Im Menschen lauert der Abgrund. Diesen Abgrund haben nach dem Krieg viele Menschen gesehen und haben je auf ihre Weise alles getan, um den Krieg nach dem Krieg zu verhindern. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist dafür der fast vergessene katholische Dichter Reinhold Schneider. Von Ottmar Fuchs.
1 Unter der Wucht des Gerichts
Unter dem Eindruck der letzten Jahre des Naziregimes, seiner entsetzlichen Verbrechen und Gräueltaten und der Vernichtung von Millionen von Menschen hat Reinhold Schneider jene Sonette geschrieben, die kurz nach Kriegsende unter dem Titel „Apokalypse“ erschienen sind.[1] Er war einer der ersten, der für die Menschen nach 1945 das Unheil dieser Vergangenheit aus seiner Radikalität heraus zu deuten versuchte, damit die Menschen danach überhaupt noch weiter leben und eine Hoffnung entwickeln konnten, die sich der Vergangenheit genauso stellte und diese Erinnerung nicht verdrängte, wie sie sich aus dieser Erinnerung selbst heraus nach vorwärts tastete.
Vorwegnahme des künftigen Gerichts in die eigene Gegenwart.
Diese strenge Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart fand Schneider im christlichen Motiv des Gerichtes als Offenbarung dessen, was geschehen ist, was zu sühnen und zu verantworten ist und wie anders die Zukunft auszuschauen hat. So bezieht er sich in diesen Sonetten auf die Apokalypse des Johannes und reagiert auf verschiedene Stellen mit seinen Gedichten. Damit holt er das letzte Gericht in diese Gegenwart hinein, vollzieht es jetzt als Gericht der vergangenen und der zukünftigen Geschichte.
Vorwegnahme des künftigen Gerichts in die eigene Gegenwart: das ist Umkehr, Buße und Versöhnung, ist die Ausrichtung der Gegenwart und der Zukunft an dem, was kommen wird, wenn der Messias kommt. Der Sprachraum des Gerichts bestimmt das Artikulationsniveau des Gewissens, in dem die Verantwortung für die Welt in das eigene Leben hineingenommen wird, in der Annahme des Leides und Mitleidens als Sühne für Vergangenes und in der entsprechenden Veränderung der Zukunft.[2]
So bezieht sich ein Sonett auf Offb 17,8, wo das zerstörerische Tier, das aufsteigt, am Ende, wenn der Richter kommt, ins Verderben geht:
„Dein ist die Macht. Des Tieres Macht ist tot,
Ob seiner Kronen blutumrauchter Schein
Das stille Werk der Jahre überdeckt.
Wir fragen nicht. Uns fordert Dein Gebot.
Wir tragen in die tiefste Nacht hinein
Dein mächtig Wort, das Tote auferweckt.“[3]
Reinhold Schneider stirbt 1958 mit knapp 55 Jahren, am Ostersonntag, nachdem er am Ostersamstag so unglücklich stürzte, dass er nicht mehr zu retten war. Heute ist er ein ziemlich vergessener Dichter, als hätte er nur jenen etwas zu sagen gehabt, die damals gelebt haben. Damit sind die jetzt Lebenden aber selber dabei, etwas zu verdrängen: nämlich die Erschütterung darüber, was in dieser und unserer Zeit geschieht, und zwar auf der ganzen Welt, an Völkermord, an Hunger, an Ausschluss von Menschen aus Lebensmöglichkeiten, an Zerstörung der Lebensressourcen.
Erschütterung darüber, was in dieser und unserer Zeit geschieht.
Auch heute könnte Reinhold Schneider formulieren: „Darum sollen die Wüsten dieser Zeit und die verwüsteten Seelen, die Trümmer und Gräber, die Schreckensnächte und vom Tod überschatteten Tage, das Leid der Vertriebenen und Misshandelten, sollen aller Frevel und alle Fehler unvertilgbar vor unseren Augen stehen, unserer Seele gegenwärtig sein: sie in ihrer Gesamtheit sind das Gewicht, das wir tragen, die Aufgabe, die wir bewältigen sollen.“[4]
Unsere Generation wäre für die Zukunft gut beraten, wenn die Botschaft des Gerichts auch in ihren Ohren dröhnen würde: „Für mich spielt alles Geschichtliche unter einem Gewitterhimmel, und die furchtbaren Worte, die im Evangelium von den Letzten Dingen dieser Welt gesagt sind, dröhnen mir in den Ohren.“[5] Vielleicht wird es Zeit, die „Trümmerliteratur“ nach 1945 auch als „Sanitätsdienst“ an unserer Gegenwart und Zukunft zu lesen, um, wo immer es möglich ist, die Trümmer der Zerstörung zu verhindern.
„Du kommst, mein Gott…
Du wirst der Mächtigen Türme niederreißen
Und jede Mauer, die von Dir noch trennt.
