Aus einem Überblick durch den Antisemitismus in der Geistesgeschichte der Moderne und deren philosophischer Interpretation ergeben sich wichtige Fragen für heute. Christian M. Rutishauser stellt sie.
Die „Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben“ der Deutschen Bundesregierung vom November 2022 führt Bildung zur Prävention von Antisemitismus als eines von fünf Handlungsfeldern auf. [1] Dass binnen weniger als einem Jahr gerade die Universität zu einem besonderen Hort antisemitischer Äußerungen werden konnte, hatte niemand geahnt. Doch angesichts der Disruptionen auf den 7. Oktober 2023 folgend wurden die akademischen Institutionen aufgefordert, Veranstaltungen gegen Antisemitismus durchzuführen.
Antisemitismus in der Philosophie der Moderne
An der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München mit einem Lehrauftrag verpflichtet, führte ich also ein Seminar mit doppeltem Fokus durch: Antisemitismus in der Philosophie der Moderne und philosophische Interpretationen des Antisemitismus. Die Studierenden wurden dabei aufgefordert, sowohl mit dem Pro-Palästina-Camp und der kleinen Pro-Israel-Manifestation, die sich nur dreihundert Meter entfernt aufgestellt hatten, ins Gespräch zu kommen. Es folgt kein Erfahrungsbericht dieses in der Tat aufregenden Seminars, doch Einsichten und Reflexionen sollen geteilt werden.
Philosophischer Antisemitismus lässt sich nicht scharf vom christlich-theologischen Antijudaismus abgrenzen, auch wenn die Unterscheidung wichtig ist. Zum einen haben sich besonders seit dem 13. Jh. theologische, soziale und ethnische Argumentationen stark vermischt. Zum anderen geht auch die nachmetaphysische Philosophie von Anschauungen aus und konstruiert sich eine Idee oder ein Wesen des Juden, das alles andere als das real existierende Judentum beschreibt. Der „hermeneutische Jude“, wie er in der Theologie erzeugt wurde, lebt weiter. Die Philosophen der Aufklärung haben ihre Laufbahn denn oft auch als Theologen begonnen bzw. sind von einer lutherischen oder pietistischen Kultur geprägt. Sie sind Erben des Antijudaismus. Von Kant über Schopenhauer bis Nietzsche sprechen alle von den Juden als „Lügnern“ und nehmen lutherische Terminologie auf. Der deutsche Idealismus kann als „Philosophie aus dem Geist des Christentums“[3] bezeichnet werden.
Immanuel Kant
Auch wenn sich I. Kant positiv zu M. Mendelssohns „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum“ geäußert, seine jüdischen Schüler schätzte und das Bilderverbot als erhabene Stelle im mosaischen Gesetz bezeichnet hat, behandelte er das Judentum vor allem in Fußnoten, nicht als Religion, sondern als ethnische und politische Gemeinschaft, die in veräußerlichter Gesetzlichkeit stecken geblieben ist. [3] Wenn er von der „Euthanasie des Judentums“ spricht, [4] meint er damit, dass es sich in eine Vernunftreligion oder in eine natürliche Religion hinein auflösen müsste. „Das Judentum wurde bei Kant zum Inbegriff all dessen, was er für ein Missverständnis moralischer Religion hielt,“ [5] urteilt Micha Brumlik.
Deutscher Idealismus
Wenn der deutsche Idealismus eines G. F. W. Hegel oder J. G. Fichte die Vernunft beschreibt, wie sie ihren Weg durch die Geschichte findet, fällt das Judentum stets aus ihren Philosophien heraus. Als Religion nicht mehr ernst genommen, da es sich der Weiterentwicklung versperrt hat und vom Christentum überholt ist, [6] und als ethnische Größe unter den Nationen verstreut, erscheint ihnen das jüdische Volk unfähig, ein politisches Gemeinwesen zu organisieren. Es sei ein Sklavenvolk, urteilt Hegel, da es seit Abraham, beim Exodus und angesichts Jesu die Freiheit nicht ergriffen habe. Da es aus religiösen, wie historischen Gründen kein Privateigentum kenne, sei das Judentum zur Staatsbildung unfähig. [7]
Dass in dieser Betrachtungsweise, in der der Preußische Staat idealer Zielpunkt aller geschichtlicher Entwicklung darstellt, auch Völker auf der südlichen Halbkugel nur minderwertig sind und kolonialisiert werden müssen, ist offensichtlich. Bei Fichte, der ein romantisch-nationales Deutschland denkt, drohen die Juden ein Staat im Staat zu werden. Bei ihm treten gerade zwei Gedanken zum ersten Mal auf, die zum festen Bestandteil des modernen Antisemitismus werden sollten: Von jüdischer Weltverschwörung ist die Rede, weswegen die Juden kollektiv geköpft werden sollten. [8] Zudem wird Jesus als Arier konstruiert. [9]
Antisemitismus als Weltanschauung
Der deutsche Idealismus extrahiert den moralischen Gehalt aus dem Christentum in eine Philosophie und stellt bei allen Unterscheidungen innerlich/äußerlich, subjektiv/objektiv, wahr/falsch, frei/gehorsam, individuell/kollektiv, Gesetz/Gnade etc. das Judentum auf die negativ beurteilte Seite. Überhaupt laufen im Deutschland des 19. Jh. verschiedene Linien zusammen, die am Juden abgearbeitet werden: der Primat der Innerlichkeit, die Auseinandersetzung mit Autorität und Gehorsam, die Forderung nach einer idealen Moral, die eigene nationale Identitätssuche etc. Die Historikerin Shulamit Volkov beschreibt, wie sich am Ende des 19. Jh. Judenhass zu Antisemitismus als Weltanschauung verfestigt. Er ist zu einem „kulturellen Code“ geworden zu einem „Symbol“ einem „Kürzel für ein ganzes System von Ideen und Einstellungen, die mit der direkten Schätzung oder Nicht-Schätzung von Juden wenig bis gar nicht zu tun hatten.“ [10] Wer aber die „Judenfrage“ löst, der löst die „soziale Frage“.
