Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum sind die grossen Themen im Buch des Kirchenhistorikers Arnold Angenendt, das Erich Garhammer vorstellt.
Der Münsterer Kirchenhistoriker Arnold Angenendt widmet dieses Buch seiner Mutter, die 1996 fast hundertjährig starb. Sie gab ihrem Sohn auf dem Sterbebett einen letzten Satz mit:
„Was die Pastöre früher den Frauen im Beichtstuhl gesagt haben, das war verkehrt.“
Natürlich meinte sie damit das Verhalten in sexto: den Eheleuten drohte die Absolutionsverweigerung im Falle fehlender Bereitschaft zu weiteren Kindern, dazu kam die permanente Nachfrage nach unterbrochenem Geschlechtsverkehr sowie das allgegenwärtige „allein oder mit anderen“ sowie der Hinweis auf Onanie als Todsünde. Der Sohn erfüllt mit diesem Buch eine Bringschuld – das Jahrhundert zwischen 1898 und 1996 – die Lebenszeit seiner Mutter – war bis in die 1960er Jahre hinein geprägt von einer rigiden Auffassung von Sexualität und peinigenden Nachfragen im Beichtstuhl.
Angenendt zeigt in diesem Buch minutiös, wie sich die Auffassung von Sexualität, Liebe und Ehe in der Christentumsgeschichte geändert hat. Nicht von ungefähr erschien das Buch anlässlich der Weltsynode in Rom, um auf mehrere Phänomene eindringlich hinzuweisen.
Zum einen: Ehe, Liebe und Sexaualität im Christentum haben eine emanzipatorische Dimension; der Satz „Die Zustimmung macht die Ehe“ war eine Revolution. Der mit dem Konsens ermöglichte Eigenentscheid überwog im Spätmittelalter immer mehr die bis dahin vormundschaftliche Eheschließung.
Die christliche Tradition hat allerdings in ihrer offiziellen Moral die Lust beargwöhnt, sie nur in der Ehe zugelassen und sie auch dort noch durch die Beichtväter unter Zensur gestellt.
Manchmal wurde die Lustfeindlichkeit noch säkular gesteigert wie etwa in der Zeit der Aufklärung. Hier entdeckte man die Schädlichkeit der Selbstbefriedigung und begründete das medizinisch. Onanie mindert die Gedächtniskraft, führt zu Übermüdung, Abgespanntheit, Schwindelgefühl, Abmagerung, Harnbrennen, Alpträumen, Gicht in den Gelenken sowie zu Rheuma im Rücken. Der Onanist wird durch Gewissensbisse und Ängste sowie Verzweiflung geplagt. Nicht nur Immanuel Kant stimmte in diese Bedrohlichkeitsphantasie ein, auch der ansonsten durchaus gemäßigte Pastoraltheologe Johann Michael Sailer widmete der Onanie in seiner Pastoraltheologie ein ausführliches Kapitel: „Selbstbefleckung ist eine Krankheit, die in dem blühenden Reiche der Menschheit die größte Niederlage macht.“ Sie hat die traurigsten Folgen, schneidende Vorwürfe des Gewissens, Erschöpfung der Natur und Furcht vor der Strafe, vor allem dem Gericht Gottes. Deshalb der Rat Sailers: „Thu, was Du im letzten Augenblicke Deines Lebens gethan zu haben wünschen wirst.“ Gegen die permanent drohende Versuchung der Masturbation wurde dreimal wöchentlich die Beichte empfohlen, die häufige Beichte war also auch eine Masturbationsprophylaxe.
Der Beischlaf sei ein hochnobles Werk.
Ganz anders dagegen die Töne des Arztes Petrus Hispanus, des späteren Papstes Johannes XXI. (gest. 1277). Angeregt von arabischen Autoren gilt ihm die geschlechtliche Begegnung als Vergnügen sowohl für den Mann als auch für die Frau. Sie beginnt mit Küssen und libidinösem Spiel an den Brüsten und setzt sich fort mit genitalen Hochgenüssen. Der Beischlaf – so sein Spitzensatz – sei ein hochnobles Werk (nobilissimum opus). Ferner sollten die Männer die sexuellen Signale ihrer Frauen beachten, damit auch sie zum Orgasmus kämen.
Papst Johannes XXI. war allerdings nur ein paar Monate im Amt und wurde von der einstürzenden Decke seines Studierzimmers erschlagen. Möge Papst Franziskus ein ähnliches Schicksal erspart bleiben!
Arnold Angenendt, Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum. Von den Anfängen bis heute, Münster 2015.