Rebecca D. Surber, Kathrin Ritzka und Amrei Kempendorf geben Einblicke in ihre Relektüre des 2019 erschienenen Debütromans „Vater Unser“ von Angela Lehner. Dabei eröffnen die Autorinnen drei unterschiedliche und zugleich hochaktuelle Perspektiven auf den Roman: Was, wenn das einzig Zuverlässige die Unzuverlässigkeit ist? Welch unnachgiebige Dynamik kann aus der Verquickung von Staatsmacht, Religion und Familiennormen entstehen? Wie und wo findet man Erlösung?
Unvermittelt wird man als LeserIn in die Geschichte der Eva Gruber geworfen, die zu Beginn des Romans in Handschellen von der Polizei in eine psychiatrische Klinik in Wien eskortiert wird. Schon hier wird deutlich, dass die Grenzen zwischen Verantwortlichkeit und Unschuld, Realität und Konstruktion verschwimmen. Während sie in der Klinik mit den Ärzten, ihrem Bruder und den MitpatientInnen ringt, verwischen die Linien zwischen Erinnerung, Gegenwart und Zukunft.
Zuverlässigkeit in der Unzuverlässigkeit
Lehners Vater unser verknüpft die Sphären von Staat, Religion und dysfunktionaler Familie nicht nur kapitelweise („Der Vater“, „Der Sohn“, „Der Heilige Geist“), sondern auch thematisch: Fragen zu Identität, Heimat als Ort von Trauma und Erinnerungsbruch sowie der Kampf zwischen Verantwortung und Rettung durchziehen das Werk in ständiger Parallelität. Diese Überlagerung manifestiert sich auch auf formaler Ebene, indem verschiedene literarische Textsorten ineinandergreifen und die inhaltliche Komplexität zusätzlich verdichten.
Jene existenzielle Dynamik zeigt sich besonders in Eva Grubers Entscheidungen, die sie auf einer scheinbar logischen, aber teilweise den Fakten entkoppelten, eigenen Realität gründet. Diese Spannung zwischen subjektiver Logik und objektiver Realität verdeutlicht die Autorin durch den Einsatz einer unzuverlässigen Erzählinstanz.
Dabei begegnen die LeserInnen im Text zwei Dimensionen der Unzuverlässigkeit: einerseits Evas verzerrte Darstellung ihrer Umwelt, andererseits die instabile Erzählstruktur selbst. Zugleich zeigt sich eine spezifische Form der Zuverlässigkeit: Eva agiert in ihrer Inszeniertheit stringent, kalkuliert und verfolgt ihre Ziele präzise, wodurch ihre Unzuverlässigkeit narratologisch kontrolliert bleibt. Diese strukturelle Konstruiertheit verleiht dem Text trotz inhaltlicher Brüche und Widersprüche eine kohärente innere Logik. Die Dialoge verstärken diese Komplementarität, indem sie zwar die Figurenreaktionen auf Eva reflektieren, jedoch keine verlässliche Orientierung bieten – ihre Klarheit wird durch Ironie, Manipulation und Täuschung beständig unterlaufen.
Diese Doppelstruktur zeigt sich in der Komik der Sprache und grotesken Überzeichnungen von Situationen, die beinahe ins Grobianische übergehen. Dabei entsteht ein komisch-komplexer Effekt, der Vertrautes ins Absurde kippen lässt. Die Figur der Eva trägt dabei fast schon Züge einer schelmischen Erzählerin, deren duales Selbst das Spannungsfeld zwischen Humor und Tragik verstärkt.[1]
Ein Roman, der mit erzählperspektivischer Spannung, narrativen Verwirrspielen und sprachlicher Kunstfertigkeit gleichermaßen verstört wie fasziniert und dessen axiologische und mimetische Unzuverlässigkeit die LeserInnen herausfordert, ethische Maßstäbe kritisch zu reflektieren. Diese Unzuverlässigkeit bleibt jedoch nicht nur auf der Erzählebene bestehen, sondern zeigt sich auch in der physischen Dimension des Textes: Evas Kampf um Wahrheit, Rettung und Selbstbehauptung vollzieht sich in einem Kreislauf aus Konfrontation, Ausbruch und Entladung – radikal, körperlich, unerbittlich: „Anspeien. Auskotzen. Anscheißen. Ausscheißen. Und wieder von vorne: das ist Katharsis.“ (S. 51). So sieht man sich am Ende der Lektüre mit der Frage konfrontiert, was nun Lüge, was Wahrheit ist und ob nicht Eva selbst Opfer ihrer eigenen Unzuverlässigkeit wurde.
Religion, Familie, Staat
Im Mittelpunkt des Romans steht die Protagonistin, Eva Gruber, die sich gegen Autoritäten und Normen auflehnt, die ihre Welt bestimmen. Diese Normen lassen sich drei im Text zentralen Säulen von Gesellschaft zuordnen: Familie, Religion und Staat.
Die Familie Gruber, das sind die Eltern, Sohn Bernhard und Tochter Eva, höchst dysfunktionale Verhältnisse. Mit dem Vater wird ein traumatisches Ereignis verbunden, das die Familienkonstellation, in der Eva sich befindet, tief geprägt hat und das ihre Beziehung zu ihrer Mutter – einer „schwachen Frau“ – und ihrem körperlich schwachen Bruder bestimmt.
