Gegen die unangemessenen theologischen Interpretationen fragt der Theologe Mislav Kovacic nach einer Enthaltsamkeit, einem Fasten des Zentralen.
Es gibt, so scheint es, zwei unterschiedliche Sinndeutungen, die die Kirche und ihre Theologie der COVID-19 Pandemie beizumessen versuchen. Für die eine geht es um die Plage oder die Strafe Gottes, für die andere dagegen, um eine Chance eines möglichen neuen Frühlings oder zumindest einer tieferen Überlegung der gegenwärtigen Situation.
Abwegige Deutungen
Mit der ersten Position will ich mich überhaupt nicht beschäftigen. Sie steht dermaßen im Widerspruch zum Glauben an die Barmherzigkeit Gottes, dass sie überhaupt nicht als „theologische‟ Positionierung betrachtet werden darf (gleichzeitig sind ihre Anhänger*innen für jedes Gegenargument taub).
Die zweite Position ist auf den ersten Blick viel attraktiver. Sie präsentiert uns als geistliche Menschen, die nicht nur theologisch gut ausgebildet und kompetent, sondern auch mit dem prophetischen Sinn begabt sind, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Und die Zeichen der Zeit verweisen darauf: Die Corona-Pandemie ist trotz aller negativen Auswirkungen der Kairos für die Kirche, die seit längerem in eine grundlegende Krise geraten ist. Deshalb gilt es, diese Zeit sorgfältig zu nutzen, um die eigene Situation zu reflektieren und sich auf „das Wesentliche‟ zu fokussieren.
Dafür brauchen Christ*innen kein Virus
Doch ist auch diese Position aus mehreren Gründen problematisch. Selbstredend halten es alle Christ*innen für wahr, dass jede Zeit eine willkommene, heilende Zeit, eine Zeit zur Bekehrung, ist. Dafür braucht man kein Virus. Was mich noch mehr verwirrt, ist aber die Sicherheit mit der man „weiß‟, dass es um eine Chance für die Kirche geht. Mich verblüfft die Vogelperspektive, fast Gottesperspektive, die so einfach eingenommen wird und die so weitreichende Beurteilungen von Gut und Böse erlaubt. Letzten Endes werden die Gegensätze neutralisiert, so macht es keinen erheblichen Unterschied, ob man zitternd feststellt: „Diese Pandemie ist eine Plage‟, oder mit einem Hauch von Hoffnung behauptet: „Diese Pandemie ist eine Chance.‟
Die Toten sind kein Glücksfall. Punkt.
Das französische Wort chance hat (ursprünglich) eine explizit positive Konnotation (coup de fortune, heureuse fortune), und wird auf Deutsch als ‚Glücksfall‘ übersetzt. Nun aber kommt die Frage: Auch wenn diese Pandemie zu einer überaus erfolgreichen Reform und sogar zum echten Aufblühen der Kirche führen würde, wäre es noch an sich legitim, sie als Glücksfall benannt zu haben? Sind die Toten, die Verwaisten, die Verwitweten, die Gekündigten, die Verarmten, die Verurteilten, die Verlachten, die Verspotteten une inconcevablement hereuse fortune (‚ein unfassbar Glücksfall‘) für diejenige, in deren Herz die wahrhaft menschliche Trauer und Angst ihren Widerhall finden soll?
Notwendiger Abschied von einem Weltbild
Heiligt der Zweck die Mittel? Oder ganz konkret: Haben wir, nach allen Grausamkeiten der Geschichte und sogar jetzt, wenn unsere schwer verletzte Mutter Erde gepeinigt schreit, die Dreistigkeit, am anthropozentrischen, eurozentrischen Weltbild alla maniera del clero romano (‚nach Art der Kleriker von Rom‘) festzuhalten? Sind wir wirklich von unserem Elitismus (nicht in einem so dringend benötigten Sinn des Dienens bis zum Tod am Kreuz, sondern im Sinn des bloßen selbstbezüglichen Existierens) so selbstgefällig überzeugt? Falls ja, ist es aber klar: Alles, was überhaupt ist, selbst in seiner leidvollen Existenz, ist nur und ausschließlich da, um mir zur Chance meiner Erhebung zu verhelfen. Entweder ermutige ich, nach neuen Wegen zu suchen oder aber lege ich arkan und Pythia ähnlich dar: Unergründlich sind die Wege Gottes.
Kein Leiden ist eine Chance
Darauf muss ich antworten: Da mache ich nicht mit! Das Leiden der anderen ist nicht und könnte unter keinen Umständen meine Chance sein – selbst dann nicht, wenn ich selbst am Rand des Todes dahinvegetiere. Oder, lasse ich mich mit einem Märchenwesen beteuern: „Ich ziehe mein eigenes bescheidenes Leben mit all seinen Sorgen der Leichtigkeit und dem Glück der ganzen Welt vor.‟
Kein Umgang mit der Krise
Außerdem schwingt in dem Versuch, die Pandemie als „Chance‟ zu betrachten, etwas beunruhigend Gottloses mit: Es lässt die Ohnmacht erkennen, mit der größeren Krise zurechtzukommen. Die Kirche hatte keine wirksame Antwort auf die Krise, die sie schon lang erschüttert hatte. So blickt sie nun abgöttisch zur „Viruskrise‟ empor und scheint daraus eine Art deus ex machina, eine gnädige Lösung für sich selbst zu erwarten. Dies bringt aber, so fürchte ich, nur ihr (und das heißt eigentlich unser) fehlendes Vertrauen in Gott zum Vorschein. Und was wir hier überraschend wieder treffen ist die gut versteckte uralte biblische Versuchung aus dem Garten Eden – jene Versuchung, die Schuld einem anderen zuzuschieben: „Herr, damit haben nicht wir, sondern das Virus zu tun.‟
Paradoxie eines unfreiwilligen Fastens?
