Dem Ethos des Protests in den jüngsten Aktionen der „Letzten Generation“ geht Christian Kern nach und stellt deren demokratieproduktive Qualität heraus.
Seit Sommer 2021 sind mehr und mehr Protestaktionen der „Letzten Generation“ in der Öffentlichkeit sichtbar geworden. Es begann mit einem Hungerstreik, den Angehörige der Protestbewegung im Sommer 2021 einige Wochen vor der Bundestagswahl in einem Camp vor dem Reichstag in Berlin durchführten. Es folgte eine zweite Phase mit Protestaktionen in bedeutenden Museen landesweit: Gemälde wurden mit farbigen Lebensmitteln überschüttet, Aktivist*innen fixierten sich mit Klebstoffen an die Wände der Museen. Seit einigen Wochen nun führt die Gruppe vermehrt Sitzblockaden auf Autobahnen und an Verkehrsknotenpunkten in größeren Städten durch. Kleingruppen von Mitwirkenden unterbrechen den Verkehrsstrom, besetzen die Breite der Fahrbahn in Form einer Menschenkette und kleben sich mit verschiedenen Klebstoffen am Asphalt fest.
Grundlagen für menschliches wie nicht-menschliches Leben gehen verloren.
Die Motivation und die Rechtfertigung der Gruppe für ihre Protest- bzw. Störaktionen der öffentlichen Ordnung speist sich aus einer spezifischen Diagnose der aktuellen klimapolitischen Lage. Die Bemühungen der Regierungen weltweit und besonders auch der Bundesregierung in Deutschland haben die Klimaerhitzung bisher nicht adäquat eindämmen können, so dass die Menschheit auf eine Klimakatastrophe zusteuert, in der die Ökosysteme des Planeten eine tiefgreifende, disruptive Transformation erleben werden. Gestützt auf wissenschaftliche Expertisen des IPCC oder des PIK sehen die Aktivist*innen, dass sich wichtige Handlungsfenster zu schließen beginnen und im Zeitraum von drei bis vier Jahren bei andauerndem Treibhausgasemissionslevel spezifische Kippunkte erreicht sein werden, mit denen Grundlagen für menschliches wie nicht-menschliches Leben verlorengehen.
Zusätzlich zu diesem akuten Klimanotstand hat sich für die Aktivist*innen gezeigt, dass „klassische“ Formen der politischen Beteiligung, wie etwa parteipolitisches Engagement, das Verfassen von Petitionen und öffentliches Demonstrieren keine ausreichende und rasche Veränderung von klimapolitischem Handeln bewirken. Deshalb erscheint nun ein Wechsel der Art und Weise der politischen Praxis hin zu provokanten Störaktionen der öffentlichen Ordnung notwendig und legitim, um rasche und wirksame Klimaschutzmaßnahmen zu erzwingen.
„Klassische“ Formen der politischen Beteiligung haben sich als nicht wirksam gezeigt.
Die öffentliche Kritik an den Störaktionen wird derzeit zunehmend harsch. Die Aktivist*innen sind bei Straßenblockaden mit verbalen Attacken und hate speech konfrontiert. In den Kommentaren der Social-media-Auftritte der Letzten Generation geht es mit einem Mix aus Zynismus und herabsetzender Rede hart zu. Politiker besonders aus einem konservativen Spektrum sehen in der Letzten Generation eine gefährliche Tendenz zur Radikalisierung und warnen polarisierend vor einer „Klima-RAF“ [1]. Die bayerische Justiz hat inzwischen entsprechend reagiert und hat neben Hausdurchsuchungen u.a. gegen einige Mitglieder der Letzten Generation in München Präventivhaft verhängt.
