Nicht mehr kirchliche Autoritäten erlegen dem Individuum Askesepflichten auf – das tut der Mensch von heute freiwillig. Sondierungen von Isabelle Jonveaux.
Der Askese-Begriff ist im christlichen Bereich nicht mehr wirklich en vogue. Man denkt an die Selbstgeißelung und die eitrigen Wunden der Wüstenasketen des zweiten und dritten Jahrhunderts. Die katholischen Mönche und Nonnen selber, die Max Weber später als Virtuosen der Askese bezeichnet, vermitteln weder den Eindruck, asketisch zu leben noch zu fasten. Eine französische Karmelitin sagte mir in einem Interview, dass „sie eine Askese leben müssen“, die „nicht asketisch sein muss“. Heutige Katholikinnen und Katholiken hören denn auch meist so lange auf ihre Kirche, wie diese ihnen keine Vorschriften zum Umgang mit dem Körper macht. Und dennoch: Es wird gegenwärtig wird immer mehr und immer strenger gefastet; strenger als es die allermeisten Mönche je selber gemacht haben. Ist die Askese wieder im Trend?
„Wanderungen“ der Askese?
Es scheint, als ob man einen Ortswechsel der Askese vom religiösen zum säkularen Bereich beobachten würde. Ein österreichischer Mönch sagte zu mir in einem Interview: „Es gibt viel mehr Askese in der Gesellschaft als im Kloster“. Fasten ist modisch geworden. Aber nicht das klassische milde Fasten der Fastenzeit oder das kurze Fasten vor der Kommunion. Eher ein Fasten wie nach der Buchinger-Lützner-Methode, die heutzutage in vielen Fastenwochen verbreitet ist. Hier heißt es wirklich, nicht (und zwar wörtlich: eben nichts) zu essen. Während einer Woche oder mehr trinken die Fastenden nur Flüssigkeiten (Tee, Saft, Fastensuppe) und verzichten auf feste Nahrung.
Wir sprechen in diesem Zusammenhang aber nicht von den unzähligen Diäten, die das Abnehmen bezwecken. Die Teilnehmenden der Fastenwochen sagen, dies sei nur ein „positiver Nebeneffekt“. Mit ihrem Fasten streben sie Wirkungen auf drei Ebenen an: Körper, Geist und Seele. Es geht um eine spirituelle Erfahrung, die man in seinem Leib erlebt. Klarer in sich hineinzusehen, wichtige Entscheidungen treffen zu können, einen neuen Anfang nehmen zu können, sich selbst wieder unter Kontrolle zu bringen … all‘ das gehört zu den Motivationen des Fastens.
Fasten, das heißt sich reinigen.
Zudem bedeutet das Fasten nicht nur „nicht essen“, sondern auch alles herausbringen, was im Körper geblieben ist und schädlich sein könnte. Fasten ist entschlacken, entgiften, und auf allen Ebenen reinigen. Auch das Motiv der Reinigung ist dabei nicht mehr ein Thema, das primär in der katholischen Kirche seinen Ort hat. Die Gläubigen, auch die regelmäßigen GottesdienstbesucherInnen, gehen nicht mehr zur Beichte. Dafür können sich die Individuen der Moderne beim Fasten wie beim Darmentleeren selber körperlich, geistig und seelisch reinigen.
In seinem Bestseller Wie Neugeboren durch fasten schreibt Dr. Lützner: „Natürlich gibt es nicht nur körperlichen, sondern auch ‚seelischen Müll‘, der während des Fastens hochkommt. Es kann also gut sein, dass Sie nun bedrückende Träume von Krieg, Blut oder Dreck haben.“ (49) Was bedeutet dieses Reinigungsbedürfnis in der modernen Gesellschaft? Zum Profil von Fastenden gehört es oft, dass sie eine Lebenskrise (Scheidung, Krankheit, Todesfall in der Familie) erlebt haben. Das Fasten und die Darmreinigung scheinen die Rolle eines Reinigungsrituals zu spielen, das den Menschen ermöglicht, sich von diesen negativen Erfahrungen zu befreien und einen neuen Anfang zu machen.
Die wahre Wüste heute, das ist der Offline-Zustand.