Friedrich Nietzsche
F. Nietzsche durchschaut zwar den Antisemitismus der Straße als Ressentiment des in Fortschritt und Industrialisierung verlorenen Bürgers und distanziert sich. Umso schärfer wirft er den Juden jedoch die Entfremdung und die verfälschende Umwertung aller Werte vor. Ihm ist das Christentum mit seiner Ethik aufgesessen. Er will zurück zu natürlichen, kämpferischen, leidenschaftlichen und heroischen Werten, zur Kraft der Natur. Von der Religion über die Nation zur minderwertigen Rasse degradiert, werden die Juden auch beim ihm zum Sündenbock. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und der Weimarer Republik können die Nazis die philosophischen Ideen der „Euthanasie“ und der kollektiven Köpfung in die Tat umsetzen. Und Martin Heidegger der mit seiner Daseins-Analyse jeden Menschen aus der Seins-Vergessenheit herausführen will, kann es nicht lassen, die Juden für letztere verantwortlich und unfähig zu erklären, sie zu überwinden. Sie sind der bodenlosen und entwurzelten Rationalität der Moderne verfallen. [11]
Jean-Paul Sartre
Die Rekonstruktion der Geschichte des modernen Antisemitismus, hier skizziert, muss mit Analysen desselben einhergehen. J.-P. Sartre z. B. entwirft unmittelbar nach der Befreiung Frankreichs das Porträt eines Antisemiten, in dessen Schlusspassage es heisst: „Er ist ein Mensch, der Angst hat. Nicht vor den Juden, gewiss: vor sich selbst, vor seinem Bewusstsein, vor seiner Freiheit, vor seiner Verantwortung, vor der Einsamkeit, vor der Veränderung, vor der Gesellschaft und der Welt; vor allem, ausser vor den Juden.“ [12]
Adorno und Horkheimer
T. W. Adornos frühe Analysen von faschistischen Rednern zeigen, wie mit dem Juden ein Popanz aufgebaut wird, gegen den sich Aggression wenden kann, wie unbewusste Bedürfnisse und Wunscherfüllungen angesprochen werden; nicht rationale Argumente bestimmen den Antisemiten. [13] Und M. Horkheimer schreibt in einem sozial-psychologischen Aufsatz: „Die Hauptmerkmale destruktiven Hasses sind überall gleich. Von den sozio-politischen Gegebenheiten hängt es ab, ob sie manifest werden oder nicht.“ [14] So ähnelten sich ironischerweise die Charakterstrukturen der Antisemiten stärker als jene der Juden. Und zur klassischen Zeit des Liberalismus im 19. Jh. fügt er hinzu: „Während dieser kurzen Zeitspanne wurden die destruktiven Tendenzen nicht gegen jüdische Minderheiten, sondern gegen Kolonialbevölkerungen gerichtet, die in dieser Zeit genauso grausam behandelt wurden wie die Juden im Europa in den letzten Jahren.“ [15]
Heutige Fragefelder im Licht des Rückblicks
Dieser Blick zurück in die europäische Geistesgeschichte des 19. und 20. Jh. sensibilisiert für die Wahrnehmung des erneut zu Tage tretenden Antisemitismus. Intellektuelle Arbeit stellt heuristische und hermeneutische Mittel zur Verfügung, um Formen des Antisemitismus heute zu beschreiben, den philosophischen und politischen rechter und linken, antizionistischen und eliminatorischen, christlichen, muslimischen und atheistischer, sekundären, kulturellen und opportunistischen oder wie sie auch immer kategorisiert werden. Geschichte wiederholt sich nie. Doch Verhaltensmuster, Denkfiguren, Argumentationen, Fragestellungen kehren unter geänderten Bedingungen transformiert wieder. So eröffnen sich heutige Fragefelder im Licht des Rückblicks:
1.) Ist eine antizionistische Haltung, die Israel das Existenzrecht abspricht, als „kulturellen Code“ einer links-intellektuellen, post-kolonialen Weltanschauung geworden? Glaubt man mit dem Verschwinden Israels die heutige „soziale Frage“ der globalisierten Welt zu lösen? Ist die Auseinandersetzung um Israel eine Wiederkehr der „jüdischen Frage“ des alten Europas, sozusagen der Staat Israel der Jude unter den Staaten?
