Gabriele und Peter Scherle machen sich Gedanken über aktuelle apokalyptische Zeitdeutungen und die biblischen Erzählungen von der Apokalypse. Letztere enthalten die Hoffnung auf mehr als das Ende.
Nur noch 90 Sekunden bis zum doomsday, dem endgültig letzten Tag. So nah war das Ende noch nie, das das „Bulletin of the Atomic Scientists“, auf seiner „doomsday clock“, der Weltuntergangsuhr im Jahr 2022 symbolisch in Szene setzte. Ob das noch jemanden erschreckt, darf bezweifelt werden, denn wie wir wissen, kann die Uhr auch wieder zurückgedreht werden.
Inzwischen sind wir es gewohnt, uns mit endzeitlichen Zeitdeutungen konfrontiert zu sehen. Die Selbstbezeichnung der „letzten Generation“ gehört ebenso in diese Kategorie einer bestimmten Geschichtserzählung, wie die Endzeit-Angst vom atomaren Weltkrieg, die der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew – unterstützt vom russisch-orthodoxen Patriarchen Kirill – schürt, der damit droht, das Jüngste Gericht über die Ukraine zu bringen.
„Die Apokalypse gehört zu unserem ideologischen Handgepäck“ (Hans Magnus Enzensberger).
Sicher gibt es in diesen Zusammenhängen auch andere Deutungen der Weltlage, als die eben genannten. Aber es gehört zu unserem kulturellen Repertoire, tiefe Erschütterungen unserer gesellschaftlichen Sicherheiten mit jenem Narrativ zu deuten, das sich der biblischen Überlieferung verdankt und apokalyptisch genannt wird. Anders formuliert: „Die Apokalypse gehört zu unserem ideologischen Handgepäck“ (Hans Magnus Enzensberger).
In den biblischen Texten ist damit eine Erzählform gemeint, die aus der Perspektive derer entsteht, die zum Opfer der Verhältnisse und der menschlichen Geschichte gemacht werden. Sie imaginieren das Ende der Gewaltverhältnisse und weltlichen Reiche durch den biblischen Gott. „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhöht die Niedrigen“ (Lukas 1,52), wie es im Lobgesang Marias heißt. Dabei wird der Schmerz und der Zorn der Opfer in Rachephantasien verwandelt, die in Erwartung der göttlichen Vergeltung auf einer Gerechtigkeit beharren, die noch das umfasst, was für Menschen unverzeihbar ist. Es geht bei dieser „rächenden Gerechtigkeit“ (Marcel Hénaff) also nicht um die vordergründige Vernichtung der herrschenden Mächte, sondern um das hintergründige Versprechen auf Rettung und Erlösung der Gequälten. Es geht darum, den Hinter-Sinn des theatrum mundi zu entbergen, offenbar zu machen. Eben das ist die Bedeutung des griechischen Wortes „apokalypsein“: die verborgene Wirklichkeit zu enthüllen. Zum Trost und zur Ermahnung.
Die Zeichenhandlungen sollen den Abgrund bezeichnen, der sich auftut.
Apokalyptisch inspiriertes Erzählen und Handeln will also aufrütteln. Die Bilder, mit denen enthüllt werden soll, von welchen „Mächten und Gewalten“ das Leben „dieser Generation“ bestimmt ist, sind deshalb auch keine Aufklärung darüber, was der Weg aus der Krise wäre. Der jesuanische Ruf „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ liefert kein Programm, befreit aber von der Verzweiflung, in die Krisen treiben können. Die in prophetischer Tradition stehenden Zeichenhandlungen, sollen keinen konkreten Forderungen Nachdruck verleihen, sondern den Abgrund bezeichnen, der sich auftut. Dafür werden mythische Sprachbilder verwendet, wie etwa die vom „Tier aus dem Abgrund“, das in unterschiedlichen Gestalten auftreten kann und von dessen Überwindung erzählt wird. Das Abgründige der damaligen „pax Romana“ wird so zugleich enthüllt und entmachtet. Es droht nicht aller Tage Abend. Stattdessen wird der Jüngste Tag sehnsüchtig erwartet.
Eben deshalb lassen sich die Aktionen der Letzten Generation nicht als apokalyptisch verstehen. Ihre Straßenblockaden enthüllen nichts, sondern wollen politische Forderungen durchsetzen helfen. Diese kleinteiligen Forderungen (z.B. Tempolimit) stehen zum einen in keinem nachvollziehbaren Zusammenhang mit dem dystopisch ausgemalten Klimawandel. Zum anderen werden die Prozesse in der repräsentativen Demokratie delegitimiert, weil das eigene politische Programm in letzter Konsequenz (Stichwort: Bürgerrat) autoritär durchgesetzt werden soll.