Hate Speech – Zynismus – herabsetzende Rede
Aber wie gerechtfertigt sind solche Radikalisierungsvorwürfe und Gefährlichkeitsunterstellungen wirklich? Mit einem etwas verschobenen Blick nehme ich andere Charakteristiken wahr, die es wert sind, sichtbar gemacht zu werden: In den Aktionen der Letzten Generation zeigt sich eine demokratieproduktive Wirkung und ein bemerkenswertes Ethos des Protests, die keine Gefahr sind, sondern eine Chance für eine wirksamere und demokratischere Klimapolitik heute darstellen.
demokratieproduktive Wirkung … Ethos des Protests
Die Störaktionen der Letzten Generation lassen sich zunächst als typische Akte Zivilen Ungehorsams beschreiben. Ziviler Ungehorsam ist Jürgen Habermas zufolge ein moralisch begründeter, öffentlicher Protest, in dem allgemeine Güter des öffentlichen Lebens kritisch erstrebt werden.[2] Akte Zivilen Ungehorsams verletzen vorsätzlich partikulare Rechtsnormen, zielen aber nicht auf die Abschaffung einer Rechtsordnung insgesamt ab. Aktionen werden bisweilen öffentlich angekündigt, verzichten auf Gewalt, und die Akteur*innen sind bereit, die rechtliche Verantwortung für ihre Normverletzungen zu tragen. Die Aktionen der Letzten Generation entsprechen diesen Kriterien. Die Aktivist*innen betonen die Gewaltfreiheit und Friedlichkeit des Protests. „Wir geben Ihnen unser Wort, dass wir alles dafür tun, dass niemand zu Schaden kommt.“[3] Ob sie dieser Selbstverpflichtung in der Form der aktuellen Proteste wirklich nachkommen, ist zu diskutieren. Aber dennoch steckt darin ein normativer Kern der Protestaktivitäten, der alles andere als öffentlichkeitsgefährdend geschweige denn toxisch ist.
Akte Zivile Ungehorsams können zu einer Demokratisierung von Demokratie beitragen.
Mit dem Berliner Politikwissenschaftler Robin Celikates lässt sich außerdem über dieses demokratiekonforme ein demokratieproduktives Moment in den Aktionen der Letzten Generation benennen.[4] Akte Zivile Ungehorsams können zu einer Demokratisierung von Demokratie beitragen. Demokratien sind nie perfekt, sie setzen ihre normativen Prinzipien der Gleichheit und Freiheit niemals völlig um. Denn es kommt im politischen Geschäft automatisch zu Favorisierungen bestimmter Themen und Personengruppen. Demokratien ringen stets mit einem anti-egalitären Exlusionsproblem. Genau an diesem Punkt setzen Aktivitäten Zivilen Ungehorsams ein. Mittels partikularer Rechtsbrüche und außerhalb der klassischen Wege partizipativer Prozeduren reizen sie öffentliche Debatten, lenken Aufmerksamkeit auf nicht-repräsentierte Lebensrealitäten und erzeugen ein verändertes Sichtfeld. Sie stecken damit das Spektrum öffentlicher Themen anders ab, weisen auf faktische Unangemessenheit, ja Ungerechtigkeiten im bestehenden Recht hin und benennen Handlungsdesiderate. Aktionen Zivilen Ungehorsams (re-)politisieren bestehendes Recht und (re-)demokratisieren Entscheidungsprozesse.
Die Aktionen der Letzten Generation lassen sich in diesem Sinne als demokratieproduktiv lesen. In ihren Statements und Aktionen verbinden sich die Aktivist*innen mit Menschen in klimatologisch bedrohlichen Situationen und machen deren Lage geltend; etwa von Menschen, die bereits aktuell von Folgen der Klimaschädigung betroffen sind oder in naher Zukunft davon betroffen sein werden, ohne derzeit auf Maßnahmen Einfluss nehmen zu können.
