Rainer Bucher zu den Erfolgen der AfD in Deutschland, den Leerstellen des Kapitalismus und dem Kampf um die Demokratie in Europa.
In seinem bemerkenswerten Buch „Die Gesellschaft der Angst“ hat Heinz Bude eine Beobachtung notiert, die erklärt, warum die AfD so erfolgreich werden konnte.
Die Angst vor der Angst und die Politik des Ausschlusses
Wenn „standardisierte Erwartungen auf nichtstandardisierte Wirklichkeiten“ treffen, so Bude, dann werde die Wahrnehmung der eigenen Existenz prekär. Wer dann die „Anforderungen an Rollendistanz und Ambiquitätstoleranz“ nicht mehr aufbringen könne, brauche den Schnitt zwischen Innen und Außen, zwischen „denen“ und „uns“, brauche den Ausschluss der Anderen, um mit seiner „Angst vor der Angst“ fertig zu werden.
Die „Politik des Auschlusses“ ist der Kern der AfD – spätestens nach Frauke Petrys Übernahme dieser Partei. Der anti-europäische Gründungsimpuls der AfD freilich, zuerst ökonomisch grundiert, wies bereits in diese Richtung. Eine der Leistungen der CDU und CSU war es, den immer vorhandenen, latent anti-demokratischen „rechten Sektor“ der deutschen Gesellschaft eingebunden und politisch weitgehend neutralisiert zu haben.
„Rechts von mir ist nur noch die Wand“ hat Strauß einst festgehalten und so war es auch. Das gelang nicht sofort und auch nicht immer und überall, kleinere Rechtsparteien saßen in den 50er Jahren im Bundestag und danach (DVU, Republikaner) immer mal wieder in Landtagen, 1969 gelang der NPD mit 4,3 % fast der Einzug ins Bonner Parlament.
Im Ganzen aber hat „Adenauers Deal“ gehalten. Moralisch fragwürdig, politisch aber erfolgreich hatte Adenauer nach 1945 die Devise ausgegeben: „Wenn ihr ab jetzt treue Demokraten seid, frage ich nicht, was ihr vor 1945 wart“. Und so wurden alle treue Demokraten. Das bedeutete auch: Wirklich rechte Politikkonzepte, also manifeste „völkische“ Strategien des Ausschlusses waren tabuisiert, selbst und gerade in der CDU. Dieser Deal hielt natürlich auch, weil Demokratie Wohlstand versprach und tatsächlich bedeutete. Denn das war das zweite Adenauersche Versprechen: „Werdet Demokraten und ihr werdet in Wohlstand leben.“
Adenauers Deals
Adenauer wusste, dass er dazu Europa brauchte. Damit die Deutschen wohlhabend wurden, brauchte es das Europa des Handels und der Wirtschaft. Damit reaktionäre Alternativen gar nicht erst diskussionswürdig wurden, brauchte es die alterfahrenen Demokratien Europas, und Adenauers Enkel Helmut Kohl brauchte 1989 die Zustimmung Europas zur deutschen Einheit, und sei es um den Preis der Abschaffung der Deutschen Mark. Adenauer wie Kohl haben den Deutschen und ihrer Treue zur Demokratie nie ganz getraut. Für viele Deutsche, das wussten sie, waren und sind die universalistischen normativen Grundlagen der Demokratie keine wirkliche Herzensangelegenheit.
Diese Deutschen haben jetzt eine Partei und mit ihr eine wirksame politische Repräsentation. Mit einem ähnlich schnellem Zerfall, wie er anderen Rechtsparteien beschieden war, wird man nach den zweistelligen, in Sachsen-Anhalt gar volksparteinahen Ergebnissen dieses Sonntags nicht rechnen dürfen.
Denn Adenauers Deals verblassen. Die alten Nazis, die er mit ihm indirekt erpresste, leben nicht mehr, die Wohlstandsmehrung aber scheint gefährdet; nicht durch mangelnde Leistungsfähigkeit, das wäre mit internen Appellen zu verarbeiten, sondern durch einströmende „Fremde“. Natürlich ist das nicht wirklich der Fall: Die Wirtschaft gehört aus guten Gründen zu den letzten Unterstützern der Merkelschen Flüchtlingspolitik. Latent – bisweilen offen – antiwestlich und pro Putin ist diese AfD ebenso wie national-konservativ und anti-europäisch. Und sie propagiert eine Politik des Ausschlusses: Frauke Petrys und Beatrix von Storchs „Schüsse auf Flüchtlinge“ haben da jeden Zweifel beseitigt.
