Marcella Althaus-Reid (1952–2009) stammte aus Argentinien und lehrte an der Universität Edinburgh mit Schwerpunkten Befreiungs-, feministische und Queertheologie. Sarah Marie Neumann stellt ihr Buch «Anstößige Theologie» vor, das tiefgehende Kritik an Kontexten der Gewalt in Kirche und patriarchaler Gesellschaft übt, und berichtet von ihrem Leseerlebnis.
Ich bin im Bett mit Marcella Althaus-Reid … und im Café, im ICE nach Berlin, im uckermärkischen Schaukelstuhl, in der heimischen Küche und in der Deutschen Nationalbibliothek, um ihre Anstößige Theologie – ein Text, dessen englische Ausgabe bereits großen Wellen in mir schlug – zum ersten Mal in der deutschen Übersetzung zu lesen. Marcella Althaus-Reid geht im vorliegenden Text mit der Madonna ins Bett und lehrt Frenchkissing mit Gott.
An Witz und dekonstruktivem Potential nahezu unübertroffen
Sie unternimmt dabei einen theologischen Rundumschlag und kommentiert quasi alles, was die Systematik zu bieten hat: kritisiert das politisch motivierte Unternehmen der Befreiungstheolog:innen in Lateinamerika, bespricht scheinbar beiläufig einzelne Veröffentlichungen ihrer Zeit, oder zeigt die Grenzen feministischer Theologie beim Entwurf einer Mariologie auf und überträgt jede Einzelbeobachtung sprachlich komplex und obendrein sehr bildhaft in die Welt der Sexualitäten.
Dadurch entsteht eine Metakritik: Wenn sie Theologen und deren Gottesbild einen Softcore-Gott nennt, von einer spermatischen Botschaft und Ejakulationspotenz spricht, dann beurteilt sie nicht nur patriarchal strukturierte Theologie, sondern öffnet durch diesen sprachlichen Bruch, dem Unerwarteten ihrer Vergleiche das Tor für den Diskurs um christliche Sexualethik. Denken wir dabei auch noch an Elizabeth Stuart, die sich für mehr Camp als humoriges Kritikwerkzeug queerer Theologie aussprach, ist Althaus-Reids Text an Witz und dekonstruktivem Potential nahezu unübertroffen.
Als führe Althaus-Reid die Lesenden durch Buenos Aires
Ich persönlich halte dieses sprachliche Unterfangen für absolut genial, wenngleich nicht alle Bezüge offenkundig vorliegen – aber im Dekodieren und Wiederlesen einzelner Passagen liegt der ganze Reiz dieses Theologieentwurfs. Um alle Kapitel – insbesondere jene, die sich mit dem politischen Geschehen in Lateinamerika beschäftigen – wirklich zu begreifen, braucht es entweder ein besser aufgestelltes Allgemeinwissen, vielleicht auch ein Geburtsjahr vor 1995 oder kurze Recherchen, da sich einige Referenzen sonst nämlich nicht einfach so aufschlüsseln lassen.
Insgesamt scheint es, als führe Althaus-Reid die Lesenden durch Buenos Aires, pausiere gelegentlich, um dann anhand eines Graffiti, Sexarbeiter:innen ihrer Nachbar:innenschaft, irgendeines Jungfrauenbildnisses oder Wahlplakats – ihre theologischen Überlegungen zu schildern, weshalb hier nichts zu theoretisiert erscheint. Mit einer Leichtigkeit verknüpft sie so Befreiungstheologie und Marx‘ Ideen zur lebendigen Arbeit (und Lesende verstehen sogar).
Althaus-Reid ist hinlänglich dafür bekannt, neben Menschen, die aufgrund ihrer Sexualität diskriminiert werden, auch die Positionen armer Personen zu unterstreichen; größer gerahmt, den globalen Norden für die Armutsproblematik des globalen Südens zur Verantwortung zu ziehen. Genau diese Personen und ihre Glaubensvorstellungen sind es – christlich tradiert, alltäglich geprägt, auf das reale Leben angewendet – anhand derer sie die indezente Theologie entwirft.
Sie nennt das populare Theologie
Ein Beispiel: Sie unternimmt einen historischen Nachvollzug des sich verselbstständigenden Marienglaubens in Lateinamerika: Die Madonna ist seit der Einführung des Christentums durch die Kolonisierenden wichtig, aber ihr Kult beinhaltet Lücken, die im Alltag offenbar werden. So entstehen neue Heilige, oder eine angepasste Marienfigur, ein neu interpretierter Jesus.