Wir sind umzingelt, und wir werden fallen
In Deine Macht. Im schrecklichsten Gericht
Schenk’ uns der Liebe innigste Gewalt!…“[6]
2 Ambivalenz der Hoffnung
Was mit Reinhold Schneider in der nachkriegsliterarischen Rezeption gegenüber der Vergangenheit an Auseinandersetzung möglich war, könnte gegenwärtig zur Basis der Auseinandersetzung mit der Gefahr einer möglichen Zukunft (die vielerorts schon Gegenwart ist) werden. Ähnlich wie Carl Amery die Gefahr einer globalisierten Hitlerformel („Es reicht nicht für alle“) an die Wand der Zukunft malt, um sie möglichst zu verhindern.[7] Dabei konnte er vom Leichengrab des Mittelmeeres noch gar nichts wissen.
Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen Hoffnung und Hoffnung.
Das Gericht gibt Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen Hoffnung und Hoffnung. Menschliche Hoffnung wird zwar immer als etwas Gutes angesehen. Aber das stimmt nicht, wenn Mächtige Hoffnung darauf setzen, ihre Herrschaft zu erweitern, wenn Verantwortliche in wirtschaftlichen Konzernen die Hoffnung haben, in rücksichtsloser Weise Profit machen zu können, ohne die Konsequenzen sehen zu wollen, dass Millionen von Menschen deshalb unter die Armuts- und Elendsgrenze gedrückt werden. Reinhold Schneider hat diesen radikalen Widerspruch zwischen den Hoffnungen des Weltreichs und des Gottesreichs wie kaum ein anderer erlebt und benannt:
„und der Bekenner hatte den Mut,
im schroffsten Widerspruch zu den Vorstellungen
und Hoffnungen seiner Zeitgenossen
diese Macht als eine teuflische zu benennen.“[8]
Es ist ein Aspekt jenes Erschreckens,[9], das Johann Baptist Metz so eindrücklich als Brisanzsteigerung verdeutlicht hat und das nicht als Alarmismus zu disqualifizieren ist, vor allem nicht angesichts der weltweit aufplatzenden identitären bzw. fundamentalistischen Kräfte. Auch heute, und offensichtlich verstärkt, gilt Bertolt Brechts Wort aus dem Epilog des Theaterstücks „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“. Und die Waffenkammern sind fast überall prall gefüllt.
In seinem wahrscheinlich letzten Sonett (1951) schreibt Reinhold Schneider auch in unser Stammbuch:
„Dort, wo die Brücke einstürzt, eile hin!
Zur Flamme werde, die dein Werk verbrennt!
Ob dich das Volk verleumdet und verkennt:
Tu’s doch! Das Zeichen selber ist Gewinn.“[10]
Es wäre ein großer Trost für alle „Stauffenbergs“ gewesen, hätten sie diesen Vers gehabt: dass ihr erfolgloses Handeln zum Zeichen jener Zukunft geworden ist, der ich es mit Millionen von europäischen Menschen verdanke, dass wir bis jetzt fast 75 Jahre Frieden haben, der aber auch teuer erkauft ist. Heute, und dies ist spätestens öffentlich geworden seit den Protesten der 68er Studentenbewegung gegen den Vietnamkrieg, weiten wir das Zeugnis aus gegen die Stellvertreterkriege, damit es nicht zu Hungerkriegen kommen muss. Europa als ein wenigstens angestrebter Vollzugsort und als wenn auch wackeliges Zeichen dieser Hoffnung? Schön ist es und schön wäre es.
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Ottmar Fuchs ist emeritierter Professor für Praktische Theologie in Tübingen.
Photo: Rainer Bucher (Autobahnkirche Medenbach)
[1] R. Schneider, Apokalypse. Sonette, Baden-Baden 1946.
[2] Vgl. O. Fuchs, Das Jüngste Gericht. Hoffnung über den Tod hinaus, Regensburg 2018.
[3] Schneider, Apokalypse 13.
[4] R. Schneider, Gedanken des Friedens. Gesammelte kleine Schriften, Freiburg i.B., 50.
[5] R. Schneider, Dankesrede: Der Friede der Welt. In: Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hg.), Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1956, 7-14, 12.
[6] Schneider, Apokalypse 15.
[7] C. Amery, Hitler als Vorläufer. Auschwitz – der Beginn des 21. Jahrhunderts. München 2002, 163 ff.
[8] R. Schneider, Weltreich und Gottesreich. München 1946, 44.
[9] Zur Kategorie des Erschreckens in diesem Zusammenhang vgl. Johann Baptist Metz, Im Eingedenken fremden Leids, in: Ders., u,a., Gottesrede, Münster 1996, 3-20, 16; Ottmar Fuchs, Es wird uns leid tun! Plädoyer für eine Schärfung des Glaubens im Horizont der Solidarität, in: Norbert Mette, u.a. (Hg.), Brücken und Gräben, Münster 1999, 191-204.
[10] Zit. bei Scherer, B.S.: Weil ER lebt. Reinhold Schneiders religiöser Weg, in: Geist und Leben (1978) 347-363, 349