Die katholische Kirche ist in unseren Landen schon seit 50 Jahren in der Dauerkrise und im Modus der gesellschaftlichen Dauerentmachtung, auch weil ihre Verantwortlichen immer und immer wieder geglaubt haben, dass sich die Abwärtskurven wie Aktienkurskurven nach oben drehen werden. Von Michael N. Ebertz
„Das Erschreckende“, so Franz Groner 1971 im Blick auf die Zahlen der „Sonntagsmeßbesucher“, die zwischen 1949 und 1968 von 50,8 auf 39,5 Prozent gefallen waren, sei „die vollständige Kontinuierlichkeit in dem rücklaufenden Trend. Man kann leicht ausrechnen, wie viele Katholiken an der sonntäglichen Eucharistiefeier teilnehmen werden in 10, in 20, in 30 Jahren, wenn die Entwicklung so weitergeht“.[1]
Falsche Hoffnungen
Ja, das konnte man damals schon, wenn man gewollt und daran geglaubt hätte. Aber man hat den Vorausberechnungen nicht vertraut, sondern darauf, dass es irgendwie anders kommen würde – ein typisches Beispiel für den von uns so genannten ‚Pastoralen Habitus‘, zu dem auch die Verneinung des Messbaren gehört.[2] Statt dem Messbaren des rücklaufenden Trends zu vertrauen und entsprechend zu intervenieren, spekulierte man mit anderen Erfahrungen, ohne diesen auf den Grund zu gehen: „Allerdings“, so schrieb nämlich der 1991 verstorbene Leiter der Zentralstelle für kirchliche Statistik an gleicher Stelle weiter, zeigten „im profanen Bereich vergleichbare Trends, die jahrelang in ähnlicher Weise absinken, sehr häufig die Erscheinung, daß sich schließlich die Krise, der Zusammenbruch, ein plötzliches radikales Abbrechen der betreffenden Kurve ergibt“. Auf eine solche Krise der Krise hoffte er nicht allein.
Auch andere, weniger statistisch Versierte, pflegten das ‚Allerdings-da‘ im Hoffnungsgewand – gern mit kaum zu übertreffender Selbstgewissheit im triumphalistischen Gestus: Was soll das Krisengequatsche im Blick auf die Kirche? Man müsse das Krisenwort verbieten und damit auch die Krise. Schon öfters habe man, so der Militärbischof Dyba, behauptet, dass die Kirche noch auf den Hund komme; allerdings sei stets der Hund gestorben. Und so werde es auch in Zukunft sein.
Frühe Ahnungen
Wieder andere hatten frühzeitig geahnt, dass der gesellschaftliche Aufstieg der Frauen zu einer Kirchenkrise gewaltigen Ausmaßes führen würde; dass er nicht nur die Hierarchie zwischen den Geschlechtern und in den Familien bedrohen und umstürzen könnte. Was sich hier vollzogen habe „und noch vollzieht“, so seinerzeit die dramatische Diagnose und Prognose in der „Gesellschaftslehre“ Kardinal Höffners, sei „für die Menschheitsgeschichte bedeutsamer als etwa die Entdeckung der Atomenergie oder die Ausbreitung der Automation“. Allerdings … ?
Schon Karl Neundörfer hatte die mit dem „Siegeslauf“ der Volksschule im 19. Jahrhundert beginnende Hebung des Bildungsniveaus als gewichtigen Faktor erkannt, der „in der ganzen Breite des Volkes eine geistige Haltung [schafft], die für das kirchliche Leben nicht weniger bedeutsam ist wie für das staatliche.“[3] Diese Entwicklung brachte, so sah er, „nicht nur eine Höherstellung des Volkes gegenüber den Fürsten und Gelehrten, sondern auch der Frauen gegenüber den Männern“. Jene „Frauen weiterer Volkskreise, welche heute an Bildungsbesitz und politischem Einfluß gleichberechtigt neben dem Manne stehen, spüren, dass damit auch ihre Stellung in der Kirche zum Problem wird.
