Boris Kalbheim reagiert mit einer Weiterführung auf den Beitrag von Verena Suchhart-Kroll „Wen zitiere ich (nicht)?“. Der Bechdel-Wallace-Test ist ein Test für Erzählungen. In der Theologie müssen wir aber unsere Argumente testen.
Wen zitiere ich (nicht)? Macht in der theologischen Wissensproduktion
Kann ein Mann über Abtreibung sprechen? Von so mancher Feministin wird das verneint: Die Schwangerschaft gehe nur die Frau etwas an, so die Replik, es ist ihr Körper, ihr Bauch gehört ihr; und Männer benutzen das Verbot der Abtreibung vor allem zur Unterdrückung der Frau.
Kann gar ein zölibatär lebender, gerne der Homosexualität verdächtiger Mann über Abtreibung sprechen? So gefragt sind noch mehr dagegen, nicht nur die bekannten Feministinnen. Wie kann ein Mann, der noch nicht einmal in einer eigenen Familie lebt, zu Fragen der Schwangerschaft irgendetwas sagen?
Argumente ad hominem: Nicht das Argument wird bewertet, sondern die Person, die es sagt.
Das scheinen zunächst Argumente ad hominem zu sein: Nicht das Argument wird bewertet, sondern die Person, die es sagt. Das gab es schon immer, und zu oft sind in der europäischen Wissenschaft gerade Frauen darauf reduziert worden, Frau zu sein. Bis heute.
Umgekehrt konnte daraus auch eine Pose werden: Ich bin eine Frau, was ich sage ist unangreifbar. Es sind meine Erfahrungen, die da hineinspielen, die teilt kein Mann, und darum kann kein Mann meine Argumente bewerten. Ich möchte auf eine Verschiebung hinweisen: Meine Erfahrungen sind das eine, meine Argumente sind das andere.
Argumente haben einen anderen Status als Erzählungen.
Natürlich kann ich, ein weißer alter Mann, nicht die Erlebnisse von jungen Frauen bewerten. Ich kann nicht sagen: „Das hast du falsch verstanden!“ und damit ihre Aussagen negieren. Ich kann ihren Erzählungen lauschen, sie sehen als Erfahrungen, die in dieser Welt sind. Ich kann mich, hoffe ich, auch selbst davon verletzt fühlen, wenn sie verletzend sind. Ich kann mich darüber ebenso empören, auch wenn es nicht meine Erlebnisse sind. Sie sind mir erzählt worden, und das berührt mich. Erzählen berührt. Ein/eine Marginalisierte/r kann von seinen Leiden erzählen, und dafür muss es Foren geben. Dafür gibt es die „safe places“, Orte, an denen Menschen sprechen können, die in der Öffentlichkeit verstummen.
Und daneben, da gibt es noch etwas anderes: Das Argument. Argumente haben einen anderen Status als Erzählungen, sie sind, sie wollen, sie können etwas anderes. Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen dem Erzählen und dem Argumentieren: Wer erzählt, der spricht von sich selbst. Er nimmt seine Perspektive ein, äußert sie und macht sie öffentlich. Argumentieren, das ist der Versuch, allgemein zu sprechen.
Nur das Argument zu hören, das ist das Kennzeichen der Aufklärung.
Und wie kann man allgemein sprechen? Nach Maßgabe der Vernunft. Die Vernunft, so das Narrativ der Aufklärung, ist gerade nicht gruppengebunden. Vernunft, so die Aufklärung, hat jeder Mensch, und darum kann jeder Mensch politisch, sozial, wissenschaftlich tätig werden. Nur das Argument zu hören, das ist das Kennzeichen der Aufklärung. Das Zeitalter der Aufklärung selbst hat dieses Narrativ selbst nicht gelebt. Und Kants berühmter Aufsatz „Beantwortung der Frage Was ist Aufklärung“ ist auf den letzten Seiten eine Verbeugung vor seinem Herrscher, wie man tiefer nicht sinken möchte.
Doch ist das ein Argument gegen das Narrativ der Aufklärung? Das Besondere am Argumentieren ist die Fähigkeit, einem universalen Anderen gegenüber zu treten. Das Argument ist gerade das Gegenteil der eigenen Perspektive. Es wirbt dafür, den Worten zu glauben, ohne Ansehen der Person.
Wenn ich argumentiere, dann möchte ich, dass alle meinen Argumenten zuhören.
Insofern ist der Bechdel-Wallace-Test ein Test für die Erzählungen: Welche lasse ich zu, welche höre ich? Gegenwärtig spricht man gerne von „meiner Bubble“ und meint damit die Erzählungen, die ich zulasse. Wenn ich argumentiere, dann möchte ich, dass alle meinen Argumenten zuhören, auch außerhalb meiner „Bubble“.
Und die Theologie?
Etwas in Bezug auf Gott zu sagen, … da beginnt das redliche, schwankende, sich selbst anfragende Argumentieren.
Die Theologie, nicht nur die Dogmatik, ist die Wissenschaft von Gott, das heißt vom ganz Anderen, von dem, den keine Erzählung einfängt. Es war und ist ein großes Wagnis, in Bezug auf Gott zu argumentieren. Vielleicht ist uns (The*log*innen) dieses Wagnis gar nicht mehr klar: Etwas in Bezug auf Gott zu sagen, das alle Menschen verstehen und akzeptieren können.
Da hören die „Diskurse“, wie es heute gern genannt wird, auf. Da beginnt das redliche, schwankende, sich selbst anfragende Argumentieren.
Gerade die Theologie sollte gegen Betriebsblindheit angehen. Nur weil (setze bekannten Namen ein) etwas gesagt hat, ist es noch lange nicht ein Argument. Umgekehrt gilt auch: Nur weil (setze marginalisierte Person ein) etwas sagt, ist es noch lange nicht ein Argument.
In der Theologie müssen wir unsere Argumente testen: Bechdel-Wallace-Test als argumentativen „Frühsport“?
Der Schritt von der Erzählung zum Argument ist zentral. In der Theologie müssen wir unsere Argumente testen, und das ist für manchen hochbestallten Theologen (ich nehme mich da nicht aus) gar nicht einfach. Vielleicht brauchen wir neben dem Bechdel-Wallace-Test in unserer „Bubble“ einen „Frühspor“ für unsere Argumente, wie ihn Konrad Lorenz vorgeschlagen haben soll: Jeden Morgen versuchen, eine liebgewonnene Theorie über Bord zu werfen. Vielleicht kommen wir da Gott näher.
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PD Dr. Boris Kalbheim ist Akademischer Oberrat an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.