeinschaften verhalten soll, spielt ihre sogenannte «öffentliche Anerkennung» eine zentrale Rolle1. Die traditionellen Kirchen (römisch-katholisch, evangelisch-reformiert, christkatholisch [altkatholisch]) sind in fast allen Kantonen öffentlich-rechtlich anerkannt, haben also den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und dürfen Kirchensteuern erheben. Im Gegenzug verpflichtet der Staat sie, sich für die Verwaltung der Kirchensteuern demokratisch und rechtsstaatlich zu organisieren. Das führt in der hierarchisch strukturierten römisch-katholischen Kirche zum sogenannten «dualen System», in dem die pastoralen Belange in die Zuständigkeit der kirchlichen Amtsträger fallen, die finanziell-administrativen Aufgaben jedoch von demokratisch gewählten staatskirchenrechtlichen Behörden wahrgenommen werden.
Dieses Modell, die Beziehungen zwischen Staat und Kirche zu regeln, wird seit einigen Jahren intensiv diskutiert:
Aktuelle Diskussionen über die Zukunft des staatlichen Religionsrechts
- Viele sehen es als Chance (manche sogar als «Exportmodell»), sowohl für die bereits anerkannten als auch für andere Religionsgemeinschaften, weil es gleichzeitig religiöse Selbstbestimmung und Partizipation der Mitglieder der Religionsgemeinschaft, demokratische Mittelverwaltung und rechtsstaatliche Prinzipien (z.B. Gleichstellung der Geschlechter in staatskirchenrechtlichen und finanziellen Belangen) gewährleistet.
- Andere sehen es als Fehlkonstruktion, weil es dem Selbstverständnis der katholischen Kirche, aber auch des Islam oder orthodoxer Gemeinschaften nicht gerecht wird und daher mit der Religionsfreiheit nicht vereinbar sei.
- Wieder andere sehen es als Auslaufmodell, weil es nur in volkskirchlichen Verhältnissen funktioniere und für eine religiös plurale Gesellschaft nicht mehr adäquat sei und nur erhalten bleibe, weil die Kirchen ihre finanziellen Privilegien bewahren wollen.
Da insbesondere die kritischen, teils polemischen Stimmen den Fokus vor allem auf die Finanzen und die Machtverhältnisse richten, bleibt in der aktuellen Diskussion der Begriff «Anerkennung» stark unterbelichtet. Und dies, obwohl er massgeblich zum richtigen Verständnis des schweizerischen Staatskirchenrechts beiträgt und obwohl es jenen Kirchen und Religionsgemeinschaften, die die öffentliche Anerkennung anstreben, nicht primär um Geld- und Machtfragen geht, sondern tatsächlich um «Anerkennung».
Es lohnt sich daher, diesen Begriff etwas genauer zu untersuchen.
Was meint «Anerkennung»?
Sein Kern ist das Verb «kennen»: Ich kenne dich, ich nehme dich zur Kenntnis, du bist für mich nicht inexistent. Mit der Vorsilbe «er-kennen» wird das Element der Wahrnehmung und der Beziehung verstärkt: Ich weiss um deine Identität, deine Existenz ist Teil meines Bewusstseinsinhaltes. Die zweite Vorsilbe «an-erkennen» schliesslich gibt zu verstehen, dass diese Erkenntnis positiv konnotiert ist: Ich achte dich, du hast legitime Ansprüche, ich bin bereit, deine Sichtweisen, deine Bedürfnisse, deinen Beitrag zum Gemeinwohl bei meinem eigenen Handeln in Betracht zu ziehen. Ich finde es wichtig, dass du dich am gesellschaftlichen Geschehen beteiligst. Wir haben gemeinsame Werte und Anliegen – aber ich respektiere auch jene Bereiche, in denen wir uns unterscheiden. Du bist mir weder unbekannt noch gleichgültig, weder verleugne noch missachte ich dich.
