Der Reisebericht von Dorothee Steiof auf den Spuren von Madeleine Delbrêl, der Mystikerin der Straße, geht weiter.
Dazwischen sein – „sans étiquette“
Ich breche am ersten Morgen auf und lasse mich treiben. So entdecke ich zufällig eine etwas in die Jahre gekommen Kirche aus Beton in einer kleinen Gasse, die nach Madeleine Delbrêl benannt ist („ALLÉE Madeleine Delbrêl“). In dieser Gasse befindet sich das oben abgebildete Graffiti an einer Mauer. Die Mauer bildet die Grenze zum „Leninstadion“, einem Fußballplatz. Genau gegenüber steht ein ebenfalls nach Madeleine Delbrêl benanntes soziales Zentrum, auf das sie „schaut“. Heiligenikonografie à la banlieue – mit dem dreimaligen: „Ich liebe dich“! Es hätte wohl keinen besseren Platz geben können. Die Mystikerin der Straße befindet sich wie zu ihren Lebzeiten zwischen Kommunismus und Kirche, in der Mitte das soziale Handeln – hier geht ihr Blick hin.
Zwischen Fuballplatz und sozialem Zentrum
Madeleine Delbrêl hängt im wahrsten Sinne des Wortes „irgendwo dazwischen“, auf der Grenze, und konnte wohl genauso Verbundenheit über alle politischen und religiösen Gegensätze hinweg leben. Auch ihre Bezeichnung auf dem Straßenschild ist interessant: „Assistante sociale, mystique chrétienne“. Beides steht nebeneinander. Sie ist beides. Auf anderen Schildern ist noch die Bezeichnung „poète“ beigefügt. Vor allem ist sie eine einzigartige Person, die durch keine der Bezeichnungen wirklich vollständig beschrieben werden kann.
Sind sie Kommunistin?
Madeleine Delbrêl war – wie ihre Gemeinschaft – „sans étiquette“. Als ich per Zufall (?) einen Tag später in der Zentrale der kommunistischen Partei der section Val-de-Marne lande, fragt mich die zuständige Mitarbeiterin freundlich interessiert, ob ich Kommunistin sei. Also: Wer bist du? Wieder so eine Frage, auf die ich nur stotternd antworten kann. Diese Frage wird mir im Rahmen meiner Präsenztätigkeit öfters gestellt. Auch ich bin ohne „étiquette“, ohne Schild unterwegs. Oft antworte ich (eher unsicher): „Ich bin einfach da“. Es gibt keine klassische Rolle. Ich bin als Person, als „Dorothee“ da – mit dem Vertrauen, getragen zu sein im „Ich bin da“ Gottes. Mehr braucht es vielleicht nicht. Madeleine Delbrêl inspiriert, dieses „Dazwischen“, diese „chronische Rollenverunsicherung“ anzunehmen, immer wieder neu einzuüben und als Reichtum zu entdecken. Wie könnten solche Praxisformen „sans étiquette“ noch mehr Raum bekommen in unserem kirchlichen Handeln und wie könnten wir dazu ermuntern?
Wie anders kommen manche kirchlichen Profildebatten heute daher!
Der Ort als eigene Ressource
Überraschenderweise macht es mir nichts aus, dass das Maison de Madeleine Delbrêl geschlossen ist. Mich fasziniert vielmehr der Ort Ivry – ein typischer Ort der Banlieue: Die Straßen, der Markt, das immer noch „rote“ Rathaus (also mit kommunistischem Bürgermeister), das ich mir von einem Angestellten zeigen lasse; der Park, die Denkmäler, eine boulangerie, das Büro der Kommunistischen Partei der section Val-de-Marne …
Die Kirchen interessieren mich eher nicht
Es scheint, als ob ich mich Madeleine Delbrêl vor allem über den Ort nähern kann, an dem sie gelebt hat. Die Kirchen interessieren mich eher nicht, auch nicht eine wie immer geartete Erinnerungskultur zu ihrer Person. Es scheint, als ob mir dieser Ort und seine heute lebenden Menschen zu einer eigenen spirituellen Ressource werden.[1] Und es deckt sich mit meiner Erfahrung der Präsenzpastoral: Die nicht bewertende, absichtslose Wahrnehmung von Menschen und Orten, das einfache wechselseitige Da-Sein dürfen, lässt Freude und Verbundenheit entstehen. Es entspricht einer kontemplativen Grundhaltung des Unterwegsseins.