Die große Leestelle: die zerstörerischen Wirkungen des Kapitalismus
Adenauers Deal hatte freilich eine große Leerstelle: Er unterschätzt die zerstörerischen Wirkungen des Kapitalismus, auf den Adenauer in „rheinischer“ Zähmung als Garant der Wohlstandsmehrung und Teil der Westbindung setzte. Der Konservativismus wie die Sozialdemokratie haben die „Leere und Unbarmherzigkeit der kapitalistischen Kultur“ (Kurt Appel) immer unterschätzt. Spätestens seit der Kapitalismus nach 1989 global und bis auf den indiskutablen islamischen Fundamentalismus praktisch konkurrenzlos in Schwung gekommen ist, dringt diese Leere und Unbarmherzigkeit und auch Ungerechtigkeit in die Alltagswelt vieler Menschen.
Im Kapitalismus ist zwar nicht ständig alles in Fluss, aber kann alles ins Fließen kommen. Und während die einen auf den Wellen der „liquid modernity“ (Zygmund Bauman) surfen, haben andere Angst, davonzudriften in der globalisierten Welt eines kulturell zunehmend hegemonialen Kapitalismus, dessen Effektivitäts- und (Selbst-)Optimierungsimperativen sich vom Bildungswesen über den Sport bis in die Liebe kaum jemand entziehen kann. Das „heutige Leistungssubjekt arbeitet sich nicht an externen Feinden, sondern an sich selbst ab“, bis es sich aus „der lähmenden Angst, abgehängt zu werden oder nicht mehr dazuzugehören“ befreit, indem es „einen imaginären Feind“ konstruiert. (Byung-Chul Han).
So effizient der Kapitalismus unter bestimmten Bedingungen als ökonomisches System sein mag: Als Identitätsmuster ist er unbrauchbar, weil gnadenlos und oberflächlich. Das ist der Wahrheitskern des aktuellen rechtspopulistischen Protestes. Die Führungseliten Deutschlands hatten das in ihrem konservativen wie sozialdemokratischen Ökonomismus nicht auf der Rechnung. Die Wahlerfolge der AfD dokumentieren das Bündnis konservativer bildungsbürgerlicher Eliten („Professorenpartei“) mit dem abstiegsbedrohten Mittelstand und dem Prekariat („Pegida“): Die einen fürchten das Ende ihres Lebensstils und seiner Werte in der globalisierten kapitalistischen Moderne, die anderen gleich den Untergang von allem.
Keine Rückkehr zu vormodernen Identitätsmarkern, seien sie „christlich“ oder nationalistisch
Aber Kurt Appel hat natürlich recht: Man kann die „Leere und Unbarmherzigkeit der kapitalistischen Kultur“ nicht „mit einer Rückkehr zu vormodernen Vorschreibungen und Identitätsmarkern … auffüllen“, seien sie „christlich“ oder nationalistisch oder sonst wie abgeleitet. Aber man muss sie auffüllen, sonst spielen andere mit diesen Lücken ihr Spiel.
Es wird entscheidend für Deutschland, ja für Europa werden, ob ein Weg zwischen der kapitalistischen und der anti-demokratischen, identitären Versuchung gefunden wird. Sonst droht die fatale Alternative zwischen leerlaufender kapitalistischer Konsum- und Produktionsspirale und dem Prinzip „Inklusion für diejenigen, die ich mag, Exklusion für alle anderen“. Und es wird dann Zufall sein, wer dieses „Innen“ gerade wie definiert.
Notwendig: ein Weg zwischen der kapitalistischen und der identitären Versuchung
Zwischen kapitalistischem Leerlauf und identitären Mythen, die, wenn es ganz schlimm wird, sich sogar „christlich“ etikettieren, muss ein Weg gefunden werden. Christen wären dafür prädestiniert. Denn sie glauben weder an den Kapitalismus noch an „das Volk“ oder gar „die Nation“. Christen stemmen sich gegen Angst und Ausschluss. Denn der Gott, an den sie glauben, steht gegen beides.
In der vorletzten Krise Europas, in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, hat das Christentum ziemlich versagt, in der letzten, nach dem II. Weltkrieg, hat es Europa entschlossen als Friedensprojekt gestaltet. Meine Generation hat Europa, hat die Demokratie geschenkt bekommen. Es ist die Zeit, für sie zu kämpfen.
(Text und Photo: Rainer Bucher)