Religion, das sind zunächst die beiden moralisch flexiblen Pfarrer aus Kindheitstagen, die Süßigkeiten für rezitierte Gebete verteilen oder Kinder für vermeintliche Vergehen auslachen. Religion im Roman ist ein Sehnsuchtsort für alte Menschen; die katholischen Kirchen jedoch oft geschlossen oder nicht erreichbar.
Der Staat, das ist Österreich. Er wird nicht nur in der Polizei aufgerufen, die Eva in die staatliche Psychiatrie bringt oder im Psychiater Dr. Korb, der Evas Therapie verantwortet, sondern auch in zahlreichen kleineren Bildern und Anspielungen (die Nationalflagge, ein Volkslied).
Die drei Themenkreise Familie, Religion und Staat existieren nicht nur nebeneinander, sondern werden geschickt ineinander verwoben: Der Vater bringt Eva das „Vater unser“ bei, er trägt außerdem das charakteristische Unterhemd („Wifebeater“), das Dr. Korb ebenfalls anhat. Und auch ein Kruzifix nebst Jörg Haider Bild tritt mehrfach in Szene. In Bezug auf Eva üben die drei Gewalten Macht und Kontrolle aus, bestimmen und begrenzen ihre Lebenswelt und geben Regeln vor, die für sie selbst jedoch nicht zu gelten scheinen. Dabei sind sie nicht zufällig männlich konnotiert: Vater, Gottvater und Vaterland. Genau so wenig, wie ausgerechnet Evas liebste Lutherbibelstelle nicht zufällig jener Vers aus dem Schöpfungsbericht über die „Männin“ ist: „…man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist“. Eva, die Männin, könnte eben diejenige sein, die – über ihre ganz eigenen Strategien der Auseinandersetzung mit den Autoritäten aus Religion, Familie und Staat – Befreiung bzw. „Erlösung“ bringt – oder?
Und vergib uns unsere Schuld
Eva Gruber kann in der Tat als der (erste) Mensch schlechthin interpretiert werden – fast alle anthropologischen Grunderfahrungen der biblischen Urgeschichte klingen in ihrer Biografie und Identität an: Sie ist Mutter und Schwester für ihren Bruder, steht in Konkurrenz zu ihm, nimmt andererseits die Verantwortung als ihres Bruders Hüterin an und riskiert trotzdem seinen Tod. Sie tritt nackt vor den Arzt und schämt sich aber nicht. „Du sollst nicht lügen“ entpuppt sich zwar als kein biblisches Gebot, aber die Tatsache, dass Eva es tut, wird ihr von ihrer Umgebung als Ursünde angerechnet – und das Essen wird zumindest für ein anderes Familienmitglied zur Grenzerfahrung.
Sie übernimmt Stellvertretung, indem sie sich bereit erklärt, ihr Leben hinzugeben als Erlöserin ihrer Familie (oder zumindest ihres Bruders) – die Tatsache, dass letztlich eher er sich für ihre Erkenntnis opfert, stellt dieses Selbstverständnis im weiteren Hergang natürlich in Frage. Überhaupt scheint der Roman hier eher aufzuzeigen, dass es so etwas wie Erlösung nicht gibt – zumindest nicht für Eva: „Und das, denke ich, ist die größte Strafe: Dass ich jeden Moment meines Lebens mit mir selbst verbringen muss. Wie gern würde ich diesen Körper einfach ausziehen, ihn wie einen Pyjama abstreifen; ihn liegenlassen; neu anfangen.“(258)
Die Zuwendung Gottes zum Sünder – sie wird für die Protagonist:innen nicht erfahrbar, sie können nicht vergeben und erleben Vergebung wenn, dann nur in Ansätzen. Die entsprechenden Bitten des Vaterunsers, sie werden nicht erfüllt. Wie wird man dann glücklich in dieser Welt? Kann man es überhaupt? Der Roman gibt keine Antwort. Aber er legt Spuren, was Menschlichkeit bedeuten kann, die immer wieder aufblitzt: Im Verständnis zwischen Patientin und Psychiater, in der Aufnahme durch Fremde, die Bruder und Schwester erfahren, oder den Witzen, die Eva für Kinder erzählt.
Der mehrfach preisgekrönte Roman „Vater unser“ ist keine leichtgängige Kost und stellt einen immer wieder vor die Frage: Was kann ich glauben? Was davon trägt? Wer ist hier eigentlich verrückt? Und gerade dadurch lohnt sich die Lektüre – auch mit einer theologischen Perspektive.
[1] Diesen Zusammenhang erläuterte uns Prof. Claudia Stockinger. Ihr und Prof. Ruth Conrad danken wir für viele weitere zentrale Einsichten während eines Fachgesprächs am 17.01.2025.
Rebecca D. Surber führt ihr Studium der Germanistik und Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin fort. Zuvor studierte sie Deutsch, Hermeneutik und Religionsphilosophie an der Universität Zürich. Seit 2018 ist sie Teil des Rroma Æther Klub Theaters, wo sie im Bereich Dramaturgie und Regieassistenz tätig ist.
Kathrin Ritzka hat Theologie und Deutsche Literatur in Freiburg/Br., Cambridge und Berlin studiert und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Systematische Theologie des Instituts für Katholische Theologie an der HU Berlin. Zugleich arbeitet sie als Koordinatorin am Aufbau des interdisziplinären „Center for Interreligious Theology and Religious Studies“ (CITRS) mit.
Amrei Kempendorf hat Evangelische Theologie und Anglistik in Tübingen, Cambridge und Berlin studiert und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie der Theologischen Fakultät der HU Berlin. Sie ist Pfarrerin der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.