So fällt mir auf, wie sichtbar im öffentlichen Raum die Würde der Kämpfe von Arbeiter*innen oder der Arbeit selbst ist – z.B. durch Graffiti oder ein Denkmal mit der Aufschrift „hommage au travail“. Während ich diesen Text schreibe, erreicht mich die Pressemeldung, dass die vier großen Kirchen in Baden-Württemberg bei der CMT, der weltgrößten Tourismusmesse in Stuttgart, Kraftorte vorstellen: Pilgerwege, Kirchen, Familienferiendörfer, Klöster oder besondere Orte der Natur … Ich frage mich, wie es wäre, wenn bei solch einer Gelegenheit (auch) ein Graffiti zum Kampf von Arbeiter*innen oder ein Markplatz oder eine boulangerie, in der Menschen aller Couleur und Sprachen baguette kaufen, erwähnt würden? Dahinter steckt die spannende Frage: Was wird uns aus christlicher Perspektive zur Ressource? Und welchen Blick braucht es, dass die Straßen unserer Stadt wirklich zu „Orten unserer Heiligkeit“ werden?
Was wird uns aus christlicher Perspektive zur Ressource?
Ein weiterer Gedanke kommt hinzu. Im einleitenden Kommentar zum Text „Nous autres gens des rues“[2] erwähnen die Herausgeber*innen eine Notiz, die dem Autograph des Textes beigefügt war: Es handele sich um einen Text „d’un groupe de laïcs de la banlieue“[3]. Die entscheidende Zugehörigkeitsdefinition speist sich anscheinend aus dem Ort des Wirkens, aus dem Sozialraum, dem sich die Frauen verbunden fühlten und nicht der Kirchengemeinde. Die Frage bewegt mich: Welche Herkunft prägt meine Identität? Wie würde ich antworten? Ich bin eine Christin/kirchliche Mitarbeiterin aus dem Quartier X, aus dem Süden von Stuttgart?
Fürbittcharakter der Präsenz und des Handelns
Kennzeichnend für eine Haltung der Präsenz ist ein eigenartiges Paradox: Zum einen geht es darum, möglichst absichtslos da zu sein, offen für das, was sich ereignet; zum anderen macht es diese Haltung gerade aus, immer damit zu rechnen, etwas zu empfangen, ja beschenkt zu werden. Christlich gesprochen bedeutet es, mit dem Diktum von Alfred Delp unterwegs zu sein: „Die Welt ist Gottes so voll“. Vielleicht könnte man paradox von einer „sehnsuchtsvollen“, vielleicht sogar „bedürftigen“ Absichtslosigkeit sprechen. Es eröffnet sich ein Spektrum von Interesse, Offenheit, manchmal auch Neugier, Sehnsucht und dem Bewusstsein eigener Bedürftigkeit.
„Die Welt ist Gottes so voll“ (Alfred Delp)
Es gilt zu Recht als Merkmal professionellen Handelns, die eigenen Bedürfnisse zu kennen und mit diesen reflektiert umzugehen. Menschen, die einem anvertraut sind, dürfen nie zur eigenen Bedürfnisbefriedigung – sei es was Macht, Anerkennung, Sexualität oder Beziehung u.a. betrifft – missbraucht werden.
