Für die Digitalisierung auch der Bildung in Deutschland kommt manchen die Corona-Krise geradezu wie gerufen: aus der Not würde nun eine Tugend, ein „Schub“. Gregor Taxacher ist kein Technologie-Hasser, aber diese Feier digitaler Lehre macht ihn gerade als Theologen nachdenklich.
Die Einschätzung ist weder neu noch unbegründet: Deutschland hinkt in Sachen Digitalisierung von der Entwicklung bis zur Anwendung unter den Industriestaaten seit langen nach. Und der Bildungssektor in seiner Konservativität und Unterfinanzierung tut das erst recht. Da sehen manche die Notmaßnahmen der Coronakrise als eine günstige Gelegenheit an: Sie schaffe einen Schub in Sachen Digitalisierung, welcher nach der Krise hoffentlich beibehalten werde.[1] Auch Hochschullehrende, welche durchaus die Probleme und Belastungen der Online-Lehre differenziert benennen, schließen sich dieser Hoffnung an.[2]
Es gibt ja auch gute Gründe dafür: dass wissenschaftlicher Nachwuchs sich mit digitaler Technik auskennen muss; dass Videokonferenzen gegenüber manchem Konferenztourismus ökologisch sinnvoll sind und auch ohne Reisebeschränkungen bleiben werden. Der Autor dieser Zeilen war viele Jahre lang hauptberuflich Online-Journalist; er weiß die Recherche- und Publikationsmöglichkeiten des Netzes zu schätzen, die unhierarchischen Kommunikationsmöglichkeiten digitaler Medien – jede Person kann senden und empfangen – ebenso.
Social distancing stärkt die Starken und schwächt die Schwachen
Dennoch bereitet mir der Jubel über die Digitalisierung von Bildungsprozessen Sorgen. Mitunter schleicht sich ein Ton ein, welcher das Digitale wie einen Selbstzweck feiert: digital gleich fortschrittlich gleich erwünscht. Gerade von hochschulpolitischer Seite wirkt es manchmal so, als wolle man jetzt vor allem beweisen, was man schon kann – und Tatsachen schaffen in Richtung einer Lehre, die dann doch einmal auch Lehrende, Räume, Kosten sparen wird.
Dagegen ist es zunächst einmal naheliegend, darauf zu verweisen, dass die sozialen und pädagogischen Kosten der Krisenumstellung gewaltig sind. Der Slogan „Leave no one behind“ wird keineswegs eingelöst. Denn Lernen im social distancing fällt denen leicht, die auch sonst schon besser materiell ausgestattet waren, über mehr soziales Kapital verfügten und sich der Erziehung einer Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft gewachsen fühlten. Digitalisierung, die nicht durch soziale Nähe, durch „analoge“ personale Begleitung flankiert ist, verstärkt Benachteiligungen, die im System eh schon bestehen, nicht nur in der Schule, sondern auch noch an den Hochschulen. Darüber muss dringend geforscht werden. Die eigene Erfahrung als Lehrender legt es mir jetzt schon nahe.
Entdeckung der Verkörperung geistiger Prozesse durch die Kognitions- und Sozialwissenschaften
Doch als Theologe habe ich noch grundsätzlichere Zweifel. Ich hege eine Hermeneutik des Verdachts gegen die pauschale Feier „der“ Digitalisierung – insbesondere wenn es um Bildung geht. Denn deren Digitalisierung bedeutet stets auch ihre Entkörperlichung. Das gilt schon vom Wechsel einer „Face-to-Face“-Begegnung mit (derzeit begründet verbotener) körperlicher Berührung zur Videokonferenz. Es gilt für die Erfahrung körperlicher Nähe in einer Diskussion, das Erleben einer Gruppe als einer „Entität“ mit eigener Aura, ja Materialität. Lernen und Sich-Bilden ist ein ebenso körperlicher Prozess wie die Denkprozesse in unseren Hirnen (und nicht nur dort – man denke nur an neuere Forschungen zur Darmflora). Der Entdeckung der Verkörperung geistiger Prozesse durch die Kognitions- und Sozialwissenschaften[3] – für die Tradition abendländischer idealistischer Geisteswissenschaft, gerade auch der Theologie ein wichtiges Korrektiv – läuft die neue Feier des Digitalen entgegen.
