Hans-Joachim Sander betrachtet das letzte Jahr des Pontifikats Johannes XXIII und sieht einen Papst, der sein eigenes Amt von der Autorität her entwickelt, die das Evangelium für die Menschheit hat.
Das Pontifikat von Angelo Roncalli war unter vielen Rücksichten außergewöhnlich. Man sieht es an seinem Ende. Während Päpste in ihrem letzten Amtsjahr an Schwung verlieren, schließlich stehen sie dann üblicherweise im hohen Alter, so gab gerade das letzte Jahr dem Pontifikat von Johannes XXIII. das besondere Gepräge. Das lässt sich mit rein katholischen Maßstäben nicht beschreiben, geschweige denn beurteilen. Mit Johannes XXIII. erlebte die Christenheit einen Papst, der das Korsett des Katholizismus in fast jeder Hinsicht sprengte, in das seit dem Barock die Fischbeinstangen der übernatürlichen societas perfecta eingenäht waren, um sie allein von sich her sichtbar in Form zu halten.
Ein Papst, der das Korsett des Katholizismus sprengte.
Nicht nur äußerlich ließ die Gestalt dieses Papstes kein Korsett zu; weder Hofzeremoniell noch vatikanisches Antichambrieren, weder Protokoll des Heiligen Stuhls noch Rücksichten auf den Heimvorteil der Democratia Christiana schienen ihn sonderlich zu beeindrucken. Die daraus resultierenden Anekdoten sind ebenso legendär wie die entsetzten Augen der Umgebung, wenn er mal wieder – scheinbar dampfplaudernd – Unmögliches aussprach wie im römischen Stadtgefängnis den Hinweis auf einen kriminellen Onkel in seiner Familie. Die Insassen jubelten, weil sie die Geste der Zuwendung verstanden. Die Umgebung wurde dagegen kreidebleich, weil sie nicht wusste, wie sie die erhabene Heiligkeit des katholischen pater familias wenigstens als Fassade retten sollte. Alle ihre Privilegien hängen bis heute an dieser Fassade.
Habitus der Selbstrelativierung
Auf der Sedia gestatoria sah dieser Pontifex maximus so seekrank aus, dass selbst säkularste Beobachter instinktiv spürten, warum seine Religionsgemeinschaft ständig für ihn beten muss. Und selbst die Tiara konnte die bäuerliche Herkunft Seiner Heiligkeit nicht verdrängen, weil er schon gleich dreimal nicht vom Habitus der Selbstrelativierung lassen wollte, der dieser Herkunft selbstverständlich war. Roncalli machte daraus im Verbund mit Thomas von Kempens Nachfolge Christi sein spirituelles Programm.
Dieser Papst war durchaus und entschieden der Bischof von Rom; sogar eine Synode für die römische Ortskirche leitete er in die Wege, was bis dahin ganz und gar unüblich für einen römischen Bischof war. Aber sein Horizont endet nicht mit dem speziellen römischen Provinzialismus des ‚Urbi et Orbi‘. Und schon gar nicht ließ er sich von den diskursiven Formationen der katholischen Tradition beeindrucken, also dem Heiligen Offizium des reinen, von allem anderen, was nicht katholisch sei, unbeeindruckten und erhabenen Verteidigungsgestus.
Humanae Vitae wäre ihm nicht passiert.
Dieser Papst blieb natürlich der katholischen Tradition treu; sogar eine Enzyklika zu Mater et Magistra ließ er schreiben, den traditionellen Metonymien für das Selbstporträt seiner Kirche. Aber er ließ es gerade nicht zu, mit katholischen Wahrheiten belehrend auf die verderbte und nach solchen Weisheiten angeblich darbende Menschheit einzureden. ‚Unglücksprophetie‘ nannte er das und warnte alle davor. Ein Humanae Vitae wäre ihm nicht passiert, auch keine Diskrepanz zwischen großmedialer Menschenrechtsagenda nach außen bei gleichzeitiger Diskursverweigerung nach innen über die Gleichberechtigung von Frauen im Amt – von der stillschweigenden Hinnahme einer Holocaust-Leugnung um innerkatholischer Vorteile willen ganz zu schweigen.
Was diesem Papst hingegen passierte war die Kuba-Krise mit dem Beginn des von ihm einberufenen Konzils. Er nutzte diesen herben Kontrast, um den lehramtlichen Fokus auf „alle Menschen guten Willens“ auszuweiten und lieferte im April 1963 mit Pacem in terris gleich selbst ein Meisterwerk dafür. Damit gab er seinem Konzil eine Phasenverschiebung, der noch einmal über seine völlig überraschende Konzilsankündigung sowie die bewegende Eröffnungsrede Gaudet Mater Ecclesia hinausging.
Neuer Modus der kirchlichen Selbstidentifizierung
Mit diesen beiden Aktionen hatte er noch mit innerkatholischen Mitteln einen neuen Modus der kirchlichen Selbstidentifizierung vorangetrieben, den er als ‚pastorales Lehramt‘ beschrieb und der dem Aggiornamento, das er schon als Patriarch von Venedig beschrieb, eine neue Plattform einrichtete. Aber mit Pacem in terris bestimmt Johannes XXIII von außen her sein Amt, seine Kirche und sein Konzil darüber, was Menschen unmittelbar angeht, weil ihre Würde angetastet wird und ihr Widerstand dagegen sich nach praktischer Solidarität sehnt. Er nannte dieses spin des Glaubens von außen her ‚Zeichen der Zeit‘, was wiederum die kurialen Publikatoren herausstrichen. Aber auch das war vergebens, weil diese Grammatik die Pastoralkonstitution Gaudium et spes auf jene Spur setzte, die sie zum wegweisenden Lehrtext bis heute macht.
Es ist die Spur einer Menschheit, von der und für die die katholische Religionsgemeinschaft herausgerufen ist, mit ihrem Glauben Zeichen und Werkzeug für die innige Beziehung zwischen Gott und den Menschen sowie den Menschen untereinander zu sein. Das ist keine bloß katholische Agenda mehr, weil es Dialoge verlangt, die auf die Stärken ausgerechnet der anderen setzen und die deshalb in der eigenen Pastoralgemeinschaft nichts von dem ausschließen, was Menschen heute umtreibt.
Das katholische Moment des Glaubens wird darin zu einem transkatholischen Momentum, das die Menschheit anregt, über ihre eigenen Beschränkungen hinaus zu wachsen. Dieses Momentum ist in der außerordentlichen Wertschätzung zu fassen, die diesem Papst trotz seines kurzen Pontifikats in seiner Zeit von so gut wie allen außerhalb der Kirche eingeräumt wurde und die er bis in unsere Welt hinein genießt. Es hat ihn zum ersten transkatholischen Papst gemacht, der für alle Menschen seiner Zeit Autorisierungen bereithält.
Der erste transkatholische Papst
Angelo Roncalli hat gezeigt, was in diesem Amt steckt, wenn man es nicht bloß vom locus proprius der römischen Kirche aus betrachtet, sondern von der Autorität, die das Evangelium für die Menschheit hat. Sie autorisiert wiederum dieses Amt, über sich hinauszuwachsen auf eine Zeitgenossenschaft hin, die angesichts der Zeichen dieser Zeit unausweichlich wird. Das macht zwar aus dem Amt des Papstes für seine Kirche einen locus theologicus alienus, aber aus seiner spirituellen Aufgabe, Menschen zu stärken, eine transkatholische Hoffnung.
(Bild: Dnalor_01, Wikimedia Commons: CC-BY-SA 3.0)