Das apokalyptische Rettungs-Narrativ hat sich zur dystopischen Erzählung gewandelt.
Uns späten Modernen ist der religiöse Zusammenhang verloren gegangen. Wir sind vertrauter mit den vielen Formen einer „kupierten Apokalypse“ (Klaus Vondung), die nur mehr die vordergründige Vernichtung kennt, dem hintergründigen Versprechen auf Rettung und Erlösung aber nicht mehr trauen kann. Seitdem die europäisch beeinflusste nach-aufklärerische und vom Idealismus durchtränkte Theologie selbst den Anspruch aufgegeben hat, sich mit dem Hinter-Sinn der Weltwirklichkeit zu befassen, hat sich das apokalyptische Rettungs-Narrativ zur dystopischen Erzählung gewandelt.
Von den Bildern eines John Martin (z.B. „The Last Man“) Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den immersiven Dystopien heutiger Medienwelten (z.B. „World War Z“) lässt sich da ein Bogen schlagen. Gezeigt wird uns die „nackte Apokalypse“ (Günther Anders). Keine Rettung, keine Erlösung wird mehr erwartet. Der Himmel hält nichts mehr offen und die Erde ist (wie im „Anfang“ von dem die Bibel erzählt) wieder „wüst und leer“. Nur zwei Perspektiven für ein Ende der Geschichte gibt es in diesen Imaginationen der „Zukunft als Katastrophe“ (Astrid Horn) noch: Entweder die Erde ist am Ende ganz befreit vom Menschen und die Natur erlöst von all der Destruktion durch den homo sapiens. Oder eine kleine, meist familiäre Gruppe von Menschen lebt im ständigen Überlebenskampf in den Ruinen der Zivilisation.
Folgen für die Möglichkeiten, die gegenwärtigen Krisen-Erfahrungen zu deuten.
Diese Verschiebung von der Apokalypse zur Dystopie hat Folgen für die Möglichkeiten, die gegenwärtigen Krisen-Erfahrungen zu deuten. Als besondere Herausforderung erweist sich dabei die Wirksamkeit einer Endzeitdeutung, die das Selbstverständnis westlicher Gesellschaften seit 1989 geprägt hat. Gemeint ist die Vorstellung, dass mit dem Ende des Kalten Krieges das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) angebrochen sei – ganz apokalypsefrei. Die Annahme, die liberale Moderne wäre nunmehr alternativlos und würde sich global immer weiterverbreiten, war nicht nur politisch, sondern auch kulturell wirksam. Jede Störung dieser pax moderna wurde als Einbruch der Barbarei betrachtet und dementsprechend bekämpft oder ausgegrenzt. So konnte hierzulande die Illusion gepflegt werden, dass immerwährender Friede herrsche und wir Anspruch auf unseren Wohlstand hätten, selbst wenn unsere imperiale Lebensweise die Kosten dafür anderen Menschen und der Natur insgesamt aufbürdet.
Inzwischen aber ist diese pax moderna so brüchig geworden, dass viele ihr Ende kommen sehen. Nichts ist mehr sicher, weder die Demokratie noch der Wohlstand, weder das Leben ohne (kriegerische) Gewalt, noch die Bewohnbarkeit der Erde. Gleichzeitig stehen an allen Ecken und Enden Menschen auf und wehren sich gegen ihre Diskriminierung in der herrschenden Ordnung. Die Auseinandersetzungen werden – auch medial verstärkt – immer schärfer, die Konflikte unerbittlicher.
Ein nicht enden wollender Strom von Lügen, die im wahrsten Sinn des Wortes dia-bolisch wirken.
In solchen Zeiten werden auch die herrschenden Sinn- und Wissensordnungen brüchig. Dann schwirren vielfältige Deutungen umher, die sich voneinander lösen und eigene Deutungsgemeinschaften hervorbringen. Wo die einen ihre Sicherheit in dem Satz follow the science suchen, lassen sich die anderen von Erzählungen verführen, die ein geheimes Wissen von denen behaupten, die woke sind, erwacht. Und als würde das noch nicht genügen, wird die Öffentlichkeit überschwemmt mit einem nicht enden wollenden Strom von Lügen, die im wahrsten Sinn des Wortes dia-bolisch wirken, weil sie alles so durcheinanderwürfeln, dass eine gemeinsame Weltsicht unmöglich wird.