Die Auseinandersetzungen über die Frage des weiblichen Priestertums in den letzten Jahren (!) sind dafür Beweis genug“, so Neundörfer vor einhundert Jahren weiter. Und in der Tat könne man „die Frage nach der Stellung der Laien in der Kirche von der Frage nach der Stellung der Frau in der Kirche nicht trennen“. Neben den „erfreulichen“ Seiten dieses „Aufstieges des Laientums“, die er zum Beispiel in einem Wachstum an „religiöser Innerlichkeit“ sieht, liegt für Neundörfer, der Jurist, Priester, Zentrumspolitiker war und zum engeren Kreis um Romano Guardini zählte, „das Bedenkliche … in den offensichtlichen Gefahren dieser Entwicklung für die gottgegebene Verfassung der Kirche an sich und ihren gottgewollten Einfluß auf die Welt“.[4] Allerdings …
Der Denkzwang der Nachwuchskirche scheint unausrottbar zu sein.
Pastoraltheologen postulierten dann in den 1980er Jahren im Hoffnungsgewand einer Theologie der Gemeinde genau diese „als Ort des Lernens von Christsein“ zu konzipieren und ihr „eine wichtige Aufgabe bei der Weitergabe des Glaubens“ [5] zuzuweisen, nachdem die Einsicht wuchs, dass die Familie dabei schwächelt. So signalisierten sie seinerzeit, „dass das Problem der Weitergabe des Glaubens sich in dramatischer Weise zuspitzt, ja zu einer Überlebensfrage für die Kirche geworden ist. Bricht aber der Traditionsstrom ab, bedeutet dies für die Kirche, welche ohne Traditionen nicht leben kann, eine tödliche Gefahr“.[6]
Keine Fixierung auf überkommene Reproduktionsmuster
Doch fielen nicht nur die Familien aus, sondern auch die sogenannten Gemeinden und die gesamte „Lieferkette“ dazwischen, die für eine reibungslose Rekrutierung von Gläubigen und Priesteramtskandidaten sorgen sollte. Allerdings … Da ist doch noch der Religionsunterricht, der es schon richten wird. Er sei doch zum „wichtigsten Ort der Begegnung mit dem christlichen Glauben“ für die meisten Jugendlichen[7] geworden – was immer auch der innerkirchlich beliebte Begriff der ‚Begegnung‘ (wie ‚Weg‘ oder ‚Vernetzung‘) heißen soll. Der Denkzwang der Nachwuchskirche scheint unausrottbar zu sein. Selbst auf synodalen und sonstigen Wegen institutioneller wie organisationeller Kirchenentwicklung steht ein diesbezüglicher Paradigmenwechsel nicht auf der Agenda.
Neben dem Paradigmenwechsel, die Fixierung auf das überkommene kirchliche Reproduktionsmuster zu überwinden, stehen weitere Paradigmenwechsel an, wenn die Kirche ihr ‚Allerdings-da‘ nicht unbeirrt weiterpflegen will. Sie hätte auch ihr vorwiegend rechtliches Verständnis legitimer Liebe und Sexualität, aber auch von Sünde und Heil zu verlassen und ihre normgeleiteten in wertgeleitete Erwartungen an ihre Mitglieder zu verwandeln.
Wertgeleitete statt normgeleitete Erwartungen
Zwischen Normen, also Verboten und Geboten, die durch Sanktionen geschützt sind, und Werten, die das nicht sind, ist zu unterscheiden. Für die Kirche steht noch ein dritter Paradigmenwechsel ihres offiziellen ‚Denkstils‘ an. Er zielt auf den Abbau von bislang praktizierten Abwehr- und Ausschließungsmechanismen und auf den Einbau von nachhaltigen Lernmechanismen ins kirchliche Feld. Hierfür braucht es Arenen der Multiperspektivität. Sie können derzeitigen, ehemaligen und zukünftigen Mitgliedern als Adresse für Erfahrungen, Enttäuschungen und Widerstände und als Orte dienen, wo sie wahr- und ernst genommen und lösungsorientiert bearbeitet werden.
