Es ist schön, Zeit zu haben für die Begegnung mit Emmanuel Lévinas, dem großen Denker des Anderen, der am 25. Dezember 1995 gestorben ist. Vor knapp 30 Jahren hätte Barbara Staudigl ihm im Leben begegnen können. Heute folgt sie den philosophischen Spuren, die er ausgelegt hat.
Der Professor, der meine Arbeit betreute, bot mir an Emmanuel Lévinas persönlich kennenzulernen, sie waren gut bekant mteinander. Ich wagte es nicht. Ich verstand noch zu wenig von seiner Philosophie, um Fragen zu stellen. Die Begegnung heute und hier ist richtiger. Am Abend zuvor war ich bei Odile, meiner Freundin und Austauschschülerin aus Gymnasialzeiten in Paris. Wie das Leben manchmal spielt: Sie hat einen orthodoxen jüdischen Mann geheiratet, ihr Schwiegervater wurde an der ENIO ausgebildet, der Ecole Normale Israélite Orientale, jenes Lehrerbildungsseminars für marokkanische Juden, in dem Emmanuel Lévinas von 1946 bis zu seiner Pensionierung Schulleiter war. Einer seiner Schüler und sein späterer Biograph, Salomo Malka, sagt: „Wir lebten in seiner Philosophie, ohne uns darüber im Klaren zu sein.“1
Begegnung mit dem radikal anderen Menschen.
Seine Philosophie, das bedeutet das Denken des Anderen. Die Begegnung mit dem anderen Menschen ist bei Lévinas die Begegnung mit einem radikal anderen Menschen, der so anders ist, dass ich ihn nicht wirklich be-greifen kann. Der und die Andere ist kein Alter Ego, keine Variation des Allgemeinen, sondern unendlich anders. Und diese Andersheit ist Chance und Einladung zur Begegnung mit Transzendenz, mit jenem, was wirklich außerhalb der eigenen Identität liegt. Die Differenz, die zwischen dem Selben und dem Anderen besteht, ist unendlich. Und in dieser Differenz besteht die Qualität der Beziehung mit dem anderen Menschen, dem man in seiner Spur nur folgen kann, ohne ihn je einholen zu können.
Diese Sichtweise Lévinas´ tat mir, die mit kleinlicher katholischer Kasuistik aufgewachsen war, so wohl: diese Sichtweise auf den anderen Menschen, dem es in seiner Spur zu folgen gilt, den man nicht auf Worte reduzieren und nicht auf Eigenschaften festnageln kann! Diese Optik vom anderen Menschen, von dem man immer weniger weiß, als man zu wissen glaubt und der als einziger den Weg aus der Enge des eigenen Denkens und den Grenzen der eigenen Identität weisen kann!
Ich begegnete der Andersheit in den eigenen Kindern, die ich mit Faszination heranwachsen sah, immer wieder staunend darüber, wie mir das Wissen über sie entgleitet und sie anders sind, als ich oft zu wissen meinte. Und in den jungen Menschen, die ich viele Jahre unterrichtete, die meinen Alltag belebten und die mich mit ihrer Heterogenität so oft mitnahmen auf den Weg des Staunens und Wunderns.
Der Spur des und der Anderen folgen!
Der Spur des und der Anderen zu folgen, das ist der ethische Appell von Emmanuel Lévinas. Nun folge ich hier auf dem Cimetière parisien de Pantin seiner Spur, suche sein Grab, von dem ich nur weiß, dass es im jüdischen Teil und in der Division 114 liegt. Seiner Spur zu folgen, bedeutet auch mitzudenken, was ihm in Deutschland widerfuhr – in jenem Land der Dichter und Denker, in dem der Litaue nach seinem Abitur 1923 Philosophie studieren wollte. Er bewarb sich an verschiedenen Universitäten und wurde abgelehnt, weil er Jude war. Wie bitter, dass er in diesem Land, dessen humanistisches Erbe er studieren wollte, 20 Jahre später den Inbegriff der Inhumanität im Lager für jüdische Kriegsgefangene in der Lüneburger Heide erleben musste. Von 1940 bis 1945 war er dort interniert, wusste über fünf Jahre hinweg nicht, was mit seiner Familie während des nationalsozialistischen Terrors geschah. Seine Frau Raissa und die Tochter Simone überlebten, ein Freund hatte sie in einem Frauenkloster versteckt. Seine Familie in Litauen und die seiner Frau wurden allesamt im Holocaust ermordet. Eine sehr persönliche Widmung auf Hebräisch in seinem Spätwerk „Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht“ ehrt das Andenken an seine Familie und Schwiegereltern.
Emmanuel Lévinas fand Heimat in Frankreich: zuerst in Strasbourg, wissenschaftlich, aber auch persönlich bei Edmund Husserl, später in Paris, wo er ab 1930 lebte, als Studienleiter in der ENIO, als Assistent des Generalsekretärs der Alliance Israélite Universelle, einer international agierenden jüdisch kulturellen Organisation, die Schulen betrieb. Die ENIO sollte ihm bis zu seiner Pensionierung berufliche Heimat bleiben, denn erst mit 62 Jahren erhielt er eine Professur an der Universität Paris-Nanterre und mit 68 an der Sorbonne.