Neben diesen zwei Positionierungen angesichts der Pandemie gibt es eigentlich noch eine dritte. Diese ist allerdings auf den ersten Blick nicht so deutlich als Positionierung zu erkennen, weil sie mehr einer neutralen Konstatierung als einer Positionierung gleicht und darum umso plausibler und theologischer klingt. Es geht darum, dass die untersagten Gottesdienste als Fasten zu verstehen seien. Wir fasten Eucharistie, unser regelmäßiges liturgisches und außerliturgisches Miteinander, die geschwisterliche Agape. Trotzdem hat das Fasten, ganz gleich wie streng es sein möge, auch einen Riesenvorteil. Es fordert uns heraus, sich von allen falschen, selbstbezüglichen statt Christusorientierten Bildern zu reinigen, der dreifachen Wüstenversuchung zu widerstehen und zu überlegen, was uns eigentlich die Eucharistie, der Gottesdienst, das christliche und gemeindliche Miteinander bedeutet. Letztendlich ist der Zweck des Fastens die persönliche Bekehrung und die Sensibilisierung für die Nächsten, richtig?
Fasten setzt den freien Willen voraus!
Jedoch bin ich auch dieser Positionierung gegenüber sehr misstrauisch. Die Begründung dafür ist lapidar: Denn hier geht es überhaupt nicht um ein Fasten. Fasten setzt immer und unbedingt einen freien Willen voraus: Man fastet nicht, weil man fasten muss, sondern weil man fasten will. Und obwohl man argumentieren könnte, die Absage aller Veranstaltungen ist ein Akt des freien Willes seitens der Kirche, ist es vielmehr so, dass sie von einer lebensbedrohlichen Situation und im Interesse des Gemeinwohls gezwungen war, diese Entscheidung zu treffen. Wo aber Hungersnot herrscht, ist die Fastenrede sinnlos, wenn nicht sogar beleidigend.
Braucht die Krise sinnvolle Deutung?
Welche Sinndeutung sollten wir dann aber dieser Pandemie seitens der Kirche beimessen? Brauchen wir ihr eine Sinndeutung überhaupt beizumessen? Oder ist es so, dass wir verzweifelt nach irgendeinem Begriff suchen, den wir instrumentalisieren würden, um unsere Bestürzung über leere Kirchengebäude und folglich über unsere Rollen, die auf einmal nicht mehr so selbstverständlich sind, zu beschreiben, um auf diese Weise unser Gewissen zu beruhigen?
Selbst der/die oberflächlichste Betrachter*in kommt schnell zum Schluss: Es sind die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, denen momentan Priorität einzuräumen ist. Das ist kaum ein Wunder, erfordert eine außergewöhnliche Situation doch auch außergewöhnliche Handlungsformen. Dabei kommt klassischen Formen der Seelsorge nur ein ziemlich beschränkter Raum zu. Natürlich soll man kreativ sein, um auch unter der Kontaktsperre die Menschen zu erreichen und ihren Bedürfnissen entgegenzukommen.
reflektierte Verantwortung
Wir dürfen nicht vergessen: auch das Reflektieren gehört zum Menschsein, egal was wir tun (unreflektierte Handlung ist nur sehr kurzfristig möglich – etwa in Grenzsituationen, in denen man instinktiv reagiert). Unsere Reflexion sollte jedoch an erster Stelle die Übernahme der Verantwortung für die weltweite ökologische Katastrophe zum Gegenstand haben, für die COVID-19 nur ein Zeichen ist. In unserer Reflexion sollten wir auch beachten, dass in schlimmen Zeiten Spitzfindigkeiten – auch in vordergründig frommem und theologischen Gewand – nichts nützen. Und in ruhigen Momenten könnten wir überlegen, ob es zu unserer Bekehrung, zum Wachstum in Nächstenliebe und Gerechtigkeit gegenüber unserer Mutter Erde nicht heilsam wäre, eine gewisse Zeit das Wort „Gott‟ zu fasten.
Beim Schweigen verweilen
Vielleicht würden wir dann klarer sehen, dass das Einzige, was wir legitimerweise noch tun dürfen, darin besteht, unsere Toten mit unseren Tränen zu salben, sie zu begraben, und beim ohnmächtigen Schweigen zu verweilen. Vielleicht würde es uns endlich aufgehen, dass wir einen unglaublich andauernden Karsamstag erleben.
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Autor: Mislav Kovacic arbeitet seit 2019 als Theologe und Pastoralassistent im Bistum Hildesheim.
Foto: Kamil Szumotalski / unsplash.com