Die Besinnung auf die Frage, was Anerkennung in der Tiefe bedeutet, hilft zwei Dinge besser zu verstehen, die die aktuelle Debatte um die staatliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften prägen:
Anerkennungswünsche und Anerkennungskämpfe
Erstens den Wunsch mancher Religionsgemeinschaften nach dieser öffentlichen Anerkennung. Denn Anerkennung ist für das eigene Selbstvertrauen und die eigene Selbsteinschätzung als wertvolle Person, Gruppe oder Institution unerlässlich. Die Verweigerung oder gar der Entzug der Anerkennung ist daher ein schwerer Schlag. Und weil Anerkennung auf Wechselseitigkeit angewiesen ist, beeinträchtigt Missachtung auch die Beziehungsfähigkeit: Wem es an Anerkennung mangelt, hat es schwer, sein Gegenüber zu anerkennen.
Und zweitens die Emotionen, die die Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften bei Befürworterinnen wie Gegnern weckt. Sie sind Ausdruck des «Kampfes um Anerkennung» in unserer Gesellschaft. Von diesem Kampf sagt der Sozialphilosoph Axel Honneth, dass er seit Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend von «Verwilderungen» geprägt sei2. Verantwortlich für diese Entwicklung ist seiner Ansicht nach, dass jene, die anerkannt und abgesichert sind, ihre Rechte und ihre Statusmittel «zur Befestigung von gegen die anderen Gruppen gerichteten Barrieren» nutzen. Sie stehen «einem anwachsenden Kreis von Ausgeschlossenen gegenüber, die nichts stärker ersehnen und zu erkämpfen versuchen, als überhaupt nur die Aufnahme in dieses Verhältnis rechtlicher Anerkennung».
Im Kontext des staatlichen Rechts sind bezüglich der «Anerkennung» von Religionsgemeinschaften zwei Ebenen zu unterscheiden: die Ebene des Religiösen oder Spirituellen an sich, und die Ebene der konkreten Religionen (Christentum, Islam, Buddhismus etc.) und Religionsgemeinschaften.
Staatliche Anerkennung von Religion und Religionsgemeinschaften
Die staatliche Anerkennung der spirituellen Dimension der menschlichen Existenz und der Tatsache, dass Menschen ihren religiösen Überzeugungen auf unterschiedliche Art und Weise (in Gemeinschaften, ethischen Werten, Riten der Alltagsgestaltung, Theologien, religiösen Bauwerken etc.) Ausdruck verleihen, erfolgt in der Bundesverfassung in der Form eines Freiheitsrechtes, das Teil des Grundrechtskataloges ist (BV Art. 15). Eine höhere Anerkennung als diese gibt es nicht. So anerkennt der Staat die religiöse Dimension, überlässt es aber der Freiheit jedes einzelnen Individuums, ob und wie es dieser Dimension im eigenen Leben Rechnung tragen will.
Diese staatliche Garantie, in religiösen Dingen frei zu sein, ist im weltweiten Vergleich keine Selbstverständlichkeit und in sich ein Ausdruck von Wertschätzung. Religion wird nicht verdrängt, nicht verdächtigt, aber auch nicht aufgezwungen. Sie darf anerkanntermassen sein und sichtbar sein.
Die Anerkennung von konkreten Religionsgemeinschaften hingegen gilt immer einer konkreten Gruppe von Menschen, z.B. den Mitgliedern der reformierten Kirche im Kanton Zürich oder den Mitgliedern der christkatholischen Kirche im Kanton St. Gallen. Dies wäre auch bei weiteren Anerkennungen der Fall. Entsprechend beziehen und beschränken sich die Anforderungen und Kriterien einer solchen Anerkennung auf die konkrete anerkannte Gemeinschaft – und nicht auf Glaubensüberzeugungen oder ethische Grundsätze der Religionsgemeinschaft. Diesen gegenüber bleibt der Staat auf Distanz – anders könnte er weder seine Neutralität noch die Religionsfreiheit wahren.