2.) Wer kämpft in Israel/Palästina und im Nahen Osten gegeneinander? Sind es die von der Angst Getriebenen und identitär Empfindenden, die homogene Gesellschaften wollen, gegen jene, die auf moderne, plurale, liberale und dynamische Gesellschaften setzen – und zwar in allen Lagern, unter Israelis, Palästinensern, Juden und Muslimen? Verkörpert Israel den umstrittenen Geist der Moderne, auf den nun ein arabisch-islamistischer Antisemitismus trifft?
3.) Antisemitismus als Weltanschauung: Wie kommt es, dass die Hamas in ihrer Charta den Zionismus als Bedrohung für ganze Menschheit bezeichnet? Warum knüpft sie an jüdischen Weltverschwörungstheorien an? Kommen diese metaphysischen und universalen Ansichten aus Europa? Stellt der arabisch-muslimische Antisemitismus eine Art religiös-philosophische Weltanschauung dar, wie sie mit Säkularisierungsprozessen einherzugehen scheinen?
4.) Welchen Anteil an Popanz, an psychischer Projektion von Aggression und Fremdenfeindlichkeit, Angst und Minderwertigkeitsgefühl bestimmt die Medienschlacht rund um den 7. Oktober und den Gazakrieg? Geht es letztlich wieder um die Seins- und Wahrheitsfrage, die an Juden abgearbeitet wird?
5.) Wenn sich das jüdische Volk endlich von der „kolonialistischen“ Fremdbestimmung durch Europa befreit hat, muss dann nicht auch das palästinensische Volk, das sich im Verlauf des 20. Jh. bildete, seine politische Souveränität erhalten? Warum wurde im Gazastreifen in den letzten 20 Jahren aber nicht an einem demokratischen Staatswesen gebaut? Welches sind die Bedingungen für Staatlichkeit?
6.) Und schließlich die philosophisch-theologische Frage: Sind die Juden im Land der Bibel ein Fremdkörper? Welche Bedeutung hat das biblisch verheißene Land für Juden? Wie ist das Konzept des Heiligen Landes der Christen zu verstehen? Was bedeutet dieses Land angesichts des jüdischen wie christlichen Selbstverständnisses, „Licht für die Völker zu sein“. (Jes 49,6)?
[1] BMI – Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben (bund.de)
[2] Micha Brumlik, Deutscher Geist und Judenhass. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum, München 2000, 17.
[3] Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Werke Bd. VIII, Frankfurt a. M. 1978, 789f.
[4] Ders., Streit der Fakultäten, Werke Bd. XI, Frankfurt a. M. 1978, 3201.
[5]Brumlik, a.a. O., 46.
[6] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, Frankfurt a. M., 257.
[7] Ders., Der Geist des Christentums und sein Schicksaal, Werke Bd.1, Frankfurt a. M. 1986, 274-284.
[8] Johann Gottlieb Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution, Werke Bd. 6, Berlin 1971, 149f.
[9] Ders., Reden an die deutsche Nation, Werke Bd. 7, Berlin 1971, 344.
[10] Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 2000, 23.
[11] Donatella di Cesare, Heidegger, die Juden, die Shoah, Frankfurt a. M. 2016, 137-182.
[12] Jean-Paul Sartre, Überlegungen zur Judenfrage, Werke Bd. 2, Hamburg 1994, 35.
[3] Theodor W. Adorno, Antisemitismus und faschistische Propaganda, in: Ernst Simmel (Hg.), Antisemitismus, Frankfurt a. M. 1993, 148-161.
[14] Max Horkheimer, Der soziologische Hintergrund des psychoanalytischen Forschungsansatzes, in: Ernst Simmel (Hg.), Antisemitismus, Frankfurt a. M. 1993, 29.
[15] Ebd., 32.
—
Beitragsbild: bernswaeltz auf pixabay