Fasten betrifft nicht nur das Essen. Die neuen digitalen Technologien, insbesondere das Internet und das Handy – sind aktuell häufig auch Kernaspekte von freiwilligen asketischen Verhaltensmassnahmen. Oft sagen Fastende sogar, dass Internet- oder Handyfasten schwieriger sei als das Nahrungsfasten. Die echte Wüste der neuen AsketInnen ist nicht mehr die Sandwüste, die von unseren bewohnten Städten weit entfernt liegt, sondern das Offline-Sein, das Abschalten der digitalen Medien.
So findet man heutzutage digitale Fastenwochen wie z.B. „Digital detox retreat“ und lernt: Die Askese wird ständig in Verbindung mit den Entwicklungen der Gesellschaft neu definiert. Das „Autofasten“ beispielsweise, das von einigen katholischen Diözesen zusammen mit der Evangelischen Kirchen im deutschen Sprachraum angeboten wird, bietet die Möglichkeit, Verzicht mit einem ökologischen Ziel zu verbinden. Die Natur bekommt dabei eine wichtige Dimension beim Fasten. Nicht nur fastet man in der Natur – z.B. während einer Fastenwanderwoche – sondern man fastet auch für die Natur. Das Buchinger-Fasten bezweckt auch noch eine Neueinstellung auf eine umweltfreundliche Ernährung.
Warum fasten die Individuen, obwohl sie nichts dazu verpflichtet?
Fast scheint es, als ob der von Religion befreite Hedonismus, wie er in den 1970er Jahren gepredigt wurde, heute keine Rolle mehr spielte. Die heutige Askese kann als eine Art Protest gegen die Gesellschaft und besonders gegen die Konsumgesellschaft bezeichnet werden. Das typische Profil Fastender zeigt nämlich, dass sie oft schon für einen alternativen Konsumstil sensibilisiert sind. Viele sagen, dass sie „bewusst“ essen, manchmal mit biologischen Produkten oder sogar vegetarisch oder vegan.
Wenn fasten aber nicht essen heißt, heißt es gleichzeitig nicht konsumieren? In diesem Sinn wäre das Fasten ein Widerstand gegen die Allmacht des Konsums. Viele sagen, dass sie es als Zeichen für die Gesellschaft oder gegen „diesen Überfluss“ machen. Wenn das Fasten im Rahmen einer organisierten Woche mit einem Coach stattfindet, ist es aber doch auch in die Wirtschaftslogik voll integriert. Paradoxerweise ist eine Fastenwoche nämlich oft teuer. Es ist nicht billig nichts zu essen. Das Geld, das man in anderen Ländern zum Essen verdient, gibt man es in Europa aus, um nicht zu essen? In diesem Sinn ist das Fasten eine Art alternativer Konsum. Allerdings schaffen es auch die Fastenden nicht, „ausserhalb des Konsums“ zu leben.
Fasten als alternativer Konsum – ein Paradox.
Die Befreiung von (Fasten-)Vorgaben der traditionellen Religion hat also nicht zur grenzlosen Freiheit geführt. Wenn die religiöse Autorität keine Vorschriften bezüglich des Körpers mehr formuliert, dann machen die Individuen es selber. Mit Humor schreibt eine Frau, die eine Buchinger-Fastenwoche gerade vollendet hat, auf ihrem Blog: „Bald beginnt sie, die Fastenzeit! Juhuu, ich hab’s schon hinter mir!“ Der Verlust der Autorität der Kirche hat also die asketischen und Fastenpraktiken nicht beseitigt, die Individuen zwingen sich nun selbst und freiwillig dazu.
Der Mensch des beginnenden 21. Jahrhunderts trägt gegenüber Gott keine Schuldgefühle mehr. Für Gott muss er oder sie nicht mehr asketisch leben oder Buße tun. Der Reinigungszwang heutiger Fastender sieht dennoch so aus, als ob der Mensch doch etwas zu büßen hätte. Wenn es nicht für Gott ist, wofür dann? Das Individuum scheint Sühne zu leisten, sich selbst und dem eigenen Körper gegenüber, gegenüber der natürlichen Umwelt und gegenüber der Gesellschaft. Den Kontext bildet dabei die Konsumgesellschaft, der viele Sünden nachgewiesen werden, Menschen- und Umweltbeeinträchtigungen als Konsequenz eines falschen Konsums. Hier muss der Mensch wiederum verzichten und Buße tun, und entwickelt eine neue Reinigungsaskese.
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Dr. Isabelle Jonveaux ist Religionssoziologin und forscht an der Universität Graz.
Bild: birgitH / pixelio.de