Zwei Ordnungen: Sinnlichkeit und Geist
Lévinas´ Leben war zutiefst geprägt vom Terror des Nationalsozialismus. Was wunder, dass in seinem Denken Verletzlichkeit, Verwundbarkeit und eine vom Verstand nie übernehmbare Passivität eine große Rolle spielen. Er denkt den Menschen im Schnittpunkt zweier Ordnungen: der Sinnlichkeit, zu der neben dem (legitimen) Genuss die Verletzlichkeit gehört. Und des Geistes, zu dem das Denken und das Bewusstsein führen. Zur Ethik, zum anderen Menschen führt nicht der Geist, sondern die Sinnlichkeit, die Verletzlichkeit, die Passivität, die den Menschen für den Appell des Anderen öffnet. Die Verantwortung für den anderen Menschen hat ihre tiefste Wurzel in der Sensibilität, nicht im Bewusstsein. Jeder Entscheidung, ob man bereit ist, für den anderen Menschen Verantwortung zu übernehmen, dem Appell des anderen Menschen zu folgen, geht eine immer schon vorhandene Sensibilität für den Anderen, für die Andere voraus.
Aber man lebt nicht allein auf einer Insel mit dem oder der Anderen. Schwieriger wird es, wenn der resp. die Dritte dazukommt. Denn der oder die Dritte – als Chiffre für die vielen – macht deutlich, dass man aus der Unmittelbarkeit der Begegnung herausfällt, dass es Gesetze und Regeln braucht, dass es die Ordnung des Geistes braucht, um das Miteinander zu regeln. Diese Schnittstelle zwischen der Ordnung der Sinnlichkeit, die zum anderen Menschen führt, und der Ordnung des Geistes, die zu Regeln und Gesetzen führt, ohne die eine Gemeinschaft nicht funktioniert, wurde oft als eine Schwäche seiner Philosophie angemahnt. Wer ist wann der oder die Andere, wer ist wann der oder die Dritte? Und wie verhalten sich die Ansprüche des oder der Anderen und des oder der Dritten zueinander?
Corona: Wer ist der oder die Andere?
Ich empfinde es nicht als Schwachstelle seiner Ethik, sondern als Beschreibung von Menschsein. So ist es, das gilt es auszuhalten. Im Gespräch mit meiner Tochter und ihren Kolleginnen und Kollegen in der Intensivpflege, die in diesen Tagen täglich neue Corona-Patienten und Patientinnen betreuen, denke ich gerade oft an Lévinas. Wer ist der oder die Andere? Sind es die Geimpften, die einen Impfdurchbruch erleiden und schwer an Corona erkranken? Die Nicht-Geimpften, die mit ihrer Entscheidung in Kauf nehmen, dass sie medizinisches Personal belasten und gefährden? Die Antwort von Emmanuel Lévinas´ wäre eine radikale: Jeder und jede ist der oder die Andere. Und es gilt, nicht zu fragen, was der oder die Andere für mich tun kann, sondern was ich für die Anderen tun kann. Après-vous, sein Lebensmotto.
Und doch geht Leben nur im Diskurs, wer der oder die Andere und wer der oder die Dritte ist. Eine Spannung, die man nicht auflösen kann, weil sie dem Leben immanent ist. In dieser Corona-Krise spüren wir es deutlich, wenn wir das Bedürfnis haben, uns von Anders-Denkenden abzugrenzen, egal, in welche Richtung. Spannungsfelder auszuhalten, kostet Kraft, fordert Eigenverantwortung. Die Einladung, der Spur des und der Anderen zu folgen, ebenso. Spuren sind keine Gesetze, sind nicht in Stein gemeißelt, sind flüchtig. Und das ist es, was sie menschlich und transzendent zugleich macht. Die Einladung, dem und der Anderen Raum zu geben, in der Andersheit Reichtum zu entdecken, kann dem anderen Menschen nie so Unrecht tun, wie es Dogmen können.
Der Weg zu seinem Grab lässt mich der Spur Emmanuel Lévinas´folgen, führt mich noch einmal zu seinem Denken und lässt es mich auf die derzeitige Krise anwenden. Es ist die Verletzlichkeit, die zum anderen Menschen führt. Und es gilt, Andersheit als Bereicherung und Einladung zu sehen. Ansonsten sind wir da, wo Identitätsdenken immer hinführt: zu Abgrenzungen, zu Blockaden, zum Definieren, wer eine „Gerade-Denkerin“ und wer ein „Quer-Denker“ ist. Das mag vordergründig Orientierung geben und die eigene Identität sichern. Langfristig errichtet es Barrieren und entfremdet.
Après-vous war das Lebensmotto von Lévinas. Dem anderen Menschen den Vortritt lassen, den anderen Menschen vorgehen lassen, damit man seiner Spur folgen kann. Und wenn er ganz anders dächte als man selbst.
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Text und Bild: Prof. Dr. Barbara Staudigl, Stiftungsdirektorin der Trägerstiftung der Katholischen Stiftungshochschule (KSH), einer Fachakademie und Fachoberschule in München. 2009 erschien von ihr: Emmanuel Lévinas bei Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.
- Malka, Salomon: Emmanuel Lévinas. Eine Biographie, München 2003, 12. ↩