Weihnachtsmärkte werden zwar mitten in den Fußgängerzonen errichtet. Doch mit dem Leben der Menschen haben sie wenig zu tun. Wer versucht, die heimelige Stimmung zu zerstören, wird ausgeschlossen. Diese Strategie der Ausschließung ist zutiefst prekär, meint Fabian Brand.
Am Freitag vor dem ersten Adventssonntag war es in Nürnberg wieder soweit. In ein goldenes Gewand gehüllt, mit blondem Lockenschopf, die Krone auf dem Haupt, trat das Christkind auf den Balkon der Frauenkirche und sprach die berühmten Worte des Eröffnungsprologs, den Friedrich Bröger anno dazumal verfasst hatte:
„Ihr Herrn und Frau’n, die Ihr einst Kinder wart, / Seid es heut‘ wieder, freut Euch in ihrer Art. / Das Christkind lädt zu seinem Markte ein, / Und wer da kommt, der soll willkommen sein.“
Was die als Christkind verkleidete 17jährige Rebecca Ammon vom Balkon ruft, ist eine offene Einladung. Eine Einladung, die jeden anspricht, hierher auf den Weihnachtsmarkt zu kommen, einige fröhliche und besinnliche Stunden zu genießen und sich ergreifen zu lassen vom berühmten Zauber der Weihnacht, der hier angeblich zu finden ist. Dabei ist ausdrücklich jeder gemeint: „Wer da kommt, der soll willkommen sein“, so sagt es das Christkind. Keiner also ist ausgeschlossen, keiner muss dem vorweihnachtlichen Treiben fernbleiben. Bei der Eröffnung des Nürnberger Christkindlesmarktes wird eine Nicht-Ausschließung eingeführt.
»Wer da kommt, der soll willkommen sein« – doch diese Nicht-Ausschließung ist nur scheinbar.
Doch diese Nicht-Ausschließung ist nur scheinbar, denn sie geht mit einer Ausschließung einher, ohne die die Weihnachtsmärkte nicht bestehen könnten. Der Weihnachtsmarkt ist eine Parallelwelt: Die Budenstadt wird zwar mitten in den Fußgängerzonen, also dort, wo das alltägliche Leben pulsiert, errichtet. Doch mit dem Leben der Menschen hat sie eigentlich wenig zu tun. Auf dem Weihnachtsmarkt hat das menschliche Leben mit all seinen Bedrohungen und seiner Gefährdung keinen Platz. Das Scheitern wird hier ebenso wenig Thema wie Versagen, Trauer, Angst oder Leid.
Hier möchte man doch das genaue Gegenteil: Einstimmung auf Weihnachten, romantische Stimmung, Fröhlichkeit, Glühweinduft usw. Das Unschöne und Grausame, das Leidvolle und Bedrückende, muss auf dem Weihnachtsmarkt draußen bleiben. Es ist ausgeschlossen.
Ausgeschlossen sind die, die versuchen, die heimelige Stimmung zu zerstören.
Eigentlich ist nicht jeder willkommen. Ausgeschlossen sind die, die versuchen, die heimelige Stimmung zu zerstören und die probieren, die fantastische Welt des Weihnachtsmarktes durch die Konfrontation mit der Realität zurück auf den Boden der Tatsachen zu holen. Mit der Strategie der Ausschließung versucht man, den Weihnachtsmarkt als traute, heile Welt im Kleinen zu wahren.
Dass diese Strategie der Ausschließung zutiefst prekär ist, zeigt sich besonders in diesem Jahr. Wenn Betonblöcke, die nur notdürftig mit Tannenbäumen verdeckt werden, die Weihnachtsmärkte einzäunen und Polizist*innen ständig patrouillieren, funktioniert die Ausschließung nicht mehr. Die Angst vor neuerlichen Terroranschlägen steht beständig vor Augen. Sie lässt sich nicht mehr draußen halten, wie das vielleicht noch in den Vorjahren der Fall war.
Auf dem Weihnachtsmarkt dürfen die menschlichen Sorgen und Ängste nicht draußen bleiben.
Der Konfrontation mit der Terrorangst ist nicht mehr zu entgehen und man ist gezwungen, sich dazu zu verhalten. Mit Ausschließungen kommt man nicht weiter. Sie verschärfen die prekäre Situation höchstens und führen dazu, dass die Weihnachtsmarktwelt irgendwann in sich zusammenfällt. Dann ist die Auseinandersetzung mit dem Ausgeschlossenen nicht mehr zu verhindern und um ein vielfaches komplexer.