Der Mythos vom punktuellen Subjekt erneuert
Der neue Mythos aus dem Silicon Valley[4] ist bekanntlich die „Künstliche Intelligenz“. Dieser Mythos enthält auch eine Art Erlösungslehre für die ach so erdgebundene, fleischliche Intelligenz des Menschen: Nicht nur dass sie durch Hybridformen aufgepäppelt werden könnte[5]. Vielleicht könnte sie sogar Unsterblichkeit erlangen, wenn sich unsere geistige Identität ins Digitale kopieren ließe.[6] So neu sich dieser Mythos gibt, so sehr knüpft er doch an die abendländische Bewusstseinsphilosophie an: Er erlöst das Descart’sche Cogito von der zweifelhaften Bindung an die res extensa, an diese tendenziell beleidigende Gefangenschaft der Ratio in diesen Automaten-Körpern, als die Descartes die Tiere ansah.[7] Der technische Posthumanismus träumt einen alten Traum: den des autonomen, auch vom eigenen Erdenballast befreiten Subjekts, das endlich nur noch Subjekt sein könnte – „punktuelles“ (also ausdehnungsloses) Subjekt, wie dies Charles Taylor in kritischer Absicht nannte.[8] Die zu Bewusstsein gelangte Maschine wäre eine Intelligenz zwar mit Hardware, aber ohne Körper. Keine Hormone lenkten sie ab vom klaren Denken, keine Triebe, keine Bedürftigkeit trübte die reine Vernunft.
Gott wurde Fleisch, nicht Engel.
Theolog*innen sollte diese Utopie bekannt vorkommen: Sie siedelt das Subjekt näher bei den Engeln an als bei den Tieren – eine alte Sehnsucht seit den Kirchenvätern. Und doch waren sich diese, quer zu ihrem Platonismus und ihrer Identifizierung von Konkupiszenz mit Sexualität, des gegenläufigen Narrativs christlicher Soteriologie bewusst: Gott wurde Mensch, nicht Engel. Ja, er wurde nach dem Johannesprolog nicht einfach Mensch, sondern Fleisch. Gerade die griechische Theologie hat dies immer als Grundgedanken einer bis ins Physische reichenden Liebe Gottes angesehen, nach jener Logik, nach der nur erlöst werden könne, was von Gott selbst angenommen wurde. Eine moderne ökologische Theologie entdeckt dies gerade unter dem Titel „deep incarnation“ wieder[9].
Digitalisierung als Heilsversprechen predigt eine De-karnation.
Digitalisierung als Heilsversprechen predigt dagegen eine De-karnation. Wie sehr dies christlichem Erlösungsdenken entgegen steht, erfahren die Kirchen gerade in der Corona-Krise schmerzlich. Ein Gottesdienst ist noch viel weniger als ein Seminar einfach digitalisierbar. Alle löblichen Krisen-Ansätze bis hin zur Whats-App-Gebetsgruppe machen dies nur um so spürbarer. Wir sollten hier gerade nicht aus der Not eine Tugend machen.
Das ist kein Statement gegen sinnvolle Nutzung digitaler Möglichkeiten auch in den Kirchen. Nur eine Befreiung von der lästigen Körperlichkeit von Liturge und Diakonie darf daraus nicht werden. Dies wäre die Versuchung zu einer platonisch-idealistischen „Umpolung 2.0“ der biblischen inkarnatorischen Logik, deren Version 1.0 die Kritik politischer und ökologischer Theologie galt.
Die Vermittlung der Gnade bedarf auch der Materie.