Ein Beispiel
Als die Katholiken im Kanton Zürich 1963 öffentlich-rechtlich anerkannt wurden, hatte die katholische Weltkirche noch kein formelles Bekenntnis zur Religionsfreiheit und zu den Menschenrechten abgegeben. Man anerkannte die Katholiken trotzdem, weil sie sich im Kanton Zürich selbstverständlich zu unserem Rechtsstaat samt Religionsfreiheit bekannten. Ihre Praxis zählte, und weder vatikanische Dokumente noch biblische Texte. Für diese nämlich wäre der Staat wegen der Religionsfreiheit und seiner Pflicht zu religiöser Neutralität nicht zuständig. Es zählt das Leben der anerkannten Religionsgemeinschaft vor Ort und etwa im Fall des Islam weder der Koran noch die Lehre muslimischer Geistlicher in anderen Teilen der Welt.
Die Wirkungen der staatlichen oder öffentlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften kann man aus verschiedenen Perspektiven betrachten: aus jener des Staates, aus jener der anerkannten Religionsgemeinschaft(en), aus jener der (noch) nicht anerkannten Religionsgemeinschaften oder auch aus der Perspektive der nichtreligiösen Menschen. Als religiöser Mensch und Vertreter einer anerkannten Religionsgemeinschaft beschränke ich mich auf deren Perspektive.
Anerkennungswirkungen
Der Staat anerkennt, dass religiöse Überzeugungen und geteilte religiöse Erfahrungen für eine konkrete Gemeinschaft seiner Bürgerinnen und Bürger zu einem guten Leben, zum Einsatz für Gerechtigkeit und Solidarität, zur Bewältigung von Krisen und zum Umgang mit dem Unverfügbaren beitragen. Ohne diese Anerkennung können Kirchen und Religionsgemeinschaften zwar auch leben und Gutes tun. Die Wertschätzung, die in der Anerkennung zum Ausdruck kommt, erweitert jedoch die Möglichkeiten und erleichtert vieles.
Aber die staatliche Anerkennung und die damit hergestellte Beziehung zwischen Staat und Religionsgemeinschaft fordert die anerkannte Religionsgemeinschaft auch heraus, das Verhältnis zwischen Religionszugehörigkeit und Leben in einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat bewusst zu gestalten. Die Erfahrungen, die die Mitglieder der Religionsgemeinschaften mit Demokratie, mit der Gleichstellung der Geschlechter und mit dem Rechtsstaat machen, sind auch in religiöser Hinsicht relevant.
Wenn andere Religionsgemeinschaften willens sind, sich auf den im aktuellen politischen Kontext langwierigen und anspruchsvollen Weg zur öffentlichen Anerkennung einzulassen und wenn der Staat nach Wegen sucht, das geltende Anerkennungssystem weiter zu entwickeln, betrachte ich dies als Chance. Denn für den Stellenwert der Religion in unserer Gesellschaft ist es von Nutzen, wenn Religionsgemeinschaften, die dazu fähig und willens sind, die gewünschte Anerkennung erhalten. Und einer Gesellschaft, die nicht von Anerkennungskämpfen, sondern von einer Kultur der Anerkennung geprägt ist, gelingt es besser, sich den grossen Herausforderungen unserer Zeit zu stellen.
—
Daniel Kosch, Dr. theol., ist Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz.
Photo: „Zürich“ (Rainer Bucher)
- Vgl. dazu René Pahud de Mortanges, Die Auswirkung der religiösen Pluralisierung auf die staatliche Rechtsordnung, in: C. Bochinger (Hg.), Religionen, Staat und Gesellschaft. Die Schweiz zwischen Säkularisierung und religiöser Vielfalt, Zürich 2012, sowie: ders. (Hg.), Staatliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften: Zukunfts- oder Auslaufmodell (FVRR 31), Zürich 2015. ↩
- Axel Honneth, Verwilderungen. Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2/2011, online-Version: http://www.bpb.de/apuz/33577/verwilderungen-kampf-um-anerkennung-im-fruehen-21-jahrhundert?p=all ↩