Schweigen – und dann fängt jemand an zu reden. Holger Pyka geht einer Adventserfahrung nach.
„Entschuldigung“, frage ich nach dem Essen auf dem Flur, „wann beginnen denn diese Schweigeübungen?“ Die Leiterin des Tagungshauses guckt mich streng an und klopft mit ihrem Zeigefinger mehrmals auf ihre zusammengepressten Lippen. „Achso“, sage ich erleichtert, fahre mir aber selbst über den Mund. Ich weiß, es ist Bestandteil vieler geistlicher Übungen. Ich ahne, dass mir das gut tut – und verdammt schwer fällt. Nach zwei Tagen dürfen wir wieder sprechen. Es fühlt sich… anders an. Die Worte sind sorgsam abgewogen und gewählt, manche Stimme klingt fremd.
anders … fremd
„Gott gebe uns allen seinen Segen“, sagt der kleine Calvin. Alle um ihn herum halten den Atem an, weil der kleine Junge nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters nicht mehr gesprochen hat. Und plötzlich diese Worte, mitten in der Livesendung. Die Gänsehaut, die ich in dem Moment bekomme, gehört zu meinen frühesten Fernseherinnerungen, als Anfang der Neunziger mit Die Geister, die ich rief… ein gar nicht so schlechtes Remake von Charles Dickens‘ A Christmas Carol über die Bildschirme flimmerte. Und ganz am Ende ein stummes Kind zu sprechen begann.
„If you’ve been sexually harassed or assaulted write ‘me too’ as a reply to this tweet“, schreibt Alyssa Milano am 15. Oktober 2017 auf ihrem Twitter-Account. 24.000 Retweets, 66.000 Kommentare. Der Start einer Bewegung, in deren Verlauf Menschen ihr Schweigen brechen. Eine große Welle, die manche Karriere hinweggespült und auch die Kirchen zum Glück nicht verschont hat.
Ich halte den Atem an.
„Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat sich seines Volkes angenommen und ihm Erlösung verschafft…“ Zacharias, der am Anfang des Lukasevangeliums diese Worte sagt, hat auch gerade erst seine Sprache wiedergefunden. Nachdem er geschwiegen hat – eine ganze Schwangerschaftszeit lang bis zur Geburt seines Sohnes Johannes.
Die Sprache wiedergefunden.
Ich glaube, das hat etwas mit Gott zu tun. Solche Momente, wenn Menschen ihre Sprache wiederfinden. Wenn sie ihr Schweigen brechen und ihre Stimme erheben. Ich glaube, dass Gott seine Finger im Spiel hat, wenn so etwas passiert.
„Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht!“ Wer so einem Ruf folgt, kann aufsehen. Tief durchatmen. Und spürt körperlich: Ich bin wichtig. Ich bin jemand, und zwar nicht einfach irgendjemand: Ich bin Gottes Kind. Ich bekomme Besuch „vom ausgehenden Licht aus der Höhe“. Meine Stimme hat Gewicht.
Lukas 1,67-79
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Die Sonntagsreihe im Advent 2018 heißt neue Texte in der gottesdienstlichen Leseordnung der evangelischen Kirchen willkommen, die am ersten Advent in Kraft tritt.
Dr. Holger Pyka ist Pfarrer in Wuppertal, bringt Menschen zum Schreiben und berät zu Gottesdienst und Predigt.
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