Sie nennt das populare Theologie. Auch christliche Figuren müssen sich den Prozessen des Adjustments unterwerfen und werden damit menschlicher, nahbarer, ein bisschen weltlicher. Die Theologie der Theolog:innen, so Althaus-Reid, muss der popularen Theologie folgen. Das ist eine kommunistische, wirklich befreiende Idee – entfesselnder als Befreiungstheologie es sein kann. „Dogmen sind tote Meistererzählungen, und die populare Theologie der Menschen wirft sie weg und modifiziert sie gemäß dem Augenblick und der sozialen Problematik“ (102).
Ist das nicht schön?
Die Übersetzung schmälert das Leseerlebnis erheblich
Probleme entstehen in gewisser Weise durch die Übersetzung; wo sich der englische Text pointiert komisch liest, stolpert der deutsche Text über Nominalisierungen, eine bisweilen unstimmige Syntax und leider auch über feststehende Begriffe queerer Community, die eine deutsche Übertragung nicht überleben. Für das Coming out (of the closet) das Bild einer Häuserfassade zu bemühen, aus der es herauszutreten gilt, darf sicherlich als kreative Leistung honoriert werden – aber das sagt nur wenig über das Gelingen aus. Möchte ich wirklich über die Zeit vor dem Coming out als fassadenhafte Sexualität sprechen (ohne mich zu schämen)? Auch kinky SM-Praktiken nur unter der Lederszene zu subsummieren, Drag, Crossdressing, Kings, Queens, Bottoms und Tops mit holprigen deutschen Entsprechungen zu übersetzen, obwohl es sich um feststehende Begriffe queerer Szene handelt, schmälert das Leseerlebnis erheblich.
Die Übertragung ins Deutsche nimmt der Verwendung von Begriffen, die in christlichen Kreisen obszön – im Sinne Althaus-Reids als pervers markiert sind – die intendierte Ermächtigung. Es ist eben nicht das Gleiche von Höhen und Tiefen der Theologie zu sprechen, oder aber den Vergleich zwischen Tops, Bottoms und religiöser Praktik zu ziehen. Althaus-Reid hat eines der wichtigsten Werke queerer Theologie geschrieben, es bleibt offen, weshalb sich die Redaktion dazu entschloss, das Einhalten der Zielsprache über die politische Dimension des Textes zu stellen.
Der Text ähnelt einem assoziativen Fiebertraum
Vielleicht fällt das sprachliche Manko auch deshalb ins Gewicht, weil der Text auf semantischer wie syntaktischer Ebene einem assoziativen Fiebertraum ähnelt, der erst hinter der Wortgewalt eine völlig stringente Argumentationslogik preisgibt. Sie zieht dafür die ganz großen Namen heran: Marx, Lorde, Foucault, Butler und baut das gesamte Buch eigentlich aber auf vermeintlich Namenlosen: betende Zitronenverkäuferinnen ohne Unterhose, die im Stadtbild Buenos Aires erscheinen. Der Text bewegt Lesende und zeugt von der Bewegung der Autorin.
Theologie als Gesellschaftswissenschaft verstehen
Marcella Althaus-Reid entwirft ihr theologisches Denken zwischen popkulturellen Bezügen, Sex und Gender – arbeitet an theologischen Fragen und an Politik, macht Queerfeminismus und postcolonial studies. Dieser Text bietet die Grundlage dafür, Theologie als Gesellschaftswissenschaft zu verstehen, sich relevanter Themen anzunehmen, eine Theologie zu stärken, die den Glaubenden entspricht.
Theolog:innen haben diskursgestalterisches Potential. Wir müssten vielleicht nur öfter mit Althaus-Reid ins Bett gehen, nachdem wir uns des Tags mit echten Menschen beschäftigt haben, statt die xte Nacht in Folge von Paulus zu träumen.
Marcella Althaus-Reid, Anstößige Theologie. Kritik theologischer Perversionen in Sex, Gender und Politik. Übersetzt aus der englischen und der spanischen Ausgabe durch Daniel Stosiek, LIT-Verlag: Berlin 2023, 264 Seiten.
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Sarah Marie Neumann ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Evangelische Theologie an der Technischen Universität Dresden. Sie ist Mitgründerin der
gender_schaft und lebt in Leipzig.
Beitragsbild: Kamaji Ogino, pexels.com