ein Raum, in dem sich alle positionieren müssen
Die Störaktionen haben eine besondere Wirksamkeit, eine eigene Performanz. Sie etablieren einen medial weitreichenden strittigen, agonalen, dissensuellen Verhandlungsraum, dem man nicht mehr ausweichen kann. Und das betrifft nicht nur die Autofahrer*innen, deren Wege blockiert werden, sondern abhängig von der Reichweite der Sichtbarkeit die Öffentlichkeit insgesamt. „Durch unsere Taten und durch diese Aktionsformen öffnen wir letztlich einen gesellschaftlichen Raum – einen Raum, in dem sich alle positionieren müssen. Bin ich für den fossilen Wahnsinn oder dagegen? Bin ich für eine Zukunft? Und wir glauben fest daran, dass am Ende der Großteil der Menschen und der Großteil der Gesellschaft sich gegen diesen Wahnsinn entscheidet; und für eine Zukunft…“[5]
ein gutes Leben in Freiheit – für alle
In den Aktivitäten der Letzen Generation geht es tiefer betrachtet nicht bloß um partikulare Maßnahmen der Klimapolitik. Es geht um eine Grunddimension von Demokratie, um ihr implizites Versprechen: gesellschaftliche Ordnung in partizipativen Prozessen so zu gestalten, dass ein gutes Leben in Freiheit gleichermaßen für alle individuell möglich wird. Eine Verfassung, etwa das deutsche Grundgesetz, formuliert einen Katalog von Grundrechten, die aktuell Geltung haben aber stets auch das auf Zukunft gerichtete Versprechen darstellen, in eben dieser Zukunft realisiert worden zu sein. Dieser Katalog von Grundrechten umfasst in der BRD neben individuellen Freiheitsrechten auch den Schutz und die Entwicklung von natürlichen Lebensgrundlagen in der Gegenwart, die ein gutes, freiheitliches Leben in Zukunft ermöglichen – nicht nur für Menschen, auch für Tiere und die Natur insgesamt (Art. 20a GG[6]). Demokratien stellen in diesem Sinne ein Versprechen dar; sie sind der Akt einer kontinuierlichen Selbst-Bindung eines politischen Gemeinwesens ans gute Leben. Gestisch gesagt: eine Praxis, sich effizient an gleiche und freie Lebensmöglichkeiten zu binden – sich gesellschaftlich ans Leben zu kleben.
Demokratien stellen in diesem Sinne ein Versprechen dar.
Die Letzte Generation sieht in den aktuellen Klimapolitiken und -maßnahmen diesen normativen Kern verletzt, weil letztere weder ausreichend noch rasch genug auf die akute Klimakrise reagierten.
Mit dieser Kritik ist die Letze Generation nicht allein. Sie kann sich etwa auf Aussagen des Bundesverfassungsgerichts von 2021 stützen, die das Klimaschutzgesetz der damaligen schwarz-roten Bundesregierung von 2019 als nicht ausreichend kritisierten.[7] Die Lebensmöglichkeiten junger und noch-nichtgeborener Menschen seien ab 2031 nicht ausreichend geschützt und es bestehe die wahrscheinliche Gefahr, dass durch zu erwartende Emissionsminderungspflichten freie Lebensentfaltung unrechtmäßig stark eingeschränkt werde. Obwohl der Gesetzgeber in der Folge des Urteils nachgebessert hat: Faktisch weichen die aktuellen Emissionen der BRD auch weiterhin gravierend von den geplanten Minderungspfaden ab[8], so dass der zukünftige Schutz von Lebensgrundlagen im notwendigen Umfang gegenwärtig nicht gewährleistet ist.
Die Aktivist*innen fordern eine politische Selbstbindung an einen verfassungsmäßigen Lebensschutz.