Es wäre zu fragen, wie vor diesem Hintergrund die geistliche Dimension von „Bedürftigkeit“ in den Blick kommt. Hier kann Madeleine Delbrêl inspirieren: Ihr Denken ist geradezu durchdrungen von dieser paradoxen Spannung: Handeln versteht sie zugleich als „flehentliche Bitte“ – man könnte hier vom „(Für)bittcharakter“ der Präsenz und des Handelns sprechen: „Il nous semble que l’action est aussi une prière implorative.“[4]
Handeln versteht sie als „flehentliche Bitte“
Für Madeleine Delbrêl wird jede Alltagshandlung, jede Fügsamkeit den Umständen gegenüber, zu einem Drama der Öffnung für Gottes Gegenwart. Was äußerlich wie ein Geben und Aktivität aussieht, ist zugleich ein Akt der Bitte, des Empfangens, des Geschehen-lassens. Und es ist ein Freiwerden von Freude, die aus der Verbundenheit mit einer Tiefendimension von Dasein entspringt.[5]
Mag auch äußerlich nichts passieren, so vollzieht sich doch in der Haltung der wartenden, wahrnehmenden Präsenz ganz diskret das „Drama“ von Bitten, Empfangen, Danken und Loben. Eine geistliche Form der sozialräumlichen Präsenz hat damit zu tun, sich für diese innere Dynamik zu öffnen.
Präsenz und Ereignis
Was und ob sich etwas ereignet, bleibt unverfügbares Geschehen. Fürbittend zu handeln kann eine Weise sein, sich für dieses unverfügbare Ereignis zu öffnen. „Präsenz“ trägt aus dieser Perspektive weniger den Akzent einer in sich ruhenden Identität, sondern der Offenheit für ein inneres und äußeres Drama der Leere, des Ersehnens und Empfangens und der Freude. Es ist die Offenheit für eine andere Präsenz – vielleicht wie beim Besuch von Maria bei Elisabeth im Lukasevangelium (Lk 1, 39-56), wunderschön dargestellt von Peter Paul Rubens in der Kathedrale von Antwerpen (Die Kreuzabnahme): Elisabeth steht an der „Schwelle“ und öffnet im wahrsten Sinne des Wortes ihre (Herzens)Tür für ein wechselseitiges Freudengeschehen.[6] Eine Haltung der Präsenzpastoral lädt ein, auf dieser „Schwelle“ wartend zu verweilen und mit den Augen von Elisabeth zu schauen. Präsenz im so verstandenen Sinn meint daher keine Identitätskategorie, sondern ein überraschungsoffenes Beziehungsgeschehen.
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Bild: Dorothee Steiof
Dr. Dorothee Steiof, Ärztin und Theologin, ist tätig als Referentin für Caritastheologie und Vielfalt in der Verbandsentwicklung, Diözesancaritasverband Rottenburg-Stuttgart.
Photo: Martin Sigmund
[1] Vgl. auch Müller, Hadwig, Caritas neu erzählt, Vortrag auf dem 30. Netzwerktreffen der Theolog*innen im Diözesancaritasverband Rottenburg-Stuttgart (27.-29.3.2022), unveröffentlichtes Manuskript.
[2] Delbrêl, Madeleine, Nous autres gens des rues (1938), in: La sainteté des gens ordinaires, Œuvres complètes, tome VII, Textes missionaires volume 1, Bruyères-le-Châtel 2009, S. 21-30.
[3] Ebd., 21.
[4] Delbrêl, Nous autres gens des rues, S. 29.
[5] Zusammengenommen heißt das: Madeleine Delbrêl beschreibt eine Existenz, die durchlässig ist für eine andere Gegenwart, diese (in sich) geschehen lässt, gepaart mit einem genau darin gründenden Wirklichkeitssinn und leidenschaftlicher Menschenliebe.
[6] Siehe auch Hartmann, Joachim, Unkelhäußer, Annette Clara, Freude an Gott. Das innere Feuer entfachen, Würzburg 2018, S. 25-28.
Teil 1: