Angeregt durch den Beitrag „Diese Kirche tötet“ versucht Werner Busch eine biblisch-theologische Lektüre der Situation. Betroffen ist, das sagt er als Protestant, beileibe nicht nur die Katholische Kirche.
Der Essay von Werner Busch in seiner vollen Länge ist hier verfügbar. Wir dokumentieren im Folgenden Auszüge daraus.
[…] Diener Gottes geben teilweise schwersten Anstoß. Es ist nicht die Mehrheit, aber es sind auch keine ganz seltenen Einzelfälle. Noch einmal: Das Problem ist konfessionsübergreifend. Vor allem dort, wo geschlossene Macht- und Vertrauensbereiche etabliert sind und wo sie geistlich besonders aufgeladen werden, kann es zu solchen Taten kommen. Daniel Bogner beschreibt das als “sakralisierte Hülle”. Zugespitzt gesagt: Theologie und Spiritualität als Schutzraum für Täter. Das erinnert an einen Satz beim Propheten Jeremia. “Haltet ihr denn dies Haus, das nach meinem Namen genannt ist, für eine Räuberhöhle?” Kirchliche Ämter als Schutzbereich, ja geradezu Versteck für Verbrecher.
[…]
Als Paulus seine Briefe schrieb, waren Karfreitag und Ostern ungefähr 15 bis 20 Jahre her. Da stand diese Weise des Glaubens noch ganz am Anfang. Die christliche Religion hatte noch keine beschämende Vergangenheit. Weder gewaltsame Christianisierung noch Kreuzzüge oder Weltkriegs-Predigten. Das Christentum war noch keine Institution in der Welt und hatte noch keinen Autoritäts-Status in der Gesellschaft, keine monumentalen Sakralbauten. Kirche war weder großer Arbeitgeber noch Körperschaften öffentlichen Rechtes mit Sitz in Rundfunkräten und Talkshows usw. Die urchristlichen Gemeinden waren ein unbeschriebenes Blatt und trugen noch nicht die schwere Fracht von großen Traditionen und ebenso großen Fehltritten usw.
Erst als außerhalb Israels sich jesusgläubige Gruppen bildeten, wurden sie als eigenes Phänomen wahrgenommen. Man nannte sie “Christianer” (Apg 11,16). Da begann die Geschichte unserer Religion, da begann das Christentum. Sie hatten anfangs nur ihre Botschaft und sich selbst. Das war herausfordernd genug. Denn sie waren keine Unschuldslämmer. Schon Jesus hat nicht gerade die feine Gesellschaft angesprochen, sondern gab sich mit den Gefährlichen ab, deren Unmoral und Krankheiten für ansteckend gehalten wurden: Zöllner, Aussätzige, Prostituierte usw. Gepredigt wurde die Rettung der Verlorenen, Heilung der Kranken und die Rechtfertigung der Gottlosen. Des Schöpfers freie Gnade für alles Volk.
Kein Wunder, wenn problematische Typen in die Gemeinden kamen. “Gemeinschaft der Heiligen” sagen wir im Glaubensbekenntnis, und Heilige wurden sie auch schon in den Briefen genannt. Das war ein mutiger, vollmächtiger, fordernder Zuspruch, um den konkret gerungen wurde. Im 1. Korintherbrief erfährt man Eindrückliches über die Probleme einer urchristlichen Gemeinde.
Dürfen Gläubige einen Rechtsstreit gegeneinander anstrengen und sich öffentlich fertig machen? Können sie wirklich unbedenklich Opferfleisch aus heidnischen Tempeln kaufen, ist das nicht Abendmahl mit Götzen? Und wenn sie schon mal da sind, dürfen sie die Dienste der Tempelhuren in Anspruch nehmen? Man traut seinen Augen und Ohren nicht … Was ist, wenn die Eucharistie in der Gemeinde zum Gelage ausartet und Leute rülpsend und lallend Brot und Kelch herumreichen? Usw. Es gab Orientierungsbedarf, und das nicht zu knapp.
Dennoch war es die unbeschwerte Reinheit eines zauberhaften Anfangs. Schaut man in die Briefe, sieht man deutlich: Die Apostel spürten die historische Chance. Mit ihrer Verkündigung begann in der Weltgeschichte etwas Neues, Unverdorbenes. Die Christuspredigt reinigt die Seele und macht den gläubigen Menschen neu. “Ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.” (1. Kor 6,11) Du kannst anders leben, und alles, was du dafür brauchst, wird dir geschenkt: Gnade, Vergebung, Gottes Geist. Mitten in einem Reich, dessen Vitalität in ein paar Generationen verbraucht sein wird, bringt diese Botschaft eine andere, neue Lebenskraft in die Welt. Mitten in der alten Weltzeit und ihrem Chaos entsteht eine neue, nach der man irgendwann die Zeitrechnung umstellen wird.
Den Aposteln war klar, welche Verantwortung mit dieser Botschaft auf ihnen und den Gemeinden lag. Der Glaube an Christus muss ehrenhaft bleiben. Nur so ist er ein kostbares Gut. “Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Neid.” (Römer 13,2) Das sind Sätze, die ich lange für merkwürdig unzeitgemäß und moralinsauer gehalten habe. Jetzt sehe ich sie von weiter Ferne herüber leuchten wie erloschene Sterne, deren Glanz mich geheimnisvoll anzieht. “Wir sind ein Wohlgeruch Christi. Wir sind nicht wie die vielen, die mit Religion Geschäfte machen; sondern wie man aus Lauterkeit und aus Gott redet, so reden wir …” [9] Es liegt sozusagen im Gen-Code dieser Botschaft, dass christliche Gemeinschaften wie eine Stadt auf dem Berge sein sollten. Salz der Erde. Licht der Welt. „… damit die Menschen eure guten Werken sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ [6] Wohlgemerkt: „euren Vater im Himmel“. Es dient der Glaubwürdigkeit eines Glaubens, es kommt dem Evangelium, es kommt Gott zugute, wenn die Gläubigen ein einigermaßen ehrbares Leben führen und unter ihren Predigern wenigstens keine Kriminellen sind.
Das ist vorbei. Wieder und wieder erledigt, in jeder Epoche auf’s neue Alte. Unter dem Zeichen des Kreuzes, in Räumen der Kirche ist von geweihten und ordinierten Amtsträgern auch in jüngster Zeit unvorstellbar Böses getan und durch Verheimlichung auch geduldet worden. Im Präsens geschieht, was wir für mittelalterlich halten möchten. Ausgerechnet Verkündiger, Seelsorger, Erzieher haben sich an den Schwächsten vergangen. Mit der Würde der misshandelten Menschen ist auch die Gnade Gottes geschändet worden.
Was alles im Namen des Glaubens angerichtet werden kann, haben die Apostel in den ersten Jahrzehnten nur ahnen können. Ein wachsames Gefühl für die Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur hatten sie von Anfang an. Daher die gerade genannten Ermahnungen. Neben der Gnadenbotschaft haben wir immer auch lebenspraktische Ausrufezeichen im Neuen Testament. Den erhobenen Zeigefinger zur Mahnung, den ich mir auf der Kanzel am liebsten verkneife. Denn ich weiß, wie schnell das autoritär und anmaßend wirkt. Aber der Anspruch der alten Worte ist ungebrochen.
Es sind auch für uns kostbare Sätze, obschon sie einer untergegangenen Zeit entstammen. Die Prediger mussten noch auf kein abgrundtiefes Scheitern in historischen Ausmaßen Rücksicht nehmen. Es wäre damals sonst wohl niemand auf den Gedanken gekommen, Gottes bedingungslose Liebe zu predigen ohne die Hoffnung, dass sie den Menschen wirklich besser machte. “Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben.“ [14] Ermahnungen wie die folgende wecken die Sehnsucht nach Integrität. „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“ [13] Die wohltuende Gotteskraft braucht diese Aura von Wahrhaftigkeit und Anstand.
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Werner Busch ist als Pfarrer an der Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde St. Katharinen in Braunschweig tätig.