Die Letzte Generation thematisiert diese Diskrepanz zwischen dem demokratischen, verfassungsmäßigen Versprechen nachhaltigen Lebensschutzes und den Defiziten aktueller Klimapolitik der Regierung und der Emissionspraxis der Öffentlichkeit insgesamt. Sie fordern in ihren Störaktionen eine intensivere und endlich nachhaltig wirksame politische Selbstbindung an einen verfassungsmäßigen Lebensschutz. Die Aktionen der Letzten Generation, so partikular und punktuell wie sie eventuell erscheinen mögen, können vor diesem Hintergrund als eine weitreichende Geste, als eine Metonymie für eine demokratische Grund-Praxis gelesen werden: Wo immer sich Aktivist*innen an den Boden kleben, verkörpern sie die Aufforderung und Notwendigkeit, dass wir uns als politisches Gemeinwesen und Gesellschaft in Klimasachen bewusster und nachhaltiger ans Leben kleben, d.h. die aktuellen klimapolitischen Anstrengungen effizienter gestalten und damit das verfassungsgemäße Versprechen nachhaltigen Lebensschutzes und von Lebensentwicklung wirklich wirksam zur Geltung bringen.
Ist es adäquat angesichts eines solchen kritischen Ethos des Protests, der eine tiefe demokratieproduktive und -konstitutive Signatur hat, wirklich von Gefährlichkeit und toxischer Radikalisierung zu sprechen? Äußert sich in den Störaktionen nicht vielmehr ein Glaube an die Kraft von Demokratie und das Vertrauen an eine wirklich mögliche Rückbindung – eine re-ligio – an ihr lebensermöglichendes Versprechen? Von anti-demokratischer Gefährlichkeit oder Radikalisierung ist diese Praxis provokanten Protests jedenfalls weit entfernt.
Sylvester – eine eigenartige Zwischenzeit – zwischen Ablösen und Ankleben
Ich finde es passend diese Frage, welche die Aktionen der Letzten Generation insgesamt durchzieht, gerade heute, am Jahresende, aufzugreifen und ihr Resonanz zu geben. Das Jahresende, das Feiern von Sylvester, ist ja eine eigenartige Zwischenzeit, eine liminale Phase, die vom Ablösen einerseits und vom Ankleben andererseits geprägt ist. Wer zurückschaut, fragt auch nach dem, woran man sich in der vergangenen Zeit gebunden hat, was wichtig, bedeutsam und bindend war. Zugleich tritt mit dem Blick in die Zukunft am Jahreswechsel die Frage auf, wovon man sich loslösen möchten um anders zu leben, um zu Neuem aufzubrechen. Sich Ablösen vom Alten, Sich-Binden und Kleben ans Neue. Vielleicht ist es gerade heute, auf der Schwelle zum neuen Jahr, an der Zeit, diese Frage nicht nur individualbiographisch zu stellen, sondern auch gesamtgesellschaftlich und politisch, angeregt durch die störenden Aktionen der Letzten Generation inklusive ihres bemerkenswerten Ethos des Protests: Wie können wir uns klimapolitisch und klimapraktisch in 2023 wirklich nachhaltig, effizient und rasch ans Leben kleben?
Autor: Christian Kern, Dr. theol., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie (kath.) der TU Dresden. In seiner aktuellen Forschungsarbeit denkt er über provokante Praktiken des Protests als politische und theologische Formen nach.
Beitragsbild: Sitzblockade von „Letzte Generation“ am 14.12.2022, Berlin, A 100, Abf. Steglitz 07.
[1] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-11/alexander-dobrindt-klimaaktivisten-strafen-raf.
[2] Vgl. Jürgen Habermas, Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, in: Peter Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt/M. 1983, 35.
[3] https://letztegeneration.de/brief-an-die-bundesregierung/.
[4] Vgl. Robin Celikates, Ziviler Ungehorsam und radikale Demokratie, in: Thomas Bedorf/Kurt Röttgers (Hrsg.), Das Politische und die Politik, Frankfurt/M. 2010, S. 274–300.
[5] Vortrag der Letzten Generation, https://www.youtube.com/watch?v=QPgCbTGNBKI&t=2250s, 39:00-39:37.
[6] „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung“.
[7] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-031.html.
[8] Klimaschutzbericht der Bundesregierung 2022, 7. https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/Energie/klimaschutzbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=6