Ich lehre in diesem Online-Semester unter anderem einen Grundkurs in Sakramenten-Theologie. Warum bedarf die Vermittlung der Gnade nicht nur der Form, des Wortes, sondern auch der Materie – des Wassers, des Öls, des Brotes und des Weins und der menschlichen Hände? Weil die Transsubstantiation des Reiches Gottes uns wandeln will bis in Fleisch und Blut hinein.[10] Meine Hermeneutik des Verdachts gegenüber einer unkritischen Digitalisierung der Bildung sieht in ihr eine Heilslehre, die in unguter abendländischer Tradition sich mit der Erlösung als einer Bewusstseinstatsache zufrieden gibt, die man jederzeit verkünden konnte, ohne für die Befreiung der versklavten Körper zu kämpfen. Eine Theologie, die dies überwinden wollte, und die grade erst sich ihrer Entfremdung von den Tieren[11], von der Materialität der Schöpfung insgesamt bewusst zu werden beginnt – einer Entfremdung, welche sich als todbringend erweist für die Biosphäre eines ganzen Planeten –, sollte skeptisch bleiben, wenn man ihre Vermittlung möglichst körperlos, möglichst „virtuell“ betreiben möchte.
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Dr. Gregor Taxacher ist Universitätsdozent für systematische Theologie und ihre Didaktik an der TU Dortmund.
Bild: Stocksnap / pixabay
Der Text wurde in einer Formulierung nachträglich redaktionell verändert.
[1] So etwa Nicolas Zimmer, Vorstandsvorsitzender der Technologiestiftung Berlin: https://www.technologiestiftung-berlin.de/de/blog/ich-hoffe-dass-die-digitalisierung-einen-schub-erhalten-wird/
[2] Ein Beispiel unter vielen: Martin Wortmann, Präsident der Rheinischen Fachhochschule Köln: https://www.deutschlandfunk.de/lehre-an-den-hochschulen-durch-diese-krise-einen-digitalen.694.de.html?dram:article_id=475467
[3] Vgl. Matthew B. Crawford, Die Wiedergewinnung des Wirklichen. Eine Philosophie des Ichs im Zeitalter seiner Zerstreuung (Berlin 2016) 75-109 und 191-266.
[4] Zu dessen theologischer Kritik: Jan Hendrik Herbst, „Lass dich nicht täuschen, König“: https://www.feinschwarz.net/lass-dich-nicht-taeuschen-koenig_a/
[5] Diesen hybriden Transhumanismus vertritt nicht erst der Historiker Yuval Noah Harari in seinem Bestseller „Homo Deus“ (dt. Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. München 2017). Er ist schon die Pointe der universalhistorischen Analyse von Ian Morris, Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden. (Frankfurt a.M. 2011) 587-593.
[6] Der berühmteste Vertreter dieser Utopie ist der Google nahe stehende Technik-Prophet Ray Kurzweil: https://blogs.taz.de/zeitlupe/2020/04/17/die-sehnsucht-nach-unsterblichkeit/ . Zur Subjektphilosophie der Maschine auch: Eduard Kaeser, Artfremde Subjekte. Subjektives Erleben bei Tieren, Pflanzen und Menschen (Basel 2015) 101-147.
[7] Vgl. die großartige Analyse dieser Verhältnisse bei Jaques Deridda, Das Tier, das ich also bin (Wien 2010) 110-133.
[8] Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität (Frankfurt a.M. 1996) 309-318; ders.: Ein säkulares Zeitalter (Frankfurt a.M. 2009) 931-934. Zur sozialanthropologischen, strukturalistischen Analyse dieser Subjektivität: Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur (Berlin 2011) 99-107 und 262-269.
[9] Den Begriff prägte der dänische lutherische Theologe Niels Henrik Gregersen: https://godandnature.asa3.org/interview-deep-incarnation–the-cosmos-a-conversation-with-niels-henrik-gregersen-by-ciara-reyes–niels-henrik-gregersen.html#
[10] Thomas Ruster, Wandlung. Ein Traktat über Eucharistie und Ökonomie. Ostfildern 2009.
[11] Simone Horstmann / Thomas Ruster / Gregor Taxacher, Alles was atmet. Eine Theologie der Tiere. Regensburg 2018.