Kaum verwunderlich also, dass auf dystopische Erzählungen zurückgegriffen wird. Sie versprechen ja nicht nur Entlastung, sie wollen aufrütteln. Das Ende ist nah – noch aber kann etwas dagegen getan werden. Wir malen euch die Katastrophe aus, damit ihr sie verhindert. Ob diese mahnende Funktion auch erfüllt werden kann, ist jedoch fraglich. Das Ausmalen der Katastrophe kann auch deprimieren oder Angst-Lust erzeugen. Das gilt umso mehr, als die modernen Dystopien ja kupierte Apokalypsen sind, also gar keine neue Welt, keine Rettung oder Erlösung versprechen.
Das Leben, das wir auf dem blauen Planeten führen, ist ein winziger Augenblick an einem winzigen Punkt.
Dystopische Erzählungen haben ihre Wahrheit darin, dass sie den Glauben an den immerwährenden Fortschritt und die grundsätzliche Stabilität menschlicher Gesellschaften (und der sie umgebenden Umwelt) in Frage stellen. Gerade im Verweis auf die ständige Möglichkeit katastrophischer Entwicklungen und Abbrüche, sind sie realistisch. Denn sie erinnern uns an die Bedingungen menschlichen Lebens auf dem hauchdünnen Erdmantel, unter dem der Glutkern der Erde brodelt und der nur eine höchst fragile Biosphäre und Atmosphäre entwickelt hat, die erst im Erdzeitalter des Holozän, also für die kurze Zeit seit etwa 12 000 Jahren, die klimatischen Voraussetzungen menschlicher Zivilisation geschaffen hat. Das Leben, das wir auf dem blauen Planeten führen, ist ein winziger Augenblick an einem winzigen Punkt in einem dynamischen Universum, das nach Auskunft der Naturwissenschaften selbst einmal den Kälte- oder den Wärmetod sterben wird.
So betrachtet, stünde die neue Angst vor dem Ende für das Aufwachen aus einem fast kindlichen Glauben, der sich mit der Formel vom Ende der Geschichte verbunden hatte, aber letztlich auf einer idealistischen Geschichtsphilosophie beruht. Die Vorstellung, der neue Mensch und die neue Welt würde durch den „unablässigen Fortschritt des Menschengeschlechts“ (Gotthold Wilhelm Leibnitz) geschaffen, hat ihr eigenes katastrophisches Potential verkannt, das sich in vielfältigen totalitären Ideologien und Bewegungen im 20. Jahrhundert Bahn gebrochen hat.
Die biblischen Erzählungen von der Apokalypse … wollen vor allem die Hoffnung wecken.
Es ist dieselbe Vorstellung, die dem Menschen weiterhin alles zutraut, die Kontrolle über die Weltverhältnisse ebenso wie die Vernichtung der planetarischen Lebensbedingungen. Deshalb kehren auch hier totalitäre Denk- und Verhaltensmuster wieder, die politische Abwägungen denunzieren, die nicht nur Schwarz und Weiß, Gut und Böse kennen. Wer sich in einem endzeitlichen Kampf sieht und völlig eindeutig auf der Seite der Guten zu stehen meint, braucht den Gegenpol des ebenso eindeutig Bösen. Da ist kein Raum für Ambiguitätstoleranz.
In dieser Situation könnte die theologische Erinnerung an die biblischen Erzählungen von der Apokalypse heilsam sein. Vordergründig scheinen sie zwar dem dystopischen Muster zu folgen. Hintergründig aber wollen sie vor allem die Hoffnung wecken, dass der Kampf für die Bewohnbarkeit der Erde nicht vergeblich ist. Die Welt nimmt kein katastrophisches Ende, weil Gott selbst die Schöpfung bewahrt und das heilt, was in ihr zerbrochen ist. Sich auf diese Perspektive einzulassen zu können, also „der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“ (Theodor W. Adorno), wird Glaube genannt. Er widersteht der Verzweiflung, die entsteht, wenn die eigenen Möglichkeiten, die Welt zu retten, überschätzt werden.
Gabriele Scherle ist Evangelische Theologin, Pröpstin a.D. und Vorstandsvorsitzende der Bildungsstätte Anne Frank e.V. Frankfurt am Main.
Dr. Peter Scherle ist Evangelischer Theologe, Prof.em. für Kirchentheorie. Er war Visiting Lecturer für Ökumenische Theologie an der Irish School of Ecumenics in Dublin.
Beitragsbild: Jared Murray / unsplash.com