Ich halte es für wichtig, die Ausschließungen, durch die der Weihnachtsmarkt nur bestehen kann, auf die Nicht-Ausschließungen, die im Prolog des Nürnberger Christkindes ins Wort gebracht sind, zu überschreiten. Das bedeutet: Auf dem Weihnachtsmarkt dürfen die menschlichen Sorgen und Ängste nicht draußen bleiben. Die Budenstadt ist keine utopische Gegenwelt, in der es friedvoll zugeht und alles heil ist. So wird der Weihnachtsmarkt zwar manchmal verkauft, aber das steht entgegen unserer eigenen Lebenserfahrung, das widerspricht unserer realen Welt, in der wir leben.
Weil der Weihnachtsmarkt inmitten der Menschenwelt aufgebaut wird, kommt er nicht umhin, den Themen Raum zu geben, die Menschen bewegen.
Dann ist der Weihnachtsmarkt vielleicht nicht mehr „heimelig“ oder „besinnlich“. Aber muss er das wirklich sein? Ist es nicht viel wichtiger, dass er zunächst „wahrhaft menschlich“ ist – weil er von Menschen und für Menschen gemacht ist? Dass er auf eine Hoffnung verweist, die in unserem menschlichen Leben ansetzt und auf das Größere hinzeigt, das wir an Weihnachten feiern? Weil der Weihnachtsmarkt eben inmitten der Menschenwelt aufgebaut wird, kommt er nicht umhin, den Themen Raum zu geben, die Menschen gerade bewegen.
Damit der Weihnachtsmarkt nicht zu einer Farce verkommt, nicht immer weiter zu einer Inszenierung wird, die brüchig und zerbrechlich ist, sobald sie mit der realen Welt konfrontiert wird, braucht es den Schritt hin zu den Nicht-Ausschließungen. Die Nicht-Ausschließungen von „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ (GS 1) sind kein Verlustgeschäft. Sie relativieren zwar die vorweihnachtliche Budenstadt und führen manche Vorstellung vom trauten und heimeligen Weihnachtsfest schmerzlich zum Scheitern. Aber das doch zu recht, wie ich meine. Denn gerade diese Nicht-Ausschließungen bringen es mit sich, dass sich die Kluft zwischen dem realen Leben und dem, was auf den Weihnachtsmärkten gefeiert wird, schließt.
Das weihnachtliche Ereignis überschreitet selbst die Ausschließungen der damaligen Gesellschaft: Der periphere Ort des Stalls von Betlehem wird zum Zentrum.
Auf dem Markt hat nicht nur das schöne, friedvolle, ganze und gesunde Leben seinen Platz, sondern auch das traurige, fragile, angstvolle, verletzte und leidgeplagte. Jenes Leben, das wir am Weihnachtsfest in die Mitte stellen. Jenes Leben, das wir kennen und tagtäglich erleben. Und von jenem Leben ausgehend erschließt sich eine Sehnsucht, die an Weihnachten Hand und Fuß bekommt, eine Hoffnung, die Leben in Fülle verheißt.
Vielleicht ist der Weg zu den Nicht-Ausschließungen gerade deshalb so wichtig, weil das weihnachtliche Ereignis selbst die Ausschließungen der damaligen Gesellschaft überschreitet und zerbricht: Der periphere Ort des Stalls von Betlehem wird zum Zentrum; Maria und Josef, für die kein Platz in der Herberge war, sind die Protagonisten des Geschehens; die Hirten, Außenseiter, kommen als erstes zur Krippe und beugen vor dem Kind die Knie; und selbst der Himmel bleibt nicht ausgeschlossen, er kommt in Gestalt der Engel auf die Erde, bricht in die menschliche Welt hinein und verkündet die Geburt des Herrn und Heilands.
Die Botschaft zu verkünden, dass in unserer gebrochenen Welt Seine Welt den Anfang genommen hat.
Sich den weihnachtlichen Nicht-Ausschließungen zu stellen, ist eine Zumutung. Oftmals entziehen wir uns ihr lieber und schaffen unsere utopische Gegenwelt, die besonders in den Weihnachtsmärkten manifest wird. Dabei ist es doch viel wichtiger, sich diesen Zumutungen zu stellen, um sprachfähig zu bleiben, um nicht schweigen zu müssen, sondern um das weitersagen zu können, von dem die Engel den Hirten auf den Feldern vor Betlehem ein Lied gesungen haben. Um die Botschaft zu verkünden, dass in unserer gebrochenen Welt Seine Welt, auf die hin wir leben, den Anfang genommen hat.
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Fabian Brand ist Theologe und Doktorand an der Universität Würzburg
Bild: by Roman Drits / Barn Images