Für das kirchliche Feld steht schließlich ein vierter Paradigmenwechsel an, der insbesondere seine sozial- und gesellschaftspolitisch relevanten Arbeitsorganisationen betrifft. Lässt sich der Abbau von Glaubensbindungen in der Kirche als Überzeugungsgemeinschaft durch den wachsenden – und weitgehend staatlich finanzierten – Anbau von sozioökonomischen Bindungen an die Kirche als Arbeitsorganisation kompensieren, um die Nachwuchskirche zu stabilisieren? Das wäre ein neues ‚Allerdings-da‘. Auch der auf die Einrichtungen der Caritas ausgeübte konfessionelle Profilierungszwang ist vergeblich, denn es gibt Einrichtungen der Caritas, ja ganze Caritasverbände, in denen Katholikinnen und Katholiken in der Minderheit sind. Auch in der Mehrheit stellen diese ja keine glaubenshomogene Truppe dar, wie nachgewiesen.[8]
Friedensmacht statt konfessionalistisches Schwert
Aus einem ehedem konfessionalistischen Schwert könnte eine ‚Friedensmacht‘ profiliert werden: exemplarisch und stellvertretend für eine ‚Gesellschaft der Vielfalt‘. Man muss nur ‚Einheit‘ neu denken. Nicht mehr substantialistisch, sondern relational. Wie wäre es, dafür vom Berufsfußball zu lernen. An der Sportart Nummer eins lässt sich konstruktiv zeigen, „wie kulturell-ethnische Pluralität mit National- und Lokalidentitäten „zusammenfließen und wie sich neue Identitätsausformungen ergeben können.“[9] Herkunftsland, Muttersprache oder Hautfarbe können den Zusammenhalt vieler Sportgemeinschaften nicht mehr garantieren.
Ehedem vorherrschende Mechanismen sozialer Integration, die auf substantialistischen und essentialistischen Identitäten (‚Wir Deutsche‘ usw.) basieren, werden zwar nicht beseitigt, aber durch neue Mechanismen ergänzt und erweitert. Von soziologischer Seite werden sie relationale Mechanismen genannt. Sie zielen auf Differenzakzeptanz zugunsten eines höheren Zwecks. Dieser ist durch das jeweilige Handlungsfeld bestimmt – beim Fußball ein anderer als im Orchester. So fördern relationale Mechanismen den sozialen Zusammenhalt und fragen zum Beispiel nach dem Leistungsbeitrag für das Team oder den zweckbezogenen Fähigkeiten. Auf das Mannschafts- (und Frauschafts-)konzept kommt es im Fußball an, auf die ‚Technik‘, ‚den Spirit‘. Es ist der Spirit der Liebe, den die Kirche selber braucht, des Friedens, den sie zu schenken hat. Hanno Heil sagt: die Kultur des Schalom.[10]
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Prof. Dr. rer. soc. habil, Dr. theol. Michael N. Ebertz ist Soziologe und Theologe. Er lehrt und forscht an der Katholischen Hochschule Freiburg.
[1] Franz Groner, Integrationsschwund in der katholischen Kirche, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 12/1971, 215-239, hier 216.
[2] S. hierzu Michael N. Ebertz/Janka Stürner-Höld, Eingespielt – ausgespielt! Vom notwendigen Wandel des Pastoralen Habitus, Ostfildern (im Erscheinen 2022).
[3] Karl Neundörfer, Zwischen Kirche und Welt, hg. von Ludwig Neundörfer und Walter Dirks, Frankfurt a. M. 1927, 41.
[4] Neundörfer, Kirche, 42.
[5] Virgil Elizondo/Norbert Greinacher, Die Tradierung des Glaubens an die nächste Generation, in: Concilium 20/1984, 271.
[6] Elizondo/Greinacher, Tradierung, 271.
[7] DBK (Hg.), Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen, 6. überarbeitete Auflage, Bonn 2017, 14.
[8] Vgl. Michael N. Ebertz/Lucia Segler, Spiritualitäten als Ressource für eine dienende Kirche. Die Würzburg-Studie, Würzburg 2016.
[9] Caroline Y. Robertson-von Trotha, Die Zwischengesellschaft, in: Dies. (Hg.), Die Zwischengesellschaft. Aufbrüche zwischen Tradition und Moderne?, Baden-Baden 2016, 53–68, hier 55.
[10] Hanno Heil, Die Leitung eines katholischen Altenheims als kirchlicher Beruf?, Sankt Ottilien 2016.
Photo: Cover Entmachtung. Vier Thesen zu Gegenwart und Zukunft der katholischen Kirche , Ostfildern 2021
Vom Autor auf feinschwarz u.a.:
https://www.feinschwarz.net